Berlin, 11.11.2018/cw – „Wie schon im Fall Hubertus Knabe agiert die aktuelle Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) auch bei der Kritik an der Grenztoten-Studie vorschnell und zumindest unglücklich. Die Kritik an der Arbeit des Forschungsverbundes ist wenig überzeugend und getrieben von der Konkurrenz um Forschungsmittel. Um die Sache geht es offensichtlich weniger.“ So der leitende Redakteur Geschichte, Sven Felix Kellerhoff, in DIE WELT (7.11.2018) in seiner Kritik an den jüngsten Auseinandersetzungen um die reale Anzahl der Mauertoten. Der Forschungsverbund SED-Staat hatte 2017 eine Studie vorgelegt, in der 327 Tote an der innerdeutschen Grenze dokumentiert worden waren.

Nach einem Bericht des Senders RBB waren 50 der 327 Toten zum großen Teil Täter, also keine Grenzopfer. Die Staatsministerin hat nach der jüngsten Kritik den Bericht von der Internetseite nehmen lassen, um eine nochmalig Prüfung vornehmen zu lassen. 2017 hatte die Stellungnahme von Monika Grütters zu der jetzt kritisierten Studie noch anders geklungen: „Die Erinnerung an die Schrecken des Grenzregimes an der ehemaligen innerdeutschen Grenze aufrechtzuerhalten ist ein zentrales Anliegen bei der Aufarbeitung der SED-Diktatur.“ (DIE WELT, 07.06.2017).

Scharfe Kritik von der UOKG

Zu den schärfsten Kritikern der Studie gehört mittlerweile der Historiker Christian Sachse vom Dachverband der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG), der in den vergangenen Jahren durch eigene Studien, zum Beispiel zur Zwangsarbeit von politischen Häftlingen für den schwedischen Möbelkonzern IKEA und für die Reichsbahn bekannt wurde. Sachse war allerdings um 2006 im Unfrieden aus dem Forschungsverbund ausgeschieden.

So erhob Sachse seitens der UOKG in der rbb-Sendung sogar Manipulationsvorwürfe gegen den Forschungsverbund: „Wenn Täter zu Opfern gemacht werden, dann ist das eine Verhöhnung der Opfer.“ Der Verbands-Historiker bezog sich in seiner Kritik auf den in Moskau hingerichteten ehemaligen DDR-Polizisten Walter Monien, der 1951 die Flucht in den Westen plante und von einem MfS-Informanten verraten wurde: „Den Fall des SS-Mannes Monien kann ich nur als gewollte Manipulation verstehen,“ so Sachse.

Dagegen stellt der Forschungsverbund in einer Stellungnahme zu den erhobenen Vorwürfen, die von Prof. Dr. Klaus Schroeder und Dr. Jochen Staadt unterzeichnet ist, fest, dass der rbb-Bericht „gezielte Auslassungen wichtiger Zusammenhänge und Falschbehauptungen“ enthalte.

So habe die Moderatorin Gabi Probst wichtige Tatsachen zu Walter Monien verschwiegen, obwohl ihr diese bekannt gewesen seien. Der Forschungsverbund hatte sich  bei der Einbeziehung Moniens als „Teilungsopfer“ auf den  biografischen Eintrag und die seinerzeitige Urteilsbegründung in der Dokumentation „Erschossen in Moskau – Die deutschen Opfer des Stalinismus auf dem Moskauer Friedhof Donskoje 1950–1953“ (3. Auflage 2008) bezogen. Dieser Dokumentation ist zu entnehmen, dass Walter Monien von der Russischen Militärstaatsanwaltschaft am 15. Februar 1999 rehabilitiert wurde. Der Forschungsverbund: „Die russischen Militärstaatsanwälte gingen 1999 mit den von stalinistischen Geheimpolizisten erzwungenen Aussagen Moniens wesentlich quellenkritischer um als der rbb in seinem Bericht. Völlig unkritisch verbreitet die öffentlich-rechtliche Anstalt die nach stalinistischen Verhörmethoden zustande gekommenen Aussagen Moniens eins zu eins in ihrer Sendung.“

Das Totenbuch wurde von Memorial Moskau, dem Forschungsinstitut Facts&Files und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur herausgegeben.

Forschungsverbund: Seitens der UOKG gab es 2012 keine Kritik

Schröder und Staadt weisen in ihrer Stellungnahme auch darauf hin, dass Staadt auf dem Verbändetreffen der UOKG vom 17. November 2012 das Forschungsprojekt zu den Todesopfern des DDR-Grenzregimes an der innerdeutschen Grenze vorgestellt habe. Dabei war „insbesondere die sensible Fallgruppe der „Suizide im Grenzdienst““ ausführlich erläutert worden. Der auf der Veranstaltung anwesende und nun als Kritiker im rbb präsentierte Dr. Christian Sachse „meldete sich in der Diskussion über die Todesfallgruppe nicht zu Wort und erhob auch im Nachgang des Verbändetreffens ebenso wie andere Mitglieder der UOKG dagegen keine Einwände.“

Nach Felix Kellerhoff dürfte der Hintergrund des jetzigen Streites und der Kritik der UOKG eher sein, „dass vor wenigen Monaten der Forschungsverbund SED-Staat vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) Geld für eine Anschlussstudie zu den deutschen Opfern der Grenze zur Ostsee hin und der nichtdeutschen Außengrenzen des Warschauer Paktes bekommen hat“.

Nach Meinung von Insidern spricht einiges für diese Wertung des angesehenen WELT-Journalisten. In der UOKG werde mit „viel Aufwand um weitere Finanzierungsmittel“ gerungen. Dabei komme es wohl „nicht immer auf die gebotene Sorgfalt und Seriosität“ an. So habe der Vorsitzende im letzten Jahr eine Stiftung „Haftzwangsarbeit“ ins Leben gerufen, deren Eintragung beinahe an der notwendigen aber zunächst ausgebliebenen Startfinanzierung gescheitert wäre. Zwar sei im Frühjahr die Eintragung nach einem Geldmitteleingang (dem Registergericht war eine Zahlung von IKEA über 50.000 Euro avisiert worden) erfolgt, die Stiftung komme allerdings nicht in Schwung, weil „angestrebte Finanzierungen durch die öffentliche Hand“ ausgeblieben seien. Zu den Gründungsmitgliedern gehören neben dem Vorsitzenden Dieter Dombrowski (CDU) Hildigund Neubert (CDU) und Dr. Christian Sachse.

V.i.S.d.P.: Redaktion Hoheneck, Berlin – Tel.: 030-30207785 (1.354).

Strausberg/Berlin, 18.04.2023/cw – Erst jetzt erreichte uns die Nachricht: Irene Grünhagen (* 1934), Witwe des Strausberger Streikführers Heinz Grünhagen († 2012), ist am 30.12.2022 verstorben. Sie wurde am 23.01.2023 auf dem Waldfriedhof Strausberg/ Eggersdorf beigesetzt.

„Gerne hätten wir die Verstorbene auf ihrem letzten irdischen Weg begleitet,“ erklärte der Vorstand der VEREINIGUNG 17. JUNI 1953 in Berlin. „Ohne die tapfere Begleitung seiner Frau hätte Heinz Grünhagen, der Mitglied der VEREINIGUNG war, die schweren gesundheitlichen Probleme infolge seiner dem Aufstand folgenden politisch indizierten Haft in der DDR wohl schwerlich überstanden.“

Auch Grünhagens Kampf  „gegen das Vergessen“ wurde von seiner Frau mitgetragen, obwohl seine Reni stets im Hintergrund blieb, um ihrem Heinz in seinem nie nachlassenden Streit um ein würdiges Gedenken an den Volksaufstand gerade auch in seiner Heimatstadt Strausberg den Rücken zu stärken.

Wir nehmen den bevorstehenden 70. Jahrestag des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 zum Anlass, im Schatten des Todes von Irene Grünhagen an die Beiträge auf dieser Seite zu erinnern, in denen der nach der Wiedervereinigung aufgenommene  Kampf des Strausberger Streikführers um Würdigung und Anerkennung des Aufstandes von 1953 geschildert wurde:

Streikführer Heinz Grünhagen tot

Strausberg/Berlin, 24.07.2012/cw – Die Vereinigung 17. Juni 1953 teilte heute in  Berlin den Tod des Strausberger Streikführers vom 17. Juni, Heinz Grünhagen, mit. Grünhagen verstarb nach langer schwerer Krankheit am 11.07.2012 im Alter von 79 Jahren in den Armen seiner Frau.

Heinz Grünhagen,  der zwanzigjährige Bauarbeiter, hört  am Abend im Berliner Sender RIAS den Aufruf zum Streik: „Morgen am Strausberger Platz.“ Der Brigadier, der für zahlreiche Kollegen die Stunden erfasst und die Abrechnungen  erstellt, weiß um den Druck, der durch die vom Staat verordnete Normenerhöhung entstanden ist. Obwohl jung verheiratet, seine Frau ist schwanger, trifft er sich am Morgen  des 17. Juni auf der Baustelle. Schnell ist man sich einig und beteiligt sich am Streik. Eine Streikführung wird gewählt, Heinz Grünhagen gehört dazu.

Man bemächtigt sich mehrerer LKW der Bau-Union und fährt enthusiastisch von einem  Betrieb zum anderen in Strausberg, um  zum Streik aufzurufen. Im Zementwerk Rüdersdorf fordern die Streikenden die Freilassung der politischen Gefangenen. Angesichts der vor Ort schwer bewaffneten  Polizei ziehen sich die Arbeiter nach Strausberg zurück.

Nach dem Mittagessen beschließen die Streikenden: Wir fahren nach Berlin. Doch Kasernierte Volkspolizei und sowjetische Militärs sichern die Stadtgrenze. In der heutigen Hennickendorfer Chaussee stadtauswärts sichten Grünhagen und seine Freunde Panzerspähwagen der Roten  Armee. Als die Arbeiter vorrücken, werden Warnschüsse abgefeuert. Die Strausberger Streikenden ziehen sich zurück.

Fünf Jahre Zuchthaus für Streik-Beteiligung

Noch in der Nacht wird Grünhagen von der Stasi aus dem Bett geholt. Am 25. Juni 1953 findet bereits der Prozess gegen die „Aufrührer“ statt. Grünhagen ist der jüngste Angeklagte, wird zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Das Gericht wirft ihm vor, Wortführer der Streikenden gewesen zu sein und begründet damit seine besondere Schuld an dem „Aufruhr“.

Bis 1956 verbüßt Heinz Grünhagen seine Haft im  Zuchthaus Luckau. Als er entlassen wird, bleibt er seiner Frau zuliebe in der DDR. Von den Arbeiten im Steinbruch ist er gesundheitlich schwer gezeichnet, später wird eine Staublunge diagnostiziert. Trotzdem arbeitet er notgedrungen  im Straßenbau, jeglicher Aufstieg wird dem einstigen  Streikführer  verwehrt.

Nach dem Fall der Mauer lebt Grünhagen wieder auf. Mit einer seine vielen Freunde erstaunenden Energie setzt er sich nunmehr für das Gedenken an die Vorgänge im Juni 1953 ein. In der nach wie vor rot regierten  Stadt hat er keinen  leichten  Stand, findet aber immer wieder Verbündete, so in dem Landtagsabgeordneten  und späteren Mitglied des Stadtrates der Partei Bündnis90/DIE GRÜNEN, Detlef Grabert. Nach langem Ringen erkämpft Grünhagen die Errichtung eines Gedenksteines, allerdings außerhalb der Stadt, vor dem Kasernentor an der Hennickendorfer Chaussee. Wieder nach Jahren erreicht Grünhagen mit seiner Beharrlichkeit die Anbringung einer Gedenktafel mit den Namen der seinerzeit Streikenden auf dem Gedenkstein.

Sein  innigster Wunsch, noch zu Lebzeiten einen Kilometer der Hennickendorfer Chaussee in „Straße des 17. Juni“ umzubenennen, scheiterte bisher am hartnäckigen Widerstand der roten Mehrheit aus SPD und LINKE im Strausberger Rathaus. Im letzten Jahr erfolgte auf sein maßgebliches Drängen eine symbolische Umbenennung durch das zeitweise Überkleben von drei Straßenschildern am Bahnhof Strausberg in Anwesenheit der Brandenburgischen  Landesbeauftragten  für die Unterlagen der Staatssicherheit, Ulrike Poppe, die damit ihre Sympathie und Unterstützung des Anliegens unterstreichen wollte. Die Stadt antwortete mit einer Geldstrafe von über 300 €, eine Strafanzeige wurde jedoch eingestellt. Heinz Grünhagen, der sich an der Begleichung der Geldstrafe maßgeblich beteiligte, gab sich auch nach dieser „Niederlage“ kämpferisch. So lange er lebe, werde er für diese angemessenen Erinnerung an den Volksaufstand von 1953 kämpfen.

„Straße des 17. Juni“ in Strausberg?

 „Die Stadt Strausberg hätte nun die Gelegenheit, sich vor dem großen Sohn  der Stadt zu verneigen und zum  bevorstehenden 70.* Jahrestag des Aufstandes die Hennickendorfer Chaussee stadtauswärts umzubenennen. Es wäre ein später Dank an Heinz Grünhagen und die Frauen und Männer vom 17. Juni 1953, die auch in  Strausberg Kampfesmut für einen  besseren Staat zeigten“, sagte heute der Vorstandssprecher in Berlin.

* Ursprünglich „60.“ Jahrestag; wurde aktuell abgeändert. Die Redaktion. Der ursprüngliche Artikel unter: https://17juni1953.wordpress.com/2012/07/24/strausberg-streikfuhrer-heinz-grunhagen-tot/

Aus Anlass der Beisetzung von Heinz Grünhagen veröffentlichten  wir am 27.Juli 2012 nachfolgenden Beitrag:

Strausberg: Eine Stadt zieht den Vorhang zu

Strausberg, 27.07.2012/cw – Das Foto ging um  die Welt: Der – späte – Bundeskanzler Adenauer erst Tage nach dem Mauerbau in Berlin, und Willy Brandt, der Regierende Bürgermeister, blickt bei der Begrüßung zur Seite. „Eine Stadt blickt an ihm vorbei.“ Mag es so oder eher ein Zufallsfoto gewesen sein, die darin zum  Ausdruck gekommene Enttäuschung einer Stadt blieb zeitlebens an Adenauer hängen.

Die wenigen Trauergäste, die heute in Strausberg einen der letzten Streikführer des 17. Juni von 1953 auf seinem  letzen Weg begleiteten, fühlten sich ungewollt an diese Parabel erinnert. Kein einziger offizieller Vertreter der Stadt war zum Heimgang des Strausberger Streikführers Heinz Grünhagen (79) erschienen, nicht einmal zu einem  Blumengruß hatte es gereicht. Kaum  zu glauben, wie kaltschnäuzig hier eine Kommune ein Jahr vor dem 60. Jahrestag des Volksaufstandes mit dem Tod des letzten  Streikführers aus der eigenen Stadt umgeht. Eine Stadt zieht den Vorhang zu. Pietät sieht anders aus. Ehrung und Anerkennung einer Lebensleistung ohnehin.

So vermerkt die Bundesrepublik Deutschland am 27. Juli anno 2012 die Beisetzung eines der letzten, vielleicht auch des letzten Streikführers von 1953 in einem anonymen Grab. In wenigen Jahren optisch auch auf dem Friedhof vergessen, wenn die Stelen mit den unzähligen Namen durch neue ersetzt sein werden.

Die Stadt entzieht sich der Frage nach einem möglichen Ehrengrab, so wie sie sich dem hartnäckigen Wunsch von Grünhagen entzogen hat, noch zu seinen Lebzeiten einen  Kilometer der Hennickendorfer Chaussee in „Straße des 17. Juni 1953“ umzubenennen. Das es auch anders geht, zeigt die nahe gelegene Hauptstadt. Zu Zeiten einer ebenfalls linken Koalition beschloss der Berliner Senat die Beisetzung von Teilnehmern am Volksaufstand in einer Ehrengrabanlage seitlich der Gedenkstätte vom 17. Juni auf dem Friedhof Seestraße.

Anders Strausberg. Mit einer unglaublichen Hartnäckigkeit verteidigt die Stadtverordnetenversammlung die kilometerlange Ernst-Thälmann-Straße durch die Stadt ebenso vehement wie die einzige Straße in einer deutschen Kommune, die an einen ehemaligen Mauerschützen erinnert.

So blieb es der Landesbeauftragten für die Bewältigung der Diktatur-Folgen, Ulrike Poppe, vorbehalten, durch ihre Anwesenheit und ihren letzten Blumengruß ein  Zeichen gegen diese Wand des Verdrängens zu setzen. Begleitet wurde sie von Detlef Grabert, einst Landtagsabgeordneter, später Stadtverordneter von Bündnis 90/Die Grünen und Wegbegleiter des Verstorbenen in  den letzten Jahren und zwei ehemaligen  Stadträten der CDU. Am Urnengrab betonte der Vorsitzende der Vereinigung 17. Juni 1953 noch einmal das „unglaubliche Engagement von Heinz Grünhagen, der beispielhaft wie kaum  ein anderer der seinerzeitigen  Teilnehmer am Volksaufstand um die Erinnerung an diesen großen Tag in der Deutschen Geschichte gekämpft“ habe.

Ohne die lebenslange und mutige Begleitung durch seine Ehefrau besonders in den schweren letzten Jahren wäre dieses Engagement allerdings nicht möglich gewesen. Holzapfel, der in Begleitung des Vorstandsmitgliedes Tatjana Sterneberg an der Trauerfeier teilnahm, versicherte, Heinz Grünhagen „niemals zu vergessen und sein Anliegen der Erinnerung auch in  Strausberg zu bewahren.“

Der ursprüngliche Beitrag unter: https://redaktionhoheneckerbote.wordpress.com/2012/07/27/strausberg-eine-stadt-zieht-den-vorhang-zu/

Weitere Beiträge zu Heinz Grünhagen und Strausberg im Netz unter: http://www.nachrichtenbetriebsamt.de/17Juni.htm

Interviews mit Heinz Grünhagen: https://www.rbb-online.de/kontraste/ueber_den_tag_hinaus/diktaturen/um_das_leben_betrogen.html und: https://www.bpb.de/517994/heinz-gruenhagen-ueber-den-streik-am-17-juni-1953/

V.i.S.d.P.: Redaktion Hoheneck / VEREINIGUNG 17.JUNI 1953 – Berlin  (1.761).

PRESSEMITTEILUNG der VEREINIGUNG 17. JUNI 1953

Berlin, 29.01.2023/cw – Anlässlich des bevorstehenden 70. Jahrestages des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 hat sich die VEREINIGUNG 17. JUNI 1953 an die Präsidentin des Deutschen Bundestages und die dort vertretenen in freien und geheimen Wahlen gewählten Fraktionen gewandt. In den Schreiben wird aus dem gegebenen Anlass eine Sondersitzung des Deutschen Bundestages angeregt. Aus den Schreiben:

Sondersitzung des Deutschen Bundestages

„Durch die erfreulichen Folgen  des 9. November 1989 wurde im  Nachhinein eine der wichtigsten historischen Forderungen der Aufständischen vom 17. Juni 1953 umgesetzt: Die Einheit Deutschlands. Leider trat infolge vielfacher Debatten der 3. Oktober als „Gedenktag nach Aktenlage“ (u.a. Werner Schulz im Bundestag) an die Stelle des bisherigen arbeitsfreien Feiertages „17. Juni“., den wir seinerzeit Herbert Wehner verdankten.

 Nach dieser Änderung setzte sich die Vernachlässigung des 17. Juni 1953 als bedeutsamer Tag für die Geschicke Deutschlands und Europas verstärkt fort und ist im Gedächtnis der Deutschen nahezu verloren gegangen. Immerhin wird dieses Datum in Polen, Tschechien und Ungarn als Ausgangspunkt der eigenen Revolutionen gesehen.

Wir möchten nun eine Sondersitzung des Deutschen Bundestages anregen, um des 70. Jahrestages in würdiger Form zu gedenken und damit seitens des Parlamentes ein deutliches Signal gegen das Vergessen zu setzen. Da der 17. Juni in diesem Jahr auf einen Samstag fällt, dürfte eine Sitzung am Nachmittag – nach dem Gedenkakt auf dem Friedhof Seestraße – terminlich zu bewältigen  sein.“

Freier Arbeitstag in Berlin und Kundgebung vor  dem Schöneberger Rathaus am 17.06.2023

Ferner wandte sich die VEREINIGUNG 17. JUNI 1953 in gleichlautenden Schreiben an die Regierende Bürgermeisterin von Berlin und die in freien und geheimen Wahlen gewählten Fraktionen im Abgeordnetenhaus von Berlin: 

„Zum 70. Jahrestag des Volksaufstandes in Berlin möchten wir anregen

  1.       den 17. Juni 2023 aus diesem Anlass zum arbeitsfreien Tag in Berlin zu erklären und
  2.       am 17. Juni diesen Jahres seitens der Stadt Berlin zu einer Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus einzuladen.

Der 17. Juni fällt in diesem Jahr auf einen Samstag. Es dürfte also das (mögliche) Argument einer „Wirtschaftlichen Gefährdung“ durch einen zusätzlichen arbeitsfreien Tag nicht besonders ins Gewicht fallen.

Nach dem Volksaufstand von 1953 fanden alljährlich überaus gut besuchte Kundgebungen vor dem Schöneberger Rathaus, dem seinerzeitigen  Sitz von Abgeordnetenhaus und Berliner Senat, statt. Zur Erinnerung an den Aufstand vor 70 Jahren, der entgegen der seinerzeitigen, dem Kalten Krieg zuzuordnenden Propaganda eine unleugbare historische Bedeutung für Deutschland, aber auch für Europa hatte (Posen und Ungarn 1956, CSSR 1968 und Polen ab 1980) sollte zumindest zum 70. Jahrestag wieder eine Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus stattfinden. Der Senat von Berlin, das Abgeordnetenhaus, die darin vertretenen Parteien und die Gewerkschaften sollten einen entsprechenden gemeinsamen Aufruf an die Bevölkerung richten.“

   Der Vorstand

 VEREINIGUNG

17. JUNI 1953 e.V.

V.i.S.d.P.: VEREINIGUNG 17. JUNI 1953 e.V., Berlin – Mobil: 0176-48061953 (1.715).

Berlin, 19.12.2022/cw – Am heutigen Tag ehrte die Vereinigung 17. Juni 1953 am Ehrengrab auf dem Friedhof Seestraße ihren einstigen Vorsitzenden Manfred Plöckinger, der vor 20 Jahren, am 19.12.2002 nach langer schwerer Krankheit, eine Folge seiner DDR-Haft, in Bayern verstorben war. Die Urne Plöckingers war nach Bemühungen des Vorstandes 2005 von Bayern überführt und auf einer Erweiterung der Ehrenfeld-Anlage beigesetzt worden.

Plöckinger, zur Zeit des Aufstandes vom 17. Juni 1953 Bauarbeiter an der Stalin-Allee, gehörte nach seiner DDR-Haft zu den Gründern der Vereinigung, die als Nachfolgerin des unmittelbar nach dem Aufstand gegründeteen Kommitees „17.Juni“ am 3. Oktober(!) 1957 in das Vereinsregister eingetragen wurde. Von 1982 bis zu seinem Tod war Plöckinger als Nachfolger von Friedrich Schorn (Aufstandsführer in den Leuna-Werken bei Merseburg) Vorsitzender.

Zum Gedenken an ihn hatte die Vereinigung a l l e Fraktionen im Berliner Abgeordnetenhaus eingeladen. Der amtierende Vorsitzende Carl-Wolfgang Holzapfel hatte bereits seit Jahrzehnten im Vorstand durchgesetzt, keine in demokratischen Wahlen gewählte Partei im Parlament als mögliche Ansprechpartner auszuschließen. In früheren Jahrzehnten war es durchaus zu Konflikten gekommen, weil die seinerzeitigen Vorstände in ihrer Arbeit „unliebsame“ Parteien von ihren Kontakten ausgeschlossen hatten.

Lediglich eine Fraktion, die AfD, folgte der in allen Schreiben gleichlautenden Einladung und beteiligte sich an der Ehrung mit einer Kranzniederlegung. Die anderen Parteien, CDU, SPD, FDP und Bündnis90/GRÜNE reagierten überhaupt nicht, während sich die Fraktionsvorsitzenden der LINKEn immerhin wegen „anderweitiger Termine“ entschuldigen ließen.

In einer kurzen Ansprache am Grab Plöckingers sprach der Nachfolger im Vorstand sein „Bedauern über die seit Jahrzehnten in Gang gesetzte Vernachlässigung des 17. Juni 1953 als historischen ersten Aufstand nach dem Krieg im kommunistischen Machtbereich.“ Man könne hier durchaus eine politische Linienführung erkennen, die darauf abziele, „den Volksaufstand an den Rand der Geschichte zu schieben.“ Es würden sich immer mehr „politisch einseitig orientierte“ sogen. Historiker aus dem ehem. Umfeld der SED-DDR-Geschichte oder der entsprechenden politischen Orientierung dafür einsetzen, die ursprüngliche Charakterisierung bzw. Verleumdung des Aufstandes im Sinne der einstigen SED als „vom Westen bezahlten Putsch von Halbstarken und Kriminellen“ zu übernehmen. Dazu gehörte die nicht erst heute praktizierte Verleumdung von Menschen, die sich für eine Bewahrung der ehrenvollen und für Europa bedeutenden Historie des Aufstandes einsetzten.

Manfred Plöckinger auf einer Demonstration zum 10. Jahrestag des Mauerbaus 1971 in Berlin

Holzapfel führte zwei Beispiele an: So hätte das Magazin DER SPIEGEL 1986 im Zusammenhang mit einer Affäre um den damaligen Innensenator Heinrich Lummer Manfred Plöckinger als Dieb und Halbkriminellen bezeichnet. Nachdem Plöckinger in einem Leserbrief diese Behauptungen als nachweisliche, durch ein Gericht überprüfte Verleumdungen zurückgewiesen hatte, kommentierte die Redaktion: „Manfred Plöckinger hat Recht.“

Als zweites Beispiel führte der Redner das 2003 vorgelegte Standardwerk zum Volksaufstand „Die verdrängte Revolution“ (Edition TEMMEN, 848 Seiten) an, die maßgeblich von dem belannten Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk (neben Bernd Eisenfeld und Ehrhart Neubert) bearbeitet worden war. Die darin enthaltenen Lügen z.B. über Carl-Wolfgang Holzapfel, der danach „Mitglied der NPD“gewesen sei, mussten durch eine vereinbarte Errata, die jeder Auslieferung beigefügt werden muß, richtig gestellt werden. Kowalczuk, selbst bis zum Ende der DDR systemimmanent beschäftigt, begründete gegenüber Holzapfel diese „Unrichtigkeiten“ damit, dass die Autoren „aufgrund der Schwierigkeiten um den Verlegungstermin keine Zeit mehr gehabt hätten, die zugänglichen Unterlagen (Akten) der Staatssicherheit auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen.“ Man habe „die dort aufgespürten Aktenvermerke ungeprüft“ übernommen.

Geforderte Berichtigungen zur Person Manfred Plöckingers wurden von den Autoren wie der BStU (!) mit der Begründung abgelehnt, dieser sei verstorben, der Vorstand habe „keine Rechte, Berichtigungen anstelle des Verstorbenen“ zu verlangen.“

V.i.S.d.P.: Vereinigung 17. Juni 1953 e.V., C.W. Holzapfel – Berlin, Mobil: 0176-48061953 (1.714)

Berlin, 14. Dezember 2022/cw – Vor 20 Jahren, am  19. Dezember 2002, erreichte uns die traurige Nachricht von seinem Tod: Manfred Plöckinger, der einstige Bauarbeiter von der Stalinallee und jahrzehntelanger Vorsitzender der Vereinigung 17. Juni hatte uns genau einen Monat vor seinem 71. Geburtstag für immer verlassen. Dabei hatte er bis wenige Tage zuvor gehofft, noch an den Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag des Volksaufstandes teilnehmen zu können. Danach wollte er den Stab des Vorsitzes an mich weitergeben. Es kam anders.

Zum 20. Todestag, am kommenden Montag, dem 19.12., wollen wir an seinem Ehrengrab auf dem Friedhof Seestraße im  Berliner Bezirk Wedding um 10:00 Uhr seiner gedenken. Aus diesem Anlass geben wir nachfolgend auszugsweise einen Artikel von Johannes Reck wieder. Der seinerzeitige Beitrag ist in unserer Schrift „Helden der Menschlichkeit“ zum 50. Jahrestag des 17. Juni vollständig nachzulesen. Vereinigung (AK) 17. Juni 1953 e.V.

Manfred Plöckinger

Der Ursprung / Vergleiche des Totalitarismus

Von Johannes Reck **

Manfred Plöckinger wurde am 19. Januar 1945 13 Jahre alt. Er befand sich zu diesem Zeitpunkt in einem Oberschul-Hitlerjugend-Lager im Warthegau. Der Lagermannschafts-führer hieß Schabowski, Günter Schabowski.* Damals ahnte dieser Junge mit dem gutmütigen Gesicht noch nicht, das dieser knapp 45 Jahre später in das Rampenlicht der Geschichte rücken würde, indem er in der berühmten Pressekonferenz die Mauer für quasi geöffnet erklärte.

 „Die Merkmale des roten Regimes waren am Anfang zwar noch nicht so totalitär, doch im Grunde hat das rote Regime das Braune abgelöst, das kann man so formulieren“, sagt mir Plöckinger am Telefon. Es entsteht eine Stille. „Kann man aus heutiger Sicht den Diktator

* Hinweis der Redaktion: Günter Schabowski hat in einem Gespräch (Foto Schabowski und Holzapfel) dieser Darstellung widersprochen. Er habe sich „nie“ in einem solchen Lager aufgehalten.

Ulbricht mit dem Diktator Hitler vergleichen?“ frage ich leise. „Wissen Sie, es sind verschiedene Arten von Diktaturen gewesen und ich war noch sehr jung, als Hitler an der Macht war, doch das Ergebnis war, glaube ich, in beiden Fällen vergleichbar. Ich bin 70 Jahre alt und habe die Vertreter des Kommunismus im Kampf um Berlin gesehen. Da gab es mehr als nur grausige Geschichten.“

Plöckinger erinnert sich, dass sehr früh Verhaftung und Bespitzelungen durch die Volkspolizei einsetzten. Man traute sich nicht mehr, in der Öffentlichkeit seine Meinung zu sagen. Ein Zustand, der in nicht allzu ferner Vergangenheit vorherrschte.  Vorerst nahmen die Menschen den Kommunismus nicht so ernst, da er sich ja als human und arbeiterklassenfreundlich darstellte.

Die Vorläufer des 17. Juni

„Natürlich gab es Gespräche auf den Baustellen, wegen der Normen und wegen der schlechten Verhältnisse. Wir hatten eine Mangelwirtschaft. Dass das Regime von Einzelnen angegriffen wurde, das war damals nicht so. Durch diese Normenfrage haben sich am 16. Juni (1953) so 150-200 Arbeiter, zu denen ich gehörte, zusammengefunden und demonstriert“, so Plöckinger.

Die SED hatte nach Kürzungen im sozialen Bereich und einer Preiserhöhung von Lebensmitteln die Normen um 10% erhöht. Die Arbeitergruppe rund um den Bauarbeiter Manfred Plöckinger lehnte die vom Politbüro geforderte Anhebung der Produktivität zu Gunsten der Bevölkerung des Landes ab. Sie sahen, dass der Westberliner sich gut kleiden konnte und wohlriechende amerikanische Zigarette rauchte, während der Ostberliner in seinen zerknitterten Sonntagshosen meistens in den Ostberliner Tanzlokalen mit weniger Erfolg auftrat. Am Prenzlauer Berg beispielsweise, Plöckingers Wohnort, bildeten sich Subkulturen, die ihren Unmut lauter äußerten. Man brandmarkte sie als Provokateure.

Am 16. Juni fragte ihn ein Kollege von der Baustelle: „Manfred, du kommst doch auch mit?“ Mit einem „Ja klar!“ stürzte er sich hinein in den breiten Enthusiasmus der kleinen Revolte. Zwischen 16.00 und 17.00 Uhr befand er sich auf der Friedrichstrasse in einem Meer von aufgebrachten und schimpfenden Mitbürgern, die sich alle lauthals immer wieder die selbe Frage stellten: „Warum müssen wir anders leben als die im Westen? Wir haben doch alle den Krieg verloren!“

Die SED hatte einen Gegendemonstrationszug organisiert. Laut Plöckinger zählte dieser aber nur noch ein Drittel seiner anfänglichen Stärke, nachdem er „Unter den Linden“ den Zug der Demonstranten kreuzte. Viele beobachtende Volkspolizisten warfen ihre Jacken demonstrativ weg und schlossen sich unter großem Applaus der Masse an. Gegen Abend hörte Plöckinger das erstemal von einem Treffen am nächsten Tag um fünf auf dem Strausberger Platz in Verbindung mit dem Wort „Generalstreik“. Von einem unbekannten Glücksgefühl beseelt, ging er durch leere Straßen nach Hause. Der jetzt Volljährige spürte etwas Großes kommen.

Popstars und Träume

In der Tat verbreitete sich die Nachricht vom geplanten Generalstreik, wie sich heute die Kunde nach dem Kommen eines Popstars verbreitet. Die Nachricht ging wie ein Lauffeuer um. Was träumten die Menschen in Ostdeutschland in der Nacht vom 16. auf den 17. Juni?

Mit der Wetterlage entsprechenden gemischten Gefühlen zog Plöckinger mit seinen Arbeitskollegen vom Alexanderplatz in Richtung Regierungsviertel. Mannschaftswagen fuhren durch die Menge. Die Atmosphäre der Gewalt, die von den allmählich auftretenden Sicherheitskräften der Regierung ausging, sprang auf die Reihen der  Demonstranten über.

Das Phänomen der Masse kam vollends zum Tragen. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde vom Tod eines jungen Mannes, der bei der Humboldt Universität unter die Ketten eines Russenpanzers geraten war. Plöckinger selbst war noch beim Alexanderplatz, als er schon davon hört.

Plöckinger: „Wissen Sie, das ist so: Der Kopf kocht und dann kommt dieses kleine bisschen dazu, und dann kocht er über. Genauso hat es sich entwickelt. Bis 1953 hat sich niemand groß getraut, den Mund aufzumachen. Dann sagten alle auf einmal: ‚Mensch, da tut sich doch was.’“

Emotionen in der Masse

Der Alltagsfrust über die wachsende Kluft zwischen West- und Ostberlin brauchte ein Ventil. Manfred Plöckinger, der übrigens die Version von Erich Loest zurückweist, die besagt, dass westliche Spitzel die Masse aufputschten, lief an diesem Tag auch mit beschwingtem Glücksgefühl die „Straße unseres nationalen Schicksals“,  Unter den Linden, hinunter. Das Gefühl der Unsicherheit vom Vorabend hatte sich gelöst und in einen gesteigerten extrovertierten Freudentaumel gewandelt. Er und seine Kollegen von der Stalinallee ließen sich mitreißen von der Menge, die Fahne der Bundesrepublik schwingend und die Nationalhymne singend. Doch sie sangen immer nur die erste Strophe, weil noch keiner die Dritte auswendig konnte.

Der Kommunismus verstummt

„Wir fordern freie und geheime Wahlen!“ schrie einer und es hallte aus allen Mündern wieder. Auch nicht die von den Seitenstraßen her kommenden Panzer der Roten Armee konnten die nun tobende Masse von ihrem wilden Tanz für die Wiedervereinigung von Ost und West und dem ausdrücklichen Wunsch auf ein schnelles Ende des kommunistischen Terrors abhalten. Zu tief saß unter anderem auch der Eindruck des getöteten jungen Mannes bei der Humboldt Universität, an dem auch Plöckinger vorbeischritt. Die Blutlache des Jugendlichen war nur notdürftig mit Sand bedeckt.

„Ich hatte gegen die Leute in den Uniformen nichts einzuwenden. Nur das System habe ich kennen gelernt, als Berlin von der Roten Armee eingenommen worden ist,“ wiederholt Plöckinger mir gegenüber eindringlich.

Natürlich war die Propaganda der scheinbar reumütigen Regierung Hohn angesichts des von Panzern überrollten Jungen bei der Humboldt Universität. In diesem Falle nahm die Heuchelei aber ein sehr schnelles Ende. Ein Kollege von Manfred Plöckinger, der neben ihm stand, fragte ihn, ob er bereit wäre, die an die Masten verknoteten Lautsprecher abzulösen. Jeder der beiden übernahm einen Mast. Der Mann schien einige Kenntnis von Technik zu haben, denn im Augenblick, in dem sie die Schleifen der Verknotung der Lautsprecher an den Masten lösten, verstummte die propagandistische Stimme. Die Aufständischen zogen weiter!

Das Foto

Das Motorengeheule der Panzer intensivierte sich, und in zügigem Tempo wurden die Demonstranten in Richtung Brandenburger Tor getrieben. Diese Zickzack fahrenden Bolliden, die mitten in die Menge hineinfuhren, lösten eine große Panik aus. Den Menschen blieb keine andere Möglichkeit mehr, als die der symbolischen Flucht durch das Wahrzeichen Berlins in den Westen.

Manfred Plöckinger auf dem historischen Foto (Kreis)

Genau in diesem Moment, da sie fahnenschwenkend, singend und tanzend hindurch kamen, wurde auf den Auslöser gedrückt und das Foto gemacht, das wohl das bedeutendste im Zusammenhang mit dem 17. Juni werden sollte. Das besondere an dieser Momentaufnahme ist, dass man kein einziges russisches Militärfahrzeug sieht. Eine Analogie zum 9. November 1989. Ich glaube, dies ist auch der Grund, warum der 17. Juni 1953 bis heute noch ein so markantes Datum ist und warum er als einer der großen Auslösungsfaktoren für den weiteren Widerstand gegen den Kommunismus stalinistischer Prägung gilt.

Die Rote Fahne fällt

Auf der anderen Seite des Tores bewunderte die Spitze des Zuges, zu der Manfred Plöckinger gehörte, wie der 23jährige LKW-Fahrer Horst Ballenthin unter Beschuss auf das Tor kletterte, die Rote Fahne herunterholte und unter tosendem Applaus in die Menge warf . Unten zerriss man sie mit großer Genugtuung und feierte Ballenthin als Helden des Tages.

In Westberlin gelangten Plöckinger und viele andere Demonstranten in ein Auffanglager in einer Hinterhoffabrik in der Spänerstraße in Moabit. Dort mussten sie auf Strohsäcken schlafen, auch die sanitären Anlagen waren notdürftigst. Doch an diesem Ort war es, dass ein Mitstreiter ihm die Zeitung in die Hand drückte, auf der jenes große Titelfoto der Helden des 17. Juni abgedruckt war, die gerade durch das Brandenburger Tor marschierten. Zwar war Plöckinger nur im Hintergrund auf diesem Foto zu sehen, doch immer noch erkennbar.

Das Foto sollte ein zentrales Bild zum 17. Juni werden und mehr noch, ein Symbol für den Freiheitskampf des deutschen Volkes. Immer wieder wurde es das Leitbild zu Zeitungsartikeln. Manfred Plöckinger bezahlte allerdings seine Präsenz auf dem Bild sehr bitter.

Er kam nach 10 Tagen zurück an den Prenzlauer Berg, um wieder auf einer richtigen Matratze schlafen zu können.  Plöckinger lebte sich wieder in seinen Alltag ein. Ulbricht und Genossen versuchten zu besänftigen, während die Emigrationszahlen aus den östliche Sektoren stiegen.

Jeden Mittwoch ging Plöckinger zu einem Schachabend, an dem er lange Partien gegen einen Freund spielte. Diesem Freund zeigte er auch mit ein wenig Stolz das Foto vom 17. Juni unter dem Brandenburger Tor. Dies war der Anfang der Katastrophe, denn wenig später stand sein Schachrivale mit seinen Arbeitskollegen von der Stasi vor Plöckingers Tür. Sie verhafteten ihn und brachten ihn zum Polizeipräsidium, wo man ihn bis zum Prozess, der in einem Eilverfahren ablief, festhielt.

Gefangen

Über die folgende Geschichte spricht Plöckinger nicht gerne. Vom April 1954 bis zum April 1956 verbüßte Plöckinger eine Haftstrafe wegen der Beteiligung am Arbeiteraufstand des 17. Juni. Als der Zug für ihn einfuhr, um ihn in ein Arbeitslager zu transportieren, zeigte keine gelbe Digitaltafel an, wohin es denn gehe. Und das Einzige, was er durch das Fenster  seiner Waggonzelle erkennen konnte, war ein Bahnhofsschild: „Vogelsang“.

Gegen Ende September 1955 wurde er zusammen mit anderen Gefangenen in den „Grotewohl Express“ gesteckt. Den Namen bekam der Zug vom Portrait des damaligen DDR- Ministerpräsidenten, das am Ende eines jeden Waggonflures hing. Die Provokateure und Staatsfeinde wurden in Hundezwingergroße Kabinen geworfen. Man gab ihnen zwei Scheiben Brot mit Fett und etwas Wurst. Durch schmale Luftritzen schimmerte hinein, was vom Tageslicht übrig blieb.

Übernachten mussten die Häftlinge im Gefängnis Frankfurt/Oder. Plöckinger: „Unwürdig“. Der ganze Transport erinnert wohl nicht umsonst an die Beschreibungen der Züge nach Dachau, Bergen-Belsen, Auschwitz und wie die Orte des Schreckens noch alle hießen.

Die Resozialisierung/ Häftlingslager ‚Vogelsang’

Die Reise endete vor ein paar Baracken. Sie mussten sich in Reih und Glied aufstellen, noch einmal wurden ihre Namen aufgerufen. Dann führte man sie durch das Tor, und Manfred Plöckinger erblickte ein viereckiges Areal, das mit Stacheldraht umzäunt war und das durch einen Mittelgang in zwei Teile unterteilt war. An den vier Ecken des Geländes standen Wachtürme, im Zentrum des Mittelganges erhöht ein  kleiner Steinbau, den man nur über einige Stufen erreichen konnte: Das Offiziers- und Wachtmeisterbüro. Auf beiden Seiten dieses Steingebildes standen Baracken. Wenn man sich das Bild vor Augen führt, wird einem schlecht. Nicht zuletzt deswegen, weil dieser Aufbau so haargenau dem eines KZs gleicht.

Die Häftlinge trugen alte gestreifte Uniformen, zu denen eine Mütze ohne Schirm gehörte, die Plöckinger als lächerlich beschreibt. Die Aufsicht in den Baracken hatte jeweils ein Häftling ‚mit Schirm’ und Armbinde, der ‚Barackenälteste’. Dieser besaß das Recht, die Zigaretten zu deponieren, die sich die Häftlinge verdienten. Ferner wurde Geld verdient, mit dem man sich Zusatznahrung und sechs Zigaretten pro Tag kaufen konnte. Plöckingers Barackenältester Mallagoudera und weitere Funktionäre betraten des öfteren die engen Stuben, in denen jeweils sechs Häftlinge in drei Hochbetten untergebracht waren. Sie rissen willkürlich die kleinen Metallspinde auf und warfen die Habe der Häftlinge mit der Bemerkung: „Schlamperei“ zu Boden. Plöckinger widersetzte sich und warnte Mallagoudera, nicht das selbe mit seinen Sachen zu machen. Es sollte nicht das letzte unfriedsame Aufeinandertreffen der beiden gewesen sein. Eines Tages, nach einem Konflikt, rief man Plöckinger in den Steinbau zum wachhabenden Offizier. Da er mit einem „Guten Abend“ und mit der Frage „Sie wollen mich sprechen?“ den Raum betrat, ohne vorher anzuklopfen und ohne Meldung zu machen, empfing ihn nur wütendes Geschrei. Drei Männer wurden gerufen, die ihn gewaltsam hundert Meter in Richtung Bahnhof Vogelsang zerrten, wo eine gerade fertiggestellte, umzäunte Zweizellenhütte stand. Man zwang ihn, sich zu entkleiden und sperrte ihn in eine der beiden Hütten. Es war bereits Oktober, die Wände waren feucht.

 „Es war entwürdigend bis zum Letzten. Wenn man sich ein wenig die Würde behielt, sei es auch nur durch Gestik, wurde man gleich in Dunkelarrest gesperrt“, sagt mir Plöckinger. Über seine gesamte Haftzeit zusammengerechnet war er ca. drei Monate in Dunkelarrest.

Am nächsten Morgen um 6 Uhr betraten drei Offiziere die Zelle und forderten ihn  auf, sich endlich als sozialistischer Mitbürger zu resozialisieren. Plöckinger forderte jedoch nur einen Arzt und einen Staatsanwalt. Er wurde zu einem sogenannten Arzt geführt. Dieser befand, dass der Häftling gutes Essen brauche und schickte ihn zurück in die Zelle. Immerhin durfte Plöckinger nun 20 bis 30 Minuten am Tag unter Bewachung eines Volkspolizisten ‚Gassi gehen’. Als am 20. April 1956 seine Haft regulär endete, war ihm der Hafttag durch Normerfüllung nicht vergütet worden.

„Der erste Hochofen in Stalinstadt und die ersten Infrastrukturen dort sind von Häftlingen, auch von politischen Häftlingen, zwangserrichtet worden. Der Zwang ergab sich aus dem Versprechen von Haftverkürzungen und besserer Verpflegung, aus entwürdigender Disziplinierung wie Gleichschritt, Strammstehen, totaler Unterordnung und der Befehlsgewalt von Häftlingsfunktionären“, so resümiert Plöckinger heute.

Mit Tbc und Zuckerkrank in der Freiheit

Nach dem Ende seiner Haft war Manfred Plöckinger ein gezeichneter Mann. Er hatte eine offene Tuberkulose, zu der später eine schwere Diabetes hinzukam. Mit letzter Kraft schleppte er sich in den westlichen Sektor von Berlin. Jahrelang durfte er dort wegen der Tbc nicht offiziell arbeiten. Um sich trotzdem über dem Existenzminimum zu halten,  jobbte er als LKW-Fahrer. Seinen kritischen Geist behielt er aber und griff (nach dem Mauerbau am 13.08.1961) jedes Mal den Berliner Senat an, wenn es zu Ermordungen von Flüchtlingen an der Mauer kam.

Als es einen erschossenen Flüchtling am Teltow Kanal gab, ohne dass die Westberliner Polizei eingriff, warf er dem damaligen Westberliner Bürgermeister Albertz Versagen vor. Man entzog ihm in der Folge „plötzlich“ mit der Begründung den LKW Führerschein, seine Diabetes würde es ihm nicht erlauben, zu fahren.  Wie Plöckinger mir berichtete, tat er es trotzdem und setzte sogar die Polizei davon in Kenntnis. Man schwieg dazu. Ebenso plötzlich erhielt Plöckinger die Fahrerlaubnis nach zehn Jahren ohne nähere Begründung zurück.

Anfang der siebziger Jahre wurde Plöckinger nach dem Besuch einer Fachschule Versicherungsfachwirt und später sogar Versicherungsdirektor. Er heiratete und seine Frau gebar ihm zwei Kindern. Als die Versicherung, für die er arbeitete, aufgekauft wurde, lehnte man eine Übernahme mit Bezug auf seine Diabeteserkrankung ab. Er stand auf der Straße.

Roman Herzog: Verfassungsbeschwerde berechtigt, aber…

Seitdem prozessiert er erfolglos um die Anerkennung der Diabetes als Folge eines Haftschadens. Ihm ist bis zu seinem Tod jede Entschädigung versagt geblieben. Einmal fällten sie im Bundessozialgericht ein Urteil, ohne ihn vorher anzuhören. Plöckinger klagte daraufhin beim Bundesverfassungsgericht sein Grundrecht auf rechtliches Gehör ein. Sein Freund Carl-Wolfgang Holzapfel erzählte mir, dass Roman Herzog als eine seiner letzten Amtshandlungen folgende Entscheidung unterschrieb:

Ihre Verfassungsbeschwerde ist berechtigt. Sie kann gleichwohl nicht zur Entscheidung angenommen werden, weil Sie es versäumt haben, in ihrer Verfassungsbeschwerde deutlich zu machen was sie denn vorgetragen hätten, wenn man ihnen rechtliches Gehör eingeräumt hätte.

Plöckinger wurde verbittert, zeichnete sich der Kampf gegen die Bürokratie des westlichen Staates, den er sich in den langen Nächten im Dunkelarrest als so paradiesisch vorgestellt hatte, als ein Kampf gegen Windmühlen ab.

Die Vereinigung 17. Juni 1953

Plöckinger begründete mit einigen Weggefährten die Vereinigung 17. Juni 1953, die am 3. Oktober 1957 als Verein eingetragen wurde. „In Anbetracht der Tatsache, dass der 3. Oktober faktisch den 17. Juni abgelöst hat, schreibt das Leben doch immer wieder die besten Geschichten“, sagt mir Carl-Wolfgang Holzapfel, Pressesprecher und seinerzeit 2. Vorsitzender der Vereinigung. Die Vereinigung, deren jahrzehntelanger 1. Vorsitzender Manfred Plöckinger war, hatte noch lange politische Brisanz, denn sie wirkte sehr aktiv an der kritischen Bewegung gegen die DDR in Westberlin mit und setzte oft die Westberliner Regierung unter Druck. Aus den Stasi-Dokumenten, die der Vereinigung später aus dem Archiv zugänglich wurden, geht sogar hervor, dass es konkrete Überlegungen gab, die Stammkneipe, in der sich die Mitglieder regelmäßig trafen, in die Luft zu sprengen. Wegen ihrer eindeutigen Position gerieten sie oftmals zwischen die Fronten. Noch nach der Deutschen Einheit stellte es sich heraus, dass es in der Vereinigung Doppelagenten gab, die für die westliche und die östliche Seite spionierten. Einer von ihnen war ein Plöckinger-Biograph, der sogar schon ein komplettes Buchskript verfasst hatte, als seine wahre Identität ans Tageslicht kam.

Die Ziele der ‚Vereinigung 17. Juni 1953’ heute sind, die Ereignisse des 16. und 17. Juni 1953 im öffentlichen Bewusstsein zu halten, sie als ein herausragendes geschichtliches Datum zu etablieren und die dafür zuständigen Institutionen dahin zu bewegen, den 17. Juni wieder als nationalen Gedenktag anzuerkennen. Ebenso steht die immerwährende Ehrung der Opfer des 17. Juni, auf sowjetischer und deutscher Seite im Vordergrund, wie die Erhellung noch unbekannter Schicksale. 

Das Erbe Manfred Plöckingers

Weihnachten 1989 verbrachte Manfred Plöckinger, seit vielen Jahren in Bayern wohnhaft, in Berlin. Erstmals konnte er wieder die Strassen seiner Kindheit entlanggehen. „Davon hatte ich Jahrzehnte lang geträumt“, berichtet er.

Hartnäckig kritisierte er, hinterfragte er. In der DDR hatte er sich nicht den Mund verbieten lassen, er tat es auch in Westdeutschland nicht. Man kann ihm vorwerfen, ein Don Quijote gewesen zu sein. Doch konnte man nicht genauso diesen Kritikern vorwerfen, den Traum von Einigkeit, Recht und Freiheit nicht geträumt zu haben?

Zu schnell vergessen wir den großen Kampf, der 1953 angefangen hat und dessen Träume 1990 Wirklichkeit wurden. Zu schnell wenden wir uns von den Idealisten ab, um über sinnlosen Streitereien und politischem Kalkül die große Traglast unseres gesamtdeutschen Erbes zu verdecken.

Wir dürfen es nicht zulassen, dass Manfred Plöckinger auch nur eine Minute umsonst in seinem dunklen Verlies frieren musste. Wir sind ‚ein Volk’ und müssen begreifen, dass jetzt die Zeit gekommen ist, um ein neues Kapitel in der deutschen Geschichte aufzuschlagen. Die Zeit der totalitären Herrschaft ist vorbei, und wir haben gelernt. Die heutige Generation darf nicht mehr mit den Erbschulden gebrandmarkt werden. Dank Manfred Plöckinger kann man uns nicht generalisieren. Das muss uns Luft zum Atmen geben.

Luft, die wir brauchen, um auf dem erwähnten Grundstein ein Haus zu bauen. Ein Haus, in dem eine neue Generation von Deutschen wohnt, die nicht den Krieg und die Unterdrückung erlebt hat und trotzdem das Gut der Freiheit zu schätzen weiß und die Kämpfer für jene Freiheit würdigt.

Wir dürfen es nicht dazu kommen lassen, dass diese Menschen, die für die Freiheit unseres Vaterlandes aufgestanden sind, verbittern. Vielmehr sollten wir uns für sie einsetzen und ihnen nicht nur am 17. Juni aufrichtig und ehrlich dankbar sein.

Nachwort

Knapp drei Wochen nach unserem zweiten ausgiebigen Telefonat im November erlitt Manfred Plöckinger einen weiteren schweren Herzinfarkt. Erst als ich aus meinen Weihnachtsferien mit geschriebener Arbeit wiederkehrte, erfuhr ich von seinem Tode am 19. Dezember 2002. Er wurde vorerst in Bayern beigesetzt.

Ich wollte an dieser Stelle Manfred Plöckinger, der niemals materiell für seinen Kampf entschädigt worden ist, für das Bundesverdienstkreuz vorschlagen, um ihm eine staatliche Würdigung zuteil werden zu lassen. Leider kann ihm diese Anerkennung nicht mehr in dieser Form gewährt werden. Ich bin trotzdem zuversichtlich, dass Manfred Plöckinger seine Gerechtigkeit, die ihm zeitlebens nicht vergönnt war, bekommen wird. Indem wir uns als junge Generation mit ihren Schicksalen auseinandersetzen, geraten Manfred Plöckinger und seine Mitstreiter nicht in Vergessenheit.

Es ist unsere Verantwortung ihnen ein Denkmal zu setzten. Carola Plöckinger sagte mir, dass ihr Mann vielleicht eines Tages vom Himmel herunterschaut und von dort oben sehen könnte, dass langsam die alten Narben des deutschen Volkes verheilen und wir mit der Geschichte Auge in Auge treten können. Ich denke, ihm würde diese Entwicklung mehr bedeuten als jedes Verdienstkreuz.

Durch diese Arbeit, an die ich mehr aus Zufall als durch wissenschaftliches Kalkül geraten bin, habe ich einen tiefen Einblick in diesen Abschnitt der Geschichte unseres Landes bekommen. Viele Menschen haben mich positiv unterstützt und  in schwierigen Phasen motiviert, besonders hervorheben möchte ich Manfred Plöckinger, Carl-Wolfgang Holzapfel, Carola Plöckinger, Frau Bomhoss vom Ullstein Bilderservice, meine Eltern, sowie meine Großmutter Dr. Grete Schmidt. Ich bin nicht nur einer spannenden Biografie, sondern auch meiner Identität als Deutscher ein Stück näher gekommen.

Speziell in Erinnerung an Manfred Plöckinger möchte ich diesem den vorliegenden Text aus Wilhelm Tell von Friedrich Schiller widmen:

„Eine Grenze hat Tyrannenmacht:

Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,

wenn unerträglich wird die Last,

greift er hinauf getrosten Mutes in den Himmel

und holt herunter seine ew’gen Rechte,

die dort droben hangen unveräußerlich

und unzerbrechlich wie die Sterne selbst.“

** Johannes Reck beteiligte sich am Schul-Wettbewerb der Körber-Stiftung, der 2003 den „17.Juni 1953“ zum Thema hatte. Reck stellte seine Arbeit der Vereinigung 17. Juni zur Veröffentlichung für die Schrift zum 50. Jahrestag „Den Helden der Menschlichkeit“ zur Verfügung.

V.i.S.d.P.: Vereinigung 17. Juni 1953 e.V., Berlin – Mobil: 0176-48061953 (1.713)

Berlin, 03.08.2022/cw – Die VEREINIGUNG 17. JUNI wird bereits am Vortag zum diesjährigen Jahrestag des Mauerbaus – 1961 – am 12. August um 11:00 Uhr die Opfer der Mauer mit einer Kranzniederlegung an den Mauerkreuzen zwischen Reichstag und Brandenburger Tor (Friedrich-Ebert-Straße) ehren. Das hat der Verein in einer heute verbreiteten Presseerklärung bekannt gegeben.

Das Grab Peter Fechters in Berlin-Pankow. Auch hier ist kein „Ehrengrab“ vermerkt. –
Foto: LyrAg

„Wir wollen in diesem Jahr besonders an den achtzehnjährigen Bauarbeiter Peter Fechter erinnern, der am 17. August 1962, also vor 60 Jahren, vor den Augen der Welt unmittelbar hinter der Mauer zwischen dem Checkpoint Charlie und dem Axel-Springer-Verlag elendlich verblutete.“ Peter Fechter sei so zum Synonym für die vielen blutigen Opfer an der blasphemisch von den DDR-Machthabern als „Friedensgrenze“ bezeichneten Mauer geworden. „Wir werden daher unseren Kranz diesmal direkt vor dem Kreuz ablegen, das dort an seinen  frühen Tod erinnert,“ erklärte der Vorstand.

Die Vereinigung hatte zum 60. Jahrestag des Mauerbaus im letzten Jahr die weißen Kreuze zwischen Reichstag und Brandenburger Tor und am Spreeufer zwischen Reichstag und Paul-Löbe-Haus erneuert. Durch die Initiative „Den Opfern ein Gesicht geben“ wurde auf den neuen Kreuzen dem bisherigen Namen ein Portrait des Opfers, das Geburtsdatum und eine Kurzbiografie über die Umstände des Todes an der Mauer zugefügt. „Seither,“ so Sprecherin Tatjana Sterneberg, „werden die Kreuze der Erinnerung ganz anders wahrgenommen. Jung und Alt bleiben jetzt stehen, lesen von den dramatischen Schicksalen und sprechen über die Opfer. So bleiben diese auf lebendige Weise im Gedächtnis der vielen hundert täglichen Besucher.“

Bemühungen um Straßenbenennung an Gleichgültigkeit gescheitert

Kritisch äußerte sich der Vorsitzende des Vereins zum Vermächtnis Peter Fechters: „Alle unsere jahrzehntelangen Bemühungen um eine besondere Hervorhebung dieses symptomatischen Maueropfers, quasi stellvertretend für die vielen Toten an der gnadenlosen Grenze durch Europa und Berlin, sind bis heute, 60 Jahre nach seinem Tod, an der offenbaren Gleichgültigkeit politischer Bürokratie gescheitert,“ sagte Carl-Wolfgang Holzapfel, selbst einstiger Mauerdemonstrant und politischer Gefangener der DDR (Urteil: 8 Jahre).

Bereits 2012 wurden am Checkpoint Unterschriften für eine „Peter-Fechter-Straße“ gesammelt… – Foto: LyrAg
 

Man habe bereits im letzten Jahr, also im Vorfeld des jetzt anstehenden 60. Todestages von Fechter, erneut die Verwaltungen und politischen Entscheidungsträger angeschrieben und wiederholt die Umbenennung der Zimmerstraße zwischen Checkpoint Charlie und Axel-Springer-Verlag in „Peter-Fechter-Straße“ gefordert. Holzapfel: „Im Gegensatz zu früheren Jahren werden diese Anfragen und Bitten noch nicht einmal im Eingang bestätigt.“ Man habe den Eindruck, dass die gezeigte öffentlichkeitswirksame Trauer an der Stele Peter Fechters einmal mehr auch in diesem Jahr als pure Heuchelei zelebriert werden wird. Auch der jüngste Vorstoß des Dachverbandes der Opferverbände, UOKG, auf Umbenennung der Zimmerstraße wurde bislang schnöde und „die Opfer der Diktatur fast schon beleidigend“ ignoriert.

In diese „katastrophale Gemengelage“ passe die vor einem Tag bekannt gegebene Ehrung für den 1996 verstorbenen Musiker Rio Reiser wie die berüchtigte „Faust aufs Auge“. Nach Reiser soll jetzt der Heinrichplatz in Kreuzberg umbenannt werden.  Die Umbenennung war bereits vor einem Jahr sogar im Amtsblatt veröffentlich worden, konnte jedoch nach Widersprüchen aus der Bevölkerung und gerichtlichen  Klärungen der Rechtslage wie den Bedingungen der Corona-Pandemie zunächst nicht umgesetzt werden.

Zwar hatte die Bezirksverordnetenversammlung 2005 beschlossen, Straßen und Plätze nur noch nach Frauen zu benennen, sich aber bei der Umbenennung der Gabelsberger in Silvio-Meier-Straße und eines Teils der Koch- in Rudi-Dutschke-Straße selbst nicht daran gehalten. Damit seien auch die bisherigen Argumente der Bezirksoberen und einiger Landespolitiker in Sachen  Peter Fechter vom Tisch, meint nun die Vereinigung, denn  diese hätten sich in Ermangelung „anderer Entschuldigungen“ eben auf diesen Beschluss berufen, „der ja nun leider in der Welt“ sei, wie es jeweils, offenbar Betroffenheit heuchelnd, hieß.

„Dieser politische Mißbrauch von Ehrungen zugunsten bestimmter politischer Klientel ist im Grunde auch nachträglich eine schallende Ohrfeige in das Gesicht jener, die eine angemessene Ehrung durch ihre Lebensleistung oder ihren  nicht zu leugnenden historischen Standort ohne jeden Zweifel verdient hätten“, heißt es abschließend in der Presseerklärung des Vorstandes.

Siehe auch: Peter-Fechter-Straße: „Bezirk hat sich „sich umgehend, konstruktiv und höflich zurückgemeldet“ – Chef der UOKG widerspricht Kritik der Vereinigung 17. Juni – unter Redaktion Hohenecker Bote, https://redaktionhoheneckerbote.wordpress.com/ vom 08.08.2022.

V.i.S.d.P.: VEREINIGUNG (AK) 17. JUNI 1953 e.V., Berlin – Mobil: 0176-480612953 (1.712)

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