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Berlin, 14. Dezember 2022/cw – Vor 20 Jahren, am 19. Dezember 2002, erreichte uns die traurige Nachricht von seinem Tod: Manfred Plöckinger, der einstige Bauarbeiter von der Stalinallee und jahrzehntelanger Vorsitzender der Vereinigung 17. Juni hatte uns genau einen Monat vor seinem 71. Geburtstag für immer verlassen. Dabei hatte er bis wenige Tage zuvor gehofft, noch an den Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag des Volksaufstandes teilnehmen zu können. Danach wollte er den Stab des Vorsitzes an mich weitergeben. Es kam anders.
Zum 20. Todestag, am kommenden Montag, dem 19.12., wollen wir an seinem Ehrengrab auf dem Friedhof Seestraße im Berliner Bezirk Wedding um 10:00 Uhr seiner gedenken. Aus diesem Anlass geben wir nachfolgend auszugsweise einen Artikel von Johannes Reck wieder. Der seinerzeitige Beitrag ist in unserer Schrift „Helden der Menschlichkeit“ zum 50. Jahrestag des 17. Juni vollständig nachzulesen. Vereinigung (AK) 17. Juni 1953 e.V.

Manfred Plöckinger
Der Ursprung / Vergleiche des Totalitarismus
Von Johannes Reck **
Manfred Plöckinger wurde am 19. Januar 1945 13 Jahre alt. Er befand sich zu diesem Zeitpunkt in einem Oberschul-Hitlerjugend-Lager im Warthegau. Der Lagermannschafts-führer hieß Schabowski, Günter Schabowski.* Damals ahnte dieser Junge mit dem gutmütigen Gesicht noch nicht, das dieser knapp 45 Jahre später in das Rampenlicht der Geschichte rücken würde, indem er in der berühmten Pressekonferenz die Mauer für quasi geöffnet erklärte.
„Die Merkmale des roten Regimes waren am Anfang zwar noch nicht so totalitär, doch im Grunde hat das rote Regime das Braune abgelöst, das kann man so formulieren“, sagt mir Plöckinger am Telefon. Es entsteht eine Stille. „Kann man aus heutiger Sicht den Diktator

* Hinweis der Redaktion: Günter Schabowski hat in einem Gespräch (Foto Schabowski und Holzapfel) dieser Darstellung widersprochen. Er habe sich „nie“ in einem solchen Lager aufgehalten.
Ulbricht mit dem Diktator Hitler vergleichen?“ frage ich leise. „Wissen Sie, es sind verschiedene Arten von Diktaturen gewesen und ich war noch sehr jung, als Hitler an der Macht war, doch das Ergebnis war, glaube ich, in beiden Fällen vergleichbar. Ich bin 70 Jahre alt und habe die Vertreter des Kommunismus im Kampf um Berlin gesehen. Da gab es mehr als nur grausige Geschichten.“
Plöckinger erinnert sich, dass sehr früh Verhaftung und Bespitzelungen durch die Volkspolizei einsetzten. Man traute sich nicht mehr, in der Öffentlichkeit seine Meinung zu sagen. Ein Zustand, der in nicht allzu ferner Vergangenheit vorherrschte. Vorerst nahmen die Menschen den Kommunismus nicht so ernst, da er sich ja als human und arbeiterklassenfreundlich darstellte.
Die Vorläufer des 17. Juni
„Natürlich gab es Gespräche auf den Baustellen, wegen der Normen und wegen der schlechten Verhältnisse. Wir hatten eine Mangelwirtschaft. Dass das Regime von Einzelnen angegriffen wurde, das war damals nicht so. Durch diese Normenfrage haben sich am 16. Juni (1953) so 150-200 Arbeiter, zu denen ich gehörte, zusammengefunden und demonstriert“, so Plöckinger.
Die SED hatte nach Kürzungen im sozialen Bereich und einer Preiserhöhung von Lebensmitteln die Normen um 10% erhöht. Die Arbeitergruppe rund um den Bauarbeiter Manfred Plöckinger lehnte die vom Politbüro geforderte Anhebung der Produktivität zu Gunsten der Bevölkerung des Landes ab. Sie sahen, dass der Westberliner sich gut kleiden konnte und wohlriechende amerikanische Zigarette rauchte, während der Ostberliner in seinen zerknitterten Sonntagshosen meistens in den Ostberliner Tanzlokalen mit weniger Erfolg auftrat. Am Prenzlauer Berg beispielsweise, Plöckingers Wohnort, bildeten sich Subkulturen, die ihren Unmut lauter äußerten. Man brandmarkte sie als Provokateure.
Am 16. Juni fragte ihn ein Kollege von der Baustelle: „Manfred, du kommst doch auch mit?“ Mit einem „Ja klar!“ stürzte er sich hinein in den breiten Enthusiasmus der kleinen Revolte. Zwischen 16.00 und 17.00 Uhr befand er sich auf der Friedrichstrasse in einem Meer von aufgebrachten und schimpfenden Mitbürgern, die sich alle lauthals immer wieder die selbe Frage stellten: „Warum müssen wir anders leben als die im Westen? Wir haben doch alle den Krieg verloren!“
Die SED hatte einen Gegendemonstrationszug organisiert. Laut Plöckinger zählte dieser aber nur noch ein Drittel seiner anfänglichen Stärke, nachdem er „Unter den Linden“ den Zug der Demonstranten kreuzte. Viele beobachtende Volkspolizisten warfen ihre Jacken demonstrativ weg und schlossen sich unter großem Applaus der Masse an. Gegen Abend hörte Plöckinger das erstemal von einem Treffen am nächsten Tag um fünf auf dem Strausberger Platz in Verbindung mit dem Wort „Generalstreik“. Von einem unbekannten Glücksgefühl beseelt, ging er durch leere Straßen nach Hause. Der jetzt Volljährige spürte etwas Großes kommen.
Popstars und Träume
In der Tat verbreitete sich die Nachricht vom geplanten Generalstreik, wie sich heute die Kunde nach dem Kommen eines Popstars verbreitet. Die Nachricht ging wie ein Lauffeuer um. Was träumten die Menschen in Ostdeutschland in der Nacht vom 16. auf den 17. Juni?
Mit der Wetterlage entsprechenden gemischten Gefühlen zog Plöckinger mit seinen Arbeitskollegen vom Alexanderplatz in Richtung Regierungsviertel. Mannschaftswagen fuhren durch die Menge. Die Atmosphäre der Gewalt, die von den allmählich auftretenden Sicherheitskräften der Regierung ausging, sprang auf die Reihen der Demonstranten über.
Das Phänomen der Masse kam vollends zum Tragen. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde vom Tod eines jungen Mannes, der bei der Humboldt Universität unter die Ketten eines Russenpanzers geraten war. Plöckinger selbst war noch beim Alexanderplatz, als er schon davon hört.
Plöckinger: „Wissen Sie, das ist so: Der Kopf kocht und dann kommt dieses kleine bisschen dazu, und dann kocht er über. Genauso hat es sich entwickelt. Bis 1953 hat sich niemand groß getraut, den Mund aufzumachen. Dann sagten alle auf einmal: ‚Mensch, da tut sich doch was.’“
Emotionen in der Masse
Der Alltagsfrust über die wachsende Kluft zwischen West- und Ostberlin brauchte ein Ventil. Manfred Plöckinger, der übrigens die Version von Erich Loest zurückweist, die besagt, dass westliche Spitzel die Masse aufputschten, lief an diesem Tag auch mit beschwingtem Glücksgefühl die „Straße unseres nationalen Schicksals“, Unter den Linden, hinunter. Das Gefühl der Unsicherheit vom Vorabend hatte sich gelöst und in einen gesteigerten extrovertierten Freudentaumel gewandelt. Er und seine Kollegen von der Stalinallee ließen sich mitreißen von der Menge, die Fahne der Bundesrepublik schwingend und die Nationalhymne singend. Doch sie sangen immer nur die erste Strophe, weil noch keiner die Dritte auswendig konnte.
Der Kommunismus verstummt
„Wir fordern freie und geheime Wahlen!“ schrie einer und es hallte aus allen Mündern wieder. Auch nicht die von den Seitenstraßen her kommenden Panzer der Roten Armee konnten die nun tobende Masse von ihrem wilden Tanz für die Wiedervereinigung von Ost und West und dem ausdrücklichen Wunsch auf ein schnelles Ende des kommunistischen Terrors abhalten. Zu tief saß unter anderem auch der Eindruck des getöteten jungen Mannes bei der Humboldt Universität, an dem auch Plöckinger vorbeischritt. Die Blutlache des Jugendlichen war nur notdürftig mit Sand bedeckt.
„Ich hatte gegen die Leute in den Uniformen nichts einzuwenden. Nur das System habe ich kennen gelernt, als Berlin von der Roten Armee eingenommen worden ist,“ wiederholt Plöckinger mir gegenüber eindringlich.
Natürlich war die Propaganda der scheinbar reumütigen Regierung Hohn angesichts des von Panzern überrollten Jungen bei der Humboldt Universität. In diesem Falle nahm die Heuchelei aber ein sehr schnelles Ende. Ein Kollege von Manfred Plöckinger, der neben ihm stand, fragte ihn, ob er bereit wäre, die an die Masten verknoteten Lautsprecher abzulösen. Jeder der beiden übernahm einen Mast. Der Mann schien einige Kenntnis von Technik zu haben, denn im Augenblick, in dem sie die Schleifen der Verknotung der Lautsprecher an den Masten lösten, verstummte die propagandistische Stimme. Die Aufständischen zogen weiter!
Das Foto
Das Motorengeheule der Panzer intensivierte sich, und in zügigem Tempo wurden die Demonstranten in Richtung Brandenburger Tor getrieben. Diese Zickzack fahrenden Bolliden, die mitten in die Menge hineinfuhren, lösten eine große Panik aus. Den Menschen blieb keine andere Möglichkeit mehr, als die der symbolischen Flucht durch das Wahrzeichen Berlins in den Westen.

Manfred Plöckinger auf dem historischen Foto (Kreis)
Genau in diesem Moment, da sie fahnenschwenkend, singend und tanzend hindurch kamen, wurde auf den Auslöser gedrückt und das Foto gemacht, das wohl das bedeutendste im Zusammenhang mit dem 17. Juni werden sollte. Das besondere an dieser Momentaufnahme ist, dass man kein einziges russisches Militärfahrzeug sieht. Eine Analogie zum 9. November 1989. Ich glaube, dies ist auch der Grund, warum der 17. Juni 1953 bis heute noch ein so markantes Datum ist und warum er als einer der großen Auslösungsfaktoren für den weiteren Widerstand gegen den Kommunismus stalinistischer Prägung gilt.
Die Rote Fahne fällt
Auf der anderen Seite des Tores bewunderte die Spitze des Zuges, zu der Manfred Plöckinger gehörte, wie der 23jährige LKW-Fahrer Horst Ballenthin unter Beschuss auf das Tor kletterte, die Rote Fahne herunterholte und unter tosendem Applaus in die Menge warf . Unten zerriss man sie mit großer Genugtuung und feierte Ballenthin als Helden des Tages.
In Westberlin gelangten Plöckinger und viele andere Demonstranten in ein Auffanglager in einer Hinterhoffabrik in der Spänerstraße in Moabit. Dort mussten sie auf Strohsäcken schlafen, auch die sanitären Anlagen waren notdürftigst. Doch an diesem Ort war es, dass ein Mitstreiter ihm die Zeitung in die Hand drückte, auf der jenes große Titelfoto der Helden des 17. Juni abgedruckt war, die gerade durch das Brandenburger Tor marschierten. Zwar war Plöckinger nur im Hintergrund auf diesem Foto zu sehen, doch immer noch erkennbar.
Das Foto sollte ein zentrales Bild zum 17. Juni werden und mehr noch, ein Symbol für den Freiheitskampf des deutschen Volkes. Immer wieder wurde es das Leitbild zu Zeitungsartikeln. Manfred Plöckinger bezahlte allerdings seine Präsenz auf dem Bild sehr bitter.
Er kam nach 10 Tagen zurück an den Prenzlauer Berg, um wieder auf einer richtigen Matratze schlafen zu können. Plöckinger lebte sich wieder in seinen Alltag ein. Ulbricht und Genossen versuchten zu besänftigen, während die Emigrationszahlen aus den östliche Sektoren stiegen.
Jeden Mittwoch ging Plöckinger zu einem Schachabend, an dem er lange Partien gegen einen Freund spielte. Diesem Freund zeigte er auch mit ein wenig Stolz das Foto vom 17. Juni unter dem Brandenburger Tor. Dies war der Anfang der Katastrophe, denn wenig später stand sein Schachrivale mit seinen Arbeitskollegen von der Stasi vor Plöckingers Tür. Sie verhafteten ihn und brachten ihn zum Polizeipräsidium, wo man ihn bis zum Prozess, der in einem Eilverfahren ablief, festhielt.
Gefangen
Über die folgende Geschichte spricht Plöckinger nicht gerne. Vom April 1954 bis zum April 1956 verbüßte Plöckinger eine Haftstrafe wegen der Beteiligung am Arbeiteraufstand des 17. Juni. Als der Zug für ihn einfuhr, um ihn in ein Arbeitslager zu transportieren, zeigte keine gelbe Digitaltafel an, wohin es denn gehe. Und das Einzige, was er durch das Fenster seiner Waggonzelle erkennen konnte, war ein Bahnhofsschild: „Vogelsang“.
Gegen Ende September 1955 wurde er zusammen mit anderen Gefangenen in den „Grotewohl Express“ gesteckt. Den Namen bekam der Zug vom Portrait des damaligen DDR- Ministerpräsidenten, das am Ende eines jeden Waggonflures hing. Die Provokateure und Staatsfeinde wurden in Hundezwingergroße Kabinen geworfen. Man gab ihnen zwei Scheiben Brot mit Fett und etwas Wurst. Durch schmale Luftritzen schimmerte hinein, was vom Tageslicht übrig blieb.
Übernachten mussten die Häftlinge im Gefängnis Frankfurt/Oder. Plöckinger: „Unwürdig“. Der ganze Transport erinnert wohl nicht umsonst an die Beschreibungen der Züge nach Dachau, Bergen-Belsen, Auschwitz und wie die Orte des Schreckens noch alle hießen.
Die Resozialisierung/ Häftlingslager ‚Vogelsang’
Die Reise endete vor ein paar Baracken. Sie mussten sich in Reih und Glied aufstellen, noch einmal wurden ihre Namen aufgerufen. Dann führte man sie durch das Tor, und Manfred Plöckinger erblickte ein viereckiges Areal, das mit Stacheldraht umzäunt war und das durch einen Mittelgang in zwei Teile unterteilt war. An den vier Ecken des Geländes standen Wachtürme, im Zentrum des Mittelganges erhöht ein kleiner Steinbau, den man nur über einige Stufen erreichen konnte: Das Offiziers- und Wachtmeisterbüro. Auf beiden Seiten dieses Steingebildes standen Baracken. Wenn man sich das Bild vor Augen führt, wird einem schlecht. Nicht zuletzt deswegen, weil dieser Aufbau so haargenau dem eines KZs gleicht.
Die Häftlinge trugen alte gestreifte Uniformen, zu denen eine Mütze ohne Schirm gehörte, die Plöckinger als lächerlich beschreibt. Die Aufsicht in den Baracken hatte jeweils ein Häftling ‚mit Schirm’ und Armbinde, der ‚Barackenälteste’. Dieser besaß das Recht, die Zigaretten zu deponieren, die sich die Häftlinge verdienten. Ferner wurde Geld verdient, mit dem man sich Zusatznahrung und sechs Zigaretten pro Tag kaufen konnte. Plöckingers Barackenältester Mallagoudera und weitere Funktionäre betraten des öfteren die engen Stuben, in denen jeweils sechs Häftlinge in drei Hochbetten untergebracht waren. Sie rissen willkürlich die kleinen Metallspinde auf und warfen die Habe der Häftlinge mit der Bemerkung: „Schlamperei“ zu Boden. Plöckinger widersetzte sich und warnte Mallagoudera, nicht das selbe mit seinen Sachen zu machen. Es sollte nicht das letzte unfriedsame Aufeinandertreffen der beiden gewesen sein. Eines Tages, nach einem Konflikt, rief man Plöckinger in den Steinbau zum wachhabenden Offizier. Da er mit einem „Guten Abend“ und mit der Frage „Sie wollen mich sprechen?“ den Raum betrat, ohne vorher anzuklopfen und ohne Meldung zu machen, empfing ihn nur wütendes Geschrei. Drei Männer wurden gerufen, die ihn gewaltsam hundert Meter in Richtung Bahnhof Vogelsang zerrten, wo eine gerade fertiggestellte, umzäunte Zweizellenhütte stand. Man zwang ihn, sich zu entkleiden und sperrte ihn in eine der beiden Hütten. Es war bereits Oktober, die Wände waren feucht.
„Es war entwürdigend bis zum Letzten. Wenn man sich ein wenig die Würde behielt, sei es auch nur durch Gestik, wurde man gleich in Dunkelarrest gesperrt“, sagt mir Plöckinger. Über seine gesamte Haftzeit zusammengerechnet war er ca. drei Monate in Dunkelarrest.
Am nächsten Morgen um 6 Uhr betraten drei Offiziere die Zelle und forderten ihn auf, sich endlich als sozialistischer Mitbürger zu resozialisieren. Plöckinger forderte jedoch nur einen Arzt und einen Staatsanwalt. Er wurde zu einem sogenannten Arzt geführt. Dieser befand, dass der Häftling gutes Essen brauche und schickte ihn zurück in die Zelle. Immerhin durfte Plöckinger nun 20 bis 30 Minuten am Tag unter Bewachung eines Volkspolizisten ‚Gassi gehen’. Als am 20. April 1956 seine Haft regulär endete, war ihm der Hafttag durch Normerfüllung nicht vergütet worden.
„Der erste Hochofen in Stalinstadt und die ersten Infrastrukturen dort sind von Häftlingen, auch von politischen Häftlingen, zwangserrichtet worden. Der Zwang ergab sich aus dem Versprechen von Haftverkürzungen und besserer Verpflegung, aus entwürdigender Disziplinierung wie Gleichschritt, Strammstehen, totaler Unterordnung und der Befehlsgewalt von Häftlingsfunktionären“, so resümiert Plöckinger heute.
Mit Tbc und Zuckerkrank in der Freiheit
Nach dem Ende seiner Haft war Manfred Plöckinger ein gezeichneter Mann. Er hatte eine offene Tuberkulose, zu der später eine schwere Diabetes hinzukam. Mit letzter Kraft schleppte er sich in den westlichen Sektor von Berlin. Jahrelang durfte er dort wegen der Tbc nicht offiziell arbeiten. Um sich trotzdem über dem Existenzminimum zu halten, jobbte er als LKW-Fahrer. Seinen kritischen Geist behielt er aber und griff (nach dem Mauerbau am 13.08.1961) jedes Mal den Berliner Senat an, wenn es zu Ermordungen von Flüchtlingen an der Mauer kam.
Als es einen erschossenen Flüchtling am Teltow Kanal gab, ohne dass die Westberliner Polizei eingriff, warf er dem damaligen Westberliner Bürgermeister Albertz Versagen vor. Man entzog ihm in der Folge „plötzlich“ mit der Begründung den LKW Führerschein, seine Diabetes würde es ihm nicht erlauben, zu fahren. Wie Plöckinger mir berichtete, tat er es trotzdem und setzte sogar die Polizei davon in Kenntnis. Man schwieg dazu. Ebenso plötzlich erhielt Plöckinger die Fahrerlaubnis nach zehn Jahren ohne nähere Begründung zurück.
Anfang der siebziger Jahre wurde Plöckinger nach dem Besuch einer Fachschule Versicherungsfachwirt und später sogar Versicherungsdirektor. Er heiratete und seine Frau gebar ihm zwei Kindern. Als die Versicherung, für die er arbeitete, aufgekauft wurde, lehnte man eine Übernahme mit Bezug auf seine Diabeteserkrankung ab. Er stand auf der Straße.
Roman Herzog: Verfassungsbeschwerde berechtigt, aber…
Seitdem prozessiert er erfolglos um die Anerkennung der Diabetes als Folge eines Haftschadens. Ihm ist bis zu seinem Tod jede Entschädigung versagt geblieben. Einmal fällten sie im Bundessozialgericht ein Urteil, ohne ihn vorher anzuhören. Plöckinger klagte daraufhin beim Bundesverfassungsgericht sein Grundrecht auf rechtliches Gehör ein. Sein Freund Carl-Wolfgang Holzapfel erzählte mir, dass Roman Herzog als eine seiner letzten Amtshandlungen folgende Entscheidung unterschrieb:
„Ihre Verfassungsbeschwerde ist berechtigt. Sie kann gleichwohl nicht zur Entscheidung angenommen werden, weil Sie es versäumt haben, in ihrer Verfassungsbeschwerde deutlich zu machen was sie denn vorgetragen hätten, wenn man ihnen rechtliches Gehör eingeräumt hätte.“
Plöckinger wurde verbittert, zeichnete sich der Kampf gegen die Bürokratie des westlichen Staates, den er sich in den langen Nächten im Dunkelarrest als so paradiesisch vorgestellt hatte, als ein Kampf gegen Windmühlen ab.
Die Vereinigung 17. Juni 1953
Plöckinger begründete mit einigen Weggefährten die Vereinigung 17. Juni 1953, die am 3. Oktober 1957 als Verein eingetragen wurde. „In Anbetracht der Tatsache, dass der 3. Oktober faktisch den 17. Juni abgelöst hat, schreibt das Leben doch immer wieder die besten Geschichten“, sagt mir Carl-Wolfgang Holzapfel, Pressesprecher und seinerzeit 2. Vorsitzender der Vereinigung. Die Vereinigung, deren jahrzehntelanger 1. Vorsitzender Manfred Plöckinger war, hatte noch lange politische Brisanz, denn sie wirkte sehr aktiv an der kritischen Bewegung gegen die DDR in Westberlin mit und setzte oft die Westberliner Regierung unter Druck. Aus den Stasi-Dokumenten, die der Vereinigung später aus dem Archiv zugänglich wurden, geht sogar hervor, dass es konkrete Überlegungen gab, die Stammkneipe, in der sich die Mitglieder regelmäßig trafen, in die Luft zu sprengen. Wegen ihrer eindeutigen Position gerieten sie oftmals zwischen die Fronten. Noch nach der Deutschen Einheit stellte es sich heraus, dass es in der Vereinigung Doppelagenten gab, die für die westliche und die östliche Seite spionierten. Einer von ihnen war ein Plöckinger-Biograph, der sogar schon ein komplettes Buchskript verfasst hatte, als seine wahre Identität ans Tageslicht kam.
Die Ziele der ‚Vereinigung 17. Juni 1953’ heute sind, die Ereignisse des 16. und 17. Juni 1953 im öffentlichen Bewusstsein zu halten, sie als ein herausragendes geschichtliches Datum zu etablieren und die dafür zuständigen Institutionen dahin zu bewegen, den 17. Juni wieder als nationalen Gedenktag anzuerkennen. Ebenso steht die immerwährende Ehrung der Opfer des 17. Juni, auf sowjetischer und deutscher Seite im Vordergrund, wie die Erhellung noch unbekannter Schicksale.
Das Erbe Manfred Plöckingers
Weihnachten 1989 verbrachte Manfred Plöckinger, seit vielen Jahren in Bayern wohnhaft, in Berlin. Erstmals konnte er wieder die Strassen seiner Kindheit entlanggehen. „Davon hatte ich Jahrzehnte lang geträumt“, berichtet er.
Hartnäckig kritisierte er, hinterfragte er. In der DDR hatte er sich nicht den Mund verbieten lassen, er tat es auch in Westdeutschland nicht. Man kann ihm vorwerfen, ein Don Quijote gewesen zu sein. Doch konnte man nicht genauso diesen Kritikern vorwerfen, den Traum von Einigkeit, Recht und Freiheit nicht geträumt zu haben?
Zu schnell vergessen wir den großen Kampf, der 1953 angefangen hat und dessen Träume 1990 Wirklichkeit wurden. Zu schnell wenden wir uns von den Idealisten ab, um über sinnlosen Streitereien und politischem Kalkül die große Traglast unseres gesamtdeutschen Erbes zu verdecken.
Wir dürfen es nicht zulassen, dass Manfred Plöckinger auch nur eine Minute umsonst in seinem dunklen Verlies frieren musste. Wir sind ‚ein Volk’ und müssen begreifen, dass jetzt die Zeit gekommen ist, um ein neues Kapitel in der deutschen Geschichte aufzuschlagen. Die Zeit der totalitären Herrschaft ist vorbei, und wir haben gelernt. Die heutige Generation darf nicht mehr mit den Erbschulden gebrandmarkt werden. Dank Manfred Plöckinger kann man uns nicht generalisieren. Das muss uns Luft zum Atmen geben.
Luft, die wir brauchen, um auf dem erwähnten Grundstein ein Haus zu bauen. Ein Haus, in dem eine neue Generation von Deutschen wohnt, die nicht den Krieg und die Unterdrückung erlebt hat und trotzdem das Gut der Freiheit zu schätzen weiß und die Kämpfer für jene Freiheit würdigt.
Wir dürfen es nicht dazu kommen lassen, dass diese Menschen, die für die Freiheit unseres Vaterlandes aufgestanden sind, verbittern. Vielmehr sollten wir uns für sie einsetzen und ihnen nicht nur am 17. Juni aufrichtig und ehrlich dankbar sein.
Nachwort
Knapp drei Wochen nach unserem zweiten ausgiebigen Telefonat im November erlitt Manfred Plöckinger einen weiteren schweren Herzinfarkt. Erst als ich aus meinen Weihnachtsferien mit geschriebener Arbeit wiederkehrte, erfuhr ich von seinem Tode am 19. Dezember 2002. Er wurde vorerst in Bayern beigesetzt.
Ich wollte an dieser Stelle Manfred Plöckinger, der niemals materiell für seinen Kampf entschädigt worden ist, für das Bundesverdienstkreuz vorschlagen, um ihm eine staatliche Würdigung zuteil werden zu lassen. Leider kann ihm diese Anerkennung nicht mehr in dieser Form gewährt werden. Ich bin trotzdem zuversichtlich, dass Manfred Plöckinger seine Gerechtigkeit, die ihm zeitlebens nicht vergönnt war, bekommen wird. Indem wir uns als junge Generation mit ihren Schicksalen auseinandersetzen, geraten Manfred Plöckinger und seine Mitstreiter nicht in Vergessenheit.
Es ist unsere Verantwortung ihnen ein Denkmal zu setzten. Carola Plöckinger sagte mir, dass ihr Mann vielleicht eines Tages vom Himmel herunterschaut und von dort oben sehen könnte, dass langsam die alten Narben des deutschen Volkes verheilen und wir mit der Geschichte Auge in Auge treten können. Ich denke, ihm würde diese Entwicklung mehr bedeuten als jedes Verdienstkreuz.
Durch diese Arbeit, an die ich mehr aus Zufall als durch wissenschaftliches Kalkül geraten bin, habe ich einen tiefen Einblick in diesen Abschnitt der Geschichte unseres Landes bekommen. Viele Menschen haben mich positiv unterstützt und in schwierigen Phasen motiviert, besonders hervorheben möchte ich Manfred Plöckinger, Carl-Wolfgang Holzapfel, Carola Plöckinger, Frau Bomhoss vom Ullstein Bilderservice, meine Eltern, sowie meine Großmutter Dr. Grete Schmidt. Ich bin nicht nur einer spannenden Biografie, sondern auch meiner Identität als Deutscher ein Stück näher gekommen.
Speziell in Erinnerung an Manfred Plöckinger möchte ich diesem den vorliegenden Text aus Wilhelm Tell von Friedrich Schiller widmen:
„Eine Grenze hat Tyrannenmacht:
Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,
wenn unerträglich wird die Last,
greift er hinauf getrosten Mutes in den Himmel
und holt herunter seine ew’gen Rechte,
die dort droben hangen unveräußerlich
und unzerbrechlich wie die Sterne selbst.“
** Johannes Reck beteiligte sich am Schul-Wettbewerb der Körber-Stiftung, der 2003 den „17.Juni 1953“ zum Thema hatte. Reck stellte seine Arbeit der Vereinigung 17. Juni zur Veröffentlichung für die Schrift zum 50. Jahrestag „Den Helden der Menschlichkeit“ zur Verfügung.
V.i.S.d.P.: Vereinigung 17. Juni 1953 e.V., Berlin – Mobil: 0176-48061953 (1.713)
Von Carl-Wolfgang Holzapfel*
Berlin, 26.11.2021/cw – Es war ein kalter Novembertag – vor sechzig Jahren: Die JUNGE UNION, deren Mitglied ich wenige Monate zuvor in Hamburg geworden war, hatte in Berlin am 21.11.1961 zu einer Demonstration aufgerufen: „Die Jugend protestiert gegen die Mauer“. Nach meiner spontanen Rückkehr aus Hamburg Ende August – nach dem Bau der Mauer am 13. August 1961 hielt mich auch das gerade begonnene Lehrverhältnis als Einzelhandelskaufmann nicht mehr in der Hansestadt – war dies meine erste aktive Teilnahme an einer Demonstration gegen die Mauer. Es sollte der Beginn einer 60jährigen politischen Aktivität sein. Grund genug , mich nach sechs Jahrzehnten dem Ruhestand zuzuwenden.
Rückblickend war dies die erste Schulung im demokratischen Widerspruch, die erste Erfahrung mit dem Begriff „Widerstand“. Der Zug bewegte sich – nach meiner Erinnerung – vom Wittenberg- über den Ernst-Reuter- zum Theodor-Heuss-Platz. Dort waren auf einem Stein die Worte unübersehbar zu lesen: „EINIGKEIT – RECHT – FREIHEIT“. Auf diesem Stein stand eine Schale, aus der eine „Ewige Flamme“ loderte.

Warum ziehen wir nicht an die Mauer?
Schon auf dem Weg wagte ich, laut meinen Protest zu formulieren: „Warum ziehen wir nicht an die Mauer? Was soll der Weg durch Straßen, die keine Mauer versperrt?“ Ein Ordner ermahnte mich, die Leute nicht aufzuwiegeln, es ginge hier um eine ernste Sache.
Am Zielort angekommen – ich erinnerte mich an meine Kinderzeit, als hier allwöchentlich Britische Soldaten aufmarschierten und wir am Rande der Show um Kaugummi bettelten („Have you a gum?“) – sprach zunächst Jürgen Wohlrabe, ein späterer Freund, und dann Ernst Lemmer, der allseits anerkannte Minister für Gesamtdeutsche Fragen. Lemmers Rede war anklagend, ganz im Tenor der Empörung über die Aktion „Antifaschistischer Schutzwall“, als den das „Pankower Regime“ den Bau der Mauer bezeichnete.
Diese Demonstration ist nicht angemeldet
Nach dem Absingen der Nationalhymne und der obligatorischen Feststellung durch den Veranstalter „Die Kundgebung ist beendet“ blieben die Demonstranten stehen, als erwarteten sie eine weitere Aktion. „Wir Auf zur Mauer! Auf zur Mauer!“ Überraschend setzte sich dieser Ruf rasend schnell unter den Demonstranten fort. Bald klang es aus hunderten Kehlen: „Auf zur Mauer!“ Nur: Keiner bewegte sich.
Wieder wurde diese Klassenkameradin zu meiner ersten Lehrmeisterin, als sie bemerkte: „Wenn Ihr nicht lost zieht, bleibt hier alles stehen.“ Dankbar nahm ich diese Anregung auf und setzte mich mit lauten Rufen in Richtung Ernst-Reuter-Platz in Bewegung. Tatsächlich folgten immer mehr Teilnehmer dem Aufruf, zunächst noch zögerlich.
Bereits auf dem Kaiserdamm hörten wir die ersten Sirenen von Polizeiwagen und auch die ersten Durchsagen: „Achtung, Achtung, hier spricht die Polizei. Diese Demonstration ist nicht angemeldet. Bitte verlassen Sie die Fahrbahn und gehen Sie nach Hause!“müssten aufrufen, zur Mauer zu marschieren,“ sagte ich zu ein paar jungen Leuten, unter diesen eine ehemalige Klassenkameradin vom Gymnasium in Zehlendorf. „Da müsst Ihr wohl anfangen, sonst bewegt sich da nichts,“ erwiderte die Kameradin mutig. Also rief ich „
Auf dem Ernst-Reuter-Platz angekommen bemerkten wir, daß die „Straße des 17. Juni“, also der direkte Weg zur Mauer vor dem Brandenburger Tor, abgesperrt war. Darauf reagierten wir Demonstranten mit einem Sitzstreik auf den Fahrbahnen rund um die dortige Mittel-Insel. Nach mehreren erfolglosen Ermahnungen der Polizei, die „illegale Demonstration“ sofort abzubrechen, weil man sich sonst „polizeilichen Maßnahmen“ aussetzen würde, hieß es plötzlich „Knüppel frei“, und die eingesetzten Beamten schlugen mit Gummiknüppeln auf uns sitzende Jugendliche ein. Ich sprang auf und rannte in die Hardenbergstraße in Richtung Bahnhof Zoo.
Dort ziemlich atemlos angekommen, verabredete ich mich mit einigen Versprengten zu einer Fortsetzung unseres Protestes am berühmt gewordenen Checkpoint Charlie in der Friedrichstraße. Nachdem ich noch angewidert beobachtet hatte, wie ein offenbar enthemmter Polizist auf einen jungen Mann grundlos und brutal mit seinem Gummiknüppel einschlug, der infolge mit blutender Kopfwunde zusammenbrach, eilte ich zur U-Bahn.
Große Worte und reale Wirklichkeit
In der Kochstraße angekommen, war ein Gang zum Checkpoint gar nicht möglich. Mit lautem „Tatütata“ fuhren mehrere Mannschaftswagen des Typs HANOMAG auf. Kaum waren die Klappen gefallen, sprangen Polizeibeamte herunter und knüppelten auf gebildete Gruppen von Demonstranten ein. Mir ist dieser Tag unvergesslich als Widerspruch zwischen „Großen Worten“ („Die Mauer muß weg“) und realer Wirklichkeit. Man kann auch einfach sagen: An diesem Tag vor sechzig Jahren habe ich meine politische Unschuld verloren.
Dieser bitteren und realen Erkenntnis folgte die zunächst verzweifelte Suche nach vertretbaren Formen des Widerstandes gegen neuerliches Unrecht, wie dieses sich in der Mauer manifestierte. Schon bald entschloss ich mich zum „Gewaltlosen Widerstand“ nach Mahatma Gandhi. Dabei half mir ein kleiner, unscheinbar wirkender Mann aus Indien: T. N. Zutshi. Er war erstmals nach dem Ungarn-Aufstand 1956 nach Europa gekommen, um uns in Europa im Kampf gegen die Rote Diktatur die Methoden Gandhis zu vermitteln. Legendär sein damaliger Fußmarsch (1960) über hunderte Kilometer von München an die „Brücke von Andau“, über die viele Ungarn nach dem Zusammenbruch des Aufstandes nach Österreich geflüchtet waren.
Nach dem Mauerbau wollte Zutshi in Berlin diesen Kampf fortsetzen, uns vermitteln: „Der erste Schritt zur Freiheit – Legt Eure Furcht ab und sprecht die Wahrheit.“ 1964 verließ uns der mutige Inder. Von diversen Behördenschikanen und Androhungen bedrängt, ihn als unerwünschten Ausländer abzuschieben, kehrte Zutshi nach Indien (Benares) zurück, wo sich seine Spur verlor. Berlin hat diesem tapferen und uneigennützigen Ingenieur aus Nehrus Indien bis heute keine Erinnerung gewidmet. Aber das ist ein anderes Kapitel.
Mir blieb der gewaltlose Widerstand gegen bestehendes Unrecht. So forderten mein Freund Dieter Wycisk und ich anlässlich eines Hungerstreiks am zuvor aufgestellten Mahnkreuz für den am 25.12.1963 ermordeten Paul Schulz (Thomaskirche/Mariannenplatz) bereits plakativ die UNO zum Handeln auf: „Wir brauchen die TAT!“

Nach 60 Jahren Widmung der Familie
Für mich ist es Zeit, mich nach sechzig engagierten Jahren der nachdenklichen Rückschau zu widmen und die verbleibenden, vermutlich wenigen Jahre meiner lieben Frau, meiner Familie und den verbliebenen Freunden, von denen viel zu Viele schon diese Erde verlassen haben, zu widmen. Meinen Pflichten für die Vereinigung 17. Juni, der ich seit 1963 angehöre und deren Vorsitzender ich seit 2002 bin, werde ich – wie den bereits begonnenen und noch nicht abgeschlossenen Initiativen (z.B. für das stiefmütterlich behandelte originäre Denkmal an den 17. Juni 1953 in Berlin-Zehlendorf) – selbstver- ständlich und so gut ich es vermag nachkommen. Schon jetzt bitte ich um Nachsicht, wenn dies nach sechzig kraftzehrenden Jahren nicht mehr so, wie gewohnt, erfolgt oder erfolgen kann.
Time to say goodbye
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* CWH wurde als „Mauerdemonstrant“ bekannt.
V.i.S.d.P.: Redaktion Hoheneck, Berlin – Mobil: 0176-48061953 (1.683).
Leipzig/Berlin, 10.09.2019/cw – Vor zwei Tagen, am 8.September, wäre er 110 Jahre alt geworden: Die DDR-Fußballlegende Alfred Kunze ((* 08.09.1909 Leipzig; † 19.07.1996 Leipzig). Sein wohl größter Triumph war wohl die sensationelle, weil unerwartete Erringung der DDR-Meisterschaft anno 1964 mit Chemie Leipzig oder „mit dem Rest von Leipzig“, wie es die Leipziger Zeitung in ihrer Laudatio zum 110. beschrieb. Seither war sein Konterfei auf zahllosen Fahnen, Transparenten und Aufklebern zu sehen.
1966 gelang ihm ein weiterer Coup: Mit seinem Chemie Leipzig gewann Kunze am 30. April durch einen 1:0-Sieg über Lok Stendal den DDR-Fußballpokal. Durch seine Erfolge wurde die Sport-Ikone auch über die DDR-Grenzen hinaus bekannt. Der TUS Bremerhaven und sogar Tunesien boten Kunze Verträge an, die er jedoch aus den bekannten politischen Gründen nicht annehmen konnte. Nachdem sein Club in der Saison 1966/67 nur den 12. Platz in der Oberliga erreichte, legte Kunze sein Traineramt nieder.
Der Kritiker am Umgang mit dem Volksaufstand
Weniger bekannt wurde aus nachvollziehbaren Gründen Kunzes Kritik am Umgang mit dem Volksaufstand vom 17.Juni 1953. Auch der Eintrag auf WIKIPEDIA enthält diesen wichtigen Vorgang nicht. Während einer Tagung des Trainerrates 1954 hatte er sich sehr offen und kritisch über den 17. Juni 1953 und das politische Klima in der DDR geäußert. Der an der Sporthochschule DHfK tätige Kunze wurde „nur“ entlassen, während andere für so ein Delikt zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt worden waren. Nach seinen Äußerungen hatte die Kaderleitung der DHfK am 4. Februar 1954 geschrieben: „Die im Trainerrat von Alfred Kunze gemachten Äußerungen sind staatsfeindlich und stehen im Widerspruch zu seiner Anstellung bei der DHfK.“ Damit war die Entlassung besiegelt, obwohl Kunze, der in einem SPD-Haushalt aufgewachsen und selbst stark im Arbeitersport engagiert war, zu den Größen der DDR-Trainerzunft zählte. Er war noch vor der Anerkennung der DDR als Mitgliedsstaat der FIFA Trainer der DDR-Auswahl, die er in mehreren inoffiziellen Spielen betreute.
Dies schützte ihn wohl vor weitergehenden Konsequenzen. Er durfte weiter als Trainer, u.a. bei BSG Chemie und danach den neugebildeten SC Lok arbeiten. Nur ein Jahr dauerte es allerdings bis zum nächsten großen Bruch. „Mangelnde politische Erziehung“ und große Unruhe in der Mannschaft, von der viele Spieler den Club verlassen wollten, bewirkten die erneute Entlassung Kunzes und des Starstürmers Rudi Krause. Beide wechselten nach Weimar und brachten die Mannschaft von der dritten in die zweite Liga. Nach einem Jahr bei Wissenschaft Halle kam Kunze zurück zum SC Lok und blieb dort bis zur berühmt gewordenen Meisterschaft.
Bis zu seinem Ruhestand 1976 setzte der DDR-Fußballverband Kunze als Dozent im Wissenschaftlichen Zentrum des DFV ein. Neben seiner Lehrtätigkeit veröffentlichte Kunze 1977 das Lehrbuch „Fußball“, erarbeitete Lehr- und Ausbildungsprogramme und fungierte in Vorbereitung auf die Fußball-Weltmeisterschaft 1974 als Beobachter für die DDR-Nationalmannschaft.
Höchste Ehre: Ein Stadion trägt seinen Namen
Kunze wurde immer wieder als großartiger Psychologe beschrieben, er habe „durch fachliche Kompetenz und viele Neuerungen im Spielsystem“ geglänzt. Seine Bescheidenheit und Menschlichkeit wurde allseits anerkannt. Sein Motivationsspruch „Wer nicht alles gibt, gibt nichts“ lebt fort im Leutzscher Holz, ist quasi Gesetz im zeitgenössischen Vereinsleben.
Als das Stadion in Leutzsch noch zu seinen Lebzeiten seinen Namen erhielt, konnte es der Namensgeber kaum fassen. „Zu viel der Ehre“, meinte er, konnte es aber mit Stolz annehmen.
Der einstige Fußball-Heroe der DDR begann bereits 1926 seine Fußballkarriere beim Arbeitersportverein VfL Südost Leipzig. 24-jährig musste er 1933 den Verein wechseln, da die Nationalsozialisten die Arbeitersportvereine verboten hatten. Zusammen mit seinem Bruder ging Kunze zu Wacker Leipzig. Nach einem komplizierten Beinbruch mußte er 1938 seine aktive Laufbahn beenden. Zwei Jahre lang war er nach einem zwischen 1929 und 1933 absolviertem Lehrerstudium als Volksschullehrer tätig. Als Trainer kehrte er ab 1940 bis zu seiner Einberufung zur Wehrmacht (1941) zu seinem alten Verein Wacker Leipzig zurück.
Warum Kunze als Abkömmling einer SPD-Familie von 1937 bis 1945 Mitglied der NSDAP war und es im Krieg zum Inspekteur bei der Wehrmacht brachte, gehört zu den ungeklärten Rätseln einer beachtlichen Sport-Karriere in der DDR. Vielleicht klärt eine in Kürze erscheinende Biografie über Alfred Kunze über diesen eher dunklen Teil einer ansonsten packenden Legende auf („Das stille Genie“ – Ende Oktober 2019 bei „Backroad Diaries“).
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Berlin, 10.08.2019/cw – Im Zusammenhang mit der Aktion zum 30.Jahrestag der „Lebendigen Brücke“ : „WIR“ statt „IHR“ am Checkpoint Charlie (12.08.2019, 11:00 Uhr) erreichten mich zahlreiche Anfragen über meinen Weg zum gewaltlosen Widerstand gegen die Mauer. Bis zum 12. August werde ich an dieser Stelle Stationen auf diesem Weg und aus dem Kampf gegen die Berliner Mauer schildern. (13 -Teil 12 siehe 09.08.2019).
Es wäre unehrlich, eine wie immer geartete Haft als „gut verkraftbar“ hinzustellen. Schließlich brauchte man sich nicht für zu Unrecht eingesperrte Menschen einzusetzen, wenn eine Haft letztlich durch einige Kniffs und Tricks erträglich(er) gestaltet werden könnte. Auch an mir ist diese Zeit keineswegs spurlos vorübergegangen, trotz aller mentalen Vorbereitungen. So haben die neun Monate Einzelhaft im Untersuchungsgefängnis der Stasi in Hohenschönhausen als Beispiel zweifellos bewirkt, dass ich nach dem 1966 erfolgten Freikauf erstmals wieder 2019 in eine Wohnung einzog, die ein „Gegenüber“ hatte. Ich hatte also unbewusst 52 Jahre lang Wohngelegenheiten genutzt, die kein unmittelbares Gegenüber, also keine Einsichtmöglichkeiten in meinen privaten Bereich boten.
Traumatische Erfahrungen in der Kindheit hilfreich
Auf der anderen Seite waren meine, wenn auch an sich traumatischen Erfahrungen aus meiner Kindheit hilfreich beim Überstehen dieser Zeit. So war ich im Alter von vier Jahren in einem dem Evangelischen Johannesstift in Berlin zugeordneten Heim zusammen mit meinem zwei Jahre älteren Bruder untergebracht. Zu Nikolaus 1948 geriet ich mit meinem Bruder in eine kindliche Auseinandersetzung, nachdem wir im Schlafsaal gemahnt worden waren, im Flüsterton geführte Unterhaltungen einzustellen. Kurze Zeit darauf erschien eine Erzieherin, packte mich, nachdem sie meinen Mund mit einer Binde verschlossen hatte und trug mich aus dem Saal hinunter in den Keller. Dort öffnete sie eine sogen. Luftschutztür, hinter der ein Heizkessel sichtbar wurde. Sie setzte mich auf einem dort stehenden Stuhl ab und schärfte mir ein, mich still zu verhalten. Den auf der anderen Seite des Kessels säße der Nikolaus. Der würde mich, wenn ich mich nicht still verhielte, mitnehmen. Ich käme dann niemals mehr zurück. Dann knallte die Tür zu. Erst am Morgen wurde ich aus dem Verlies befreit. War es da ein Wunder, daß ich noch im Alter von 18 Jahren Herzklopfen hatte, wenn ich durch eine Keller gehen mußte?
Daß ich in einigen der Kinder- und Jugendheime – meine Eltern waren geschieden – eine sogen. Einheits- oder Anstaltskleidung tragen mußte half mir, mit der Gefängniskluft in Hohenschönhausen und später in Bautzen zurecht zu kommen.
„Eure Leiden – unser Auftrag.“ Heute wird in Hohenschönhausen der Opfer des SED-Staates gedacht. – Foto: LyrAg
Die Vernehmungen liefen im erwarteten Rhythmus und Muster ab. Auch hier halfen meine vorbereitenden Kenntnisse. So hatte man mir geraten, mich nicht einer Aussage zu verweigern. Ich solle stattdessen „so ausführlich wie irgend möglich“ Begebenheiten berichten, von denen ich wußte, daß diese bereits öffentlich waren. Damit würde ich keine „feindliche Haltung“ einnehmen, sondern kooperativ wirken. Allerdings sollte ich mir auch stets die Aussagen einprägen, denn die Stasi würde oft noch nach Wochen oder Monaten die gleichen Fragen stellen, um die Antworten auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Daher dürfte aber nicht alles wortgleich wiederholt werden, weil dies auf eingeübte Textversionen schließen lassen würde.
Auch das ließ sich relativ gut einarbeiten. Als es z.B. um Treffs mit Mauer-Gegnern in der Bernauer Straße ging, gab ich bei einer solchen Wiederholungsfrage an, nicht mehr ganz sicher zu sein, ob diese Treffs an dieser oder jener Ecke stattgefunden hätten. Dadurch erhielten die Aussagen gesamt eine gewisse Glaubwürdigkeit.
Durch Vernehmungen wurde ein IM entlarvt
Schließlich gelang es mir durch diese vorbereiteten Kenntnisse sogar, einen wahrscheinlichen IM (Informellen Mitarbeiter) der Stasi in West-Berlin zu entlarven. Durch Vernehmungen hatte ich den Eindruck gewonnen, dass ein mir bekannter Presse-Fotograf, der auch Demonstrationen von mir fotografiert hatte, mögliche Informationen weitergegeben haben könnte. Meine daraufhin detaillierter werdenden Aussagen über Begegnungen mit dieser Person wurden nachdenkenswerter Weise nie hinterfragt. Einzelheiten zu dieser Person interessierten offenbar die über alles neugierige Stasi nicht. Schnell gewann ich den Eindruck, das hier jemand geschützt werden sollte.
Nach meiner Freilassung suchte ich den damalige Geschäftsführer der CDU Berlin. Joachim Kalisch, auf und übermittelte ihm meine Vermutungen über diesen der CDU nahestehenden Fotografen. Kalisch wurde echt blass und sagte mir, dass dieser Mensch vor wenigen Monaten eben unter diesem Verdacht festgenommen worden wäre.
Natürlich blieben auch die Fragen nicht aus, was ich denn für ein Urteil erwarten würde. Allerdings blieb ich eisern, gab die Todesstrafe oder „Lebenslänglich“ an, keinesfalls aber meine erlangten Kenntnisse über mögliche acht Jahre Zuchthaus. Mit Sicherheit hätte die Stasi schon aus optischen Gründen dafür gesorgt, dass ein solches Urteil nicht gefällt werden würde. Schließlich wollte man mich ja von „falschen Vorstellungen“ überzeugen, die durch zuviel Konsumierung von US-Krimis entstanden wären.
Acht Jahre Zuchthaus wurden als Bestätigung empfunden
Als dann am 7. April 1966 nach drei Verhandlungstagen das Urteil anstand, war ich gespannt, ob die Lesart des Kuratoriums Unteilbares Deutschland richtig gewesen war. Der vorsitzende Richter Genrich verlas die Einzelstrafen: Insgesamt zehn Jahre. Dann aber: „Die Einzelstrafen werden zu einer Gesamtstrafe von acht Jahren zusammengefasst.“ Also doch wieder eine Bestätigung, das dieser Unrechtsstaat über Schubladenurteile verfügte. Manch einer wäre angesichts des Strafmaßes zusammengebrochen. Ich fühlte mich bestätigt. Diese psychologischen Krücken waren ungemein hilfreich, um mit der aktuellen Situation umgehen zu können.
Auch andere Vorkommnisse verhalfen mir dazu, die doch belastende Einzelhaft zu verkraften.
So hatte ich bei einem der eher seltenen Ausgänge im Freikäfig eine Idee. Die Freikäfige waren so groß wie eine Zelle, hatten aber kein Dach. An den Rändern waren Gänge montiert, auf denen das Wachpersonal – erstaunlicherweise bewaffnet – patrouillierte. Im Rundgang war zwar der Schnee geräumt, aber in den Ecken, so zur Zellentür, lagen noch Schneereste. In einem unbeobachteten Moment bückte ich mich und schrieb in den Winkel links von der Tür „Freiheit“.
Kurze Zeit nach meinem Einschluss öffnet sich die Zellentür und ein nicht sehr großer Unteroffizier betrat die Zelle. Aufmerksam registrierte ich, wie der Unteroffizier die Zellentür hinter sich heranzog und verhinderte, das ein Wachtposten, der im Übrigen durch Schikanen aufgefallen war, ebenfalls die Zelle betrat. Es entspann sich folgender Dialog:
„Haben Sie das da draußen geschrieben?“ „Ich weiß nicht, was Sie meinen.“ „Na da draußen, im Freigang.“ „Was soll ich da geschrieben haben?“ „Na, das Wort. In der Ecke, neben der Tür.“ „Was für ein Wort?“
Freiheit: Jeder darf darüber denken, was er will
Ich wollte unbedingt diesen Begriff „Freiheit“ aus seinem Mund hören.
Nach mehreren Versuchen, dem zu entgehen, räumte er schließlich ein: „Na,“ er rollte mit den Augen, „Freiheit.“ „Ach so,“ erwiderte ich, „Freiheit. Das meinen Sie. Ja, das habe ich geschrieben,“ gab ich zu.
Dann die interessante Belehrung: „Jeder kann über diesen Begriff denken, was er will. Aber bitte lassen Sie in Zukunft solche Schreibereien. Das könnte großen Ärger verursachen. Sie dürfen da draußen keine Beschriftungen, welche auch immer, hinterlassen.“ Dann verließ der kleinwüchsige, aber aus dem gewohnten Rahmen fallende Uniformierte die Zelle.
Wenige Wochen später sah ich ihn noch einmal. Ich hatte in einer Nacht zum Sonntag echte gesundheitliche Probleme bekommen, konnte nicht mehr flach auf dem Bett liegen, ohne dass ich heftige Dreh- und Schwindelanfälle bekam. Ich klopfte an die Tür, und schließlich wurden zwei Sanitäter in die Zelle beordert. Diese gaben mir einige Tabletten zur „kurzfristigen regelmäßigen Einnahme nach Bedarf.“
In der Folge setzte bereits in der Nacht heftiger Stuhldrang ein. Nach wenigen Stunden ließ ich aus dem Darm nur noch Wasser ab. Das alles erschöpfte mich derart, daß ich mich am folgenden Sonntag auf das Bett setzte und mit den Armen auf den aufgestapelten Matratzen abstützte, was verboten war. Man durfte tagsüber nur auf dem Schemel am Tisch sitzen. An diesem Sonntag hatte ein Soldat Dienst, der darüber offenbar sehr frustriert war. Jedenfalls hämmerte er mehrfach bei seinen Rundgängen auch an meine Zellentür und forderte mich lautstark auf, mich „anständig“ hinzusetzen. Schließlich riss er sogar die Essenklappe auf und herrschte mich an. Aber auch darauf reagierte ich mit dem Hinweis, das es mir nicht gut ginge und in der Nacht auch schon Sanitäter bei mir waren.
Längere Zeit war nichts zu hören, da die in den Gängen ausgelegten Teppiche jeden Tritt verschluckten. Schließlich rasselten die bekannten Zellen-Schlüssel in einer Durchgangstüre am Ende des Zellenganges. Meine Erwartung, dass dies mich betreffen würde, traf zu. Die Zellentür wurde aufgeschlossen und herein kam der mir bereits bekannte Unteroffizier. Wieder zog er die Zellentür hinter sich zu, sodaß der Frustrierte vor der Tür bleiben mußte.
„Was ist hier los? Warum setzen Sie sich nicht ordentlich hin?“
Ich klärte den Uffz über die vergangene Nacht auf und beschrieb meine Schwierigkeiten, mit dem offenbaren Missmut eines Soldaten über dessen Sonntagsdienst umzugehen. „Schließlich können wir Gefangenen nichts dafür, das Ihr Kollege hier Wache schieben muß.“ Außerdem würde ich nicht begreifen, was daran unanständig sein soll, wenn ich auf dem Bett säße, und meine Arme aufstützen würde.
„Sie wissen aber, dass dies verboten ist?“ „Unanständiges Sitzen könne ja verboten sein. Aber was ist an meinem Sitzen, Sie können mich ja genau betrachten, unanständig?“
„Geben Sie sich einfach Mühe, den Anordnungen zu folgen,“ sagte der Uffz schließlich nach längerer Debatte über die gegenseitigen Argumente und verließ ruhigen Schrittes die Zelle. Den frustrierten Wachtposten hatte ich seither nicht mehr gesehen, den Unteroffizier allerdings auch nicht mehr.
Im Ergebnis aber begriff ich wieder einmal etwas mehr, warum es in den schlimmsten Diktaturen immer wieder Ereignisse gab, die den Gefangenen Mut machten. Dass es Menschen gab, die in den Diensten dieser Diktaturen standen und trotzdem bemüht waren, so weit als möglich, oft sogar unter Lebensgefahr, menschlich zu bleiben. Meine Hoffnung nach dem Mauerfall, mich eines Tages bei diesem Unteroffizier stellvertretend bedanken zu können, hatte leider keinen Erfolg; ein seinerzeitiger Aufruf über eine Pressekonferenz von 1992 der Organisation HELP, deren Präsident ich bis 1993 war, blieb ergebnislos.
-Wird fortgesetzt-
V.i.S.d.P.: Redaktion Hoheneck, Berlin – Mobil: 0176-48061953 (1.456)
Berlin, 06.08.2019/cw – Im Zusammenhang mit der Aktion zum 30.Jahrestag der „Lebendigen Brücke“ : „WIR“ statt „IHR“ am Checkpoint Charlie (12.08.2019, 11:00 Uhr) erreichten mich zahlreiche Anfragen über meinen Weg zum gewaltlosen Widerstand gegen die Mauer. Bis zum 12. August werde ich an dieser Stelle Stationen auf diesem Weg und aus dem Kampf gegen die Berliner Mauer schildern. (9 -Teil 8 siehe 05.08.2019).
Auch dies war einer der Lehrsätze, die der Gandhi-Streiter T.N. Zutshi mir vermittelte: Gandhi habe sinngemäß gesagt, er habe „kein Vertrauen in Appelle, wenn nicht hinter diesen die Kraft stände, etwas persönlich dafür zu opfern, sich selbst dafür einzubringen.“ Und Zutshi, der sehr eindringlich und überzeugend argumentieren konnte, erläuterte auf Nachfrage: Es sei durchaus lobenswert, sich an der Mauer mit einem Schild aufzustellen und damit den DDR-Grenzern seine Forderungen zu vermitteln. Diese würden sich wahrscheinlich ärgern, aber ansonsten würde dies keine Auswirkungen haben. Ginge man aber mit einem solchen Schild „in den Osten, also über die Grenzlinie in das DDR-Gebiet“ würde man dem Gegner die „Ernsthaftigkeit seines Anliegens“ deutlich machen, weil man sogar „keine Angst vor einer mögliche Verhaftung“ hätte, sondern diese vielmehr inkauf nähme.
Der selbstlose Inder aus Benares in Indien hatte seinen Mahatma Gandhi gut studiert. So vermittelte er mir auch die Notwendigkeit, eine solche Aktion immer rechtzeitig öffentlich anzukündigen. Gandhi hatte das so gelehrt: „Gib dem Adressaten deines Anliegens immer die Möglichkeit, sein Gesicht zu wahren, indem Du diesem die Zeit gibst, auf dein Anliegen einzugehen.“
Legt Eure Furcht ab und sprecht die Wahrheit
Und wie war das mit der möglichen Angst, mit dem Herzklopfen vor und während einer solchen Aktion? Zutshi erinnerte an sein Credo von 1960 auf dem Alexanderplatz. Dort war er mit einem Schild aufgetreten: „Menschen hinter dem Eisernen Vorhang – Der erste Weg zur Freiheit: Legt Eure Furcht ab und sprecht die Wahrheit.“ Aber wie meinte Zutshi das in der Praxis? Auch das konnte er überzeugend erklären: „Wenn ein oder zwei Menschen in der DDR auf das nächste Revier gingen, um dort ihre Ablehnung des DDR-Systems zu bekunden, würden diese wahrscheinlich inhaftiert werden. Dann kämen die nächsten DDR-Bürger, um das Gleiche zu bekunden. Schnell würden sich die Hafteinrichtungen so füllen, dass die Diktatur gezwungen wäre, die ersten Häftlinge wieder zu entlassen. Diese würden dann ohne Angst die Ablehnung des kommunistischen Systems öffentlich artikulieren können, ohne erneut verhaftet zu werden.“

Zutshi hielt von 1962 – 1964 vor der Versöhnungskirche jeden Sonntag eine Mahnwache für die Menschen hinter der Mauer ab. Er wurde vor Ort unterstützt. Foto: Ein Bewohner reicht ihm einen Stuhl aus dem Fenster. Im Hintergrud die Versöhnungskirche.
– LyrAg
Fünfundzwanzig Jahre später, 1989, habe ich bedauert, dass T.N. Zutshi den Triumph seiner These nicht mehr erleben konnte. War es nicht so, als hätten die Abertausenden DDR-Bürger diese Zutshi-Worte verinnerlicht, als sie bar jeder Angst mit der Skandierung der Wahrheit auf die Straßen gingen?
Lebenslänglich Zuchthaus für Harry Seidel
1964 also, nach meinem Krankenhausaufenthalt, war die Umsteuerung auf eine andere Form des gewaltlosen Widerstandes für mich angezeigt. Zutshi hatte ja bereits mehrfach für den Fluchthelfer und ehemaligen DDR-Radrennsportler Harry Seidel demonstriert, der am 14. November 1962 am Ende eines 70 Meter langen Tunnels, den er im Auftrag der West-Berliner CDU in Kleinmachnow mitgebaut hatte, in einen Hinterhalt des MfS gelangt war. Wenige Wochen später wurde Seidel zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe verurteilt.
Analog zu seiner Aktion im Oktober 1962 vor der Versöhnungskirche in der Bernauer Straße konnte Zutshi nach eigenem Bekunden selbst nicht mit dem Schild „Freiheit für Harry Seidel und 14.000 politische Gefangene in der SBZ“ in die DDR gehen. Die angedrohte Ausweisung als unerwünschter Ausländer hielt ihn davon ab. Er wollte seinen Freunden den gewaltlosen Widerstand vermitteln, ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen.
Also begann ich mit der Planung meiner ersten Demonstration für die politischen Gefangenen für den zweiten Jahrestag der Verhaftung von Harry Seidel am 14.November 1964. Das erforderte vor allem eine gewissenhafte mentale Vorbereitung, denn ich wollte jeglichen Anflug von Angst vor der bevorstehenden Konfrontation mit der DDR-Diktatur überwinden. Getreu den vermittelten Lehrsätzen kündigte ich die geplante Aktion eine Woche vorher öffentlich an.
Nach einer demonstrativen Kranzniederlegung am Mahnkreuz für Peter Fechter, bei der ich bereits von einem West-Berliner Polizeioffizier daran gehindert wurde, eine Erklärung zu meiner beabsichtigten Demonstration zu verlesen, weil dies „nicht erlaubt“ sei, zog ich in Begleitung zahlreicher Freunde und Unterstützer mit meinem Schild zum Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße am Moritzplatz.
Wer hatte hier Angst? Und vor Wem?
In die Heinrich-Heine-Straße eingebogen bemerkte ich sofort auffallende Veränderungen am Grenzübergang. Die dortigen Mauerwächter waren nicht nur verstärkt worden, auch standen in vorderster Linie nur Grenzoffiziere ab Dienstgrad Oberleutnant aufwärts. Hatte ich zugegeben auf diesem Weg doch einiges Herzklopfen, so fielen bei Ansicht dieses Szenariums sämtliche Angstgefühle ab: Wer hatte hier denn Angst? Und vor wem? Ein einfacher Arbeiter, als der ich damals bei der BVG tätig war, demonstrierte und die DDR zeigte „mehr Angst als Vaterlandsliebe“? In diesen schicksalhaften Minuten veränderte sich mein Bewusstsein entscheidend: Seither hatte ich niemals mehr Angst vor den Organen der DDR. So konnte ich bis zum Ende dieser zweiten deutschen Diktatur meine Demonstrationen völlig angstfrei durchführen, was eine wichtige, wenn nicht die wichtigste Grundlage meiner künftigen Aktionen war.#

Bei der ersten Demo für die Freiheit politischer Gefangener 1964 wurde Holzapfel von einem Oberleutnant der DDR-Grenzposten abgewiesen. Foto: LyrAg
Am 14. November 1964 wurde ich, kaum, dass ich den Grenzstrich überschritten hatte, von einem Oberleutnant in Richtung West-Berlin zurückgestoßen, worauf ich diese Demonstration sofort abbrach. Dieser erste gewaltlose Einsatz in einer unmittelbaren Konfrontation mit den DDR-Organen zielte in der Konsequenz in zwei Richtungen: Natürlich nach Ost-Berlin aber auch auf meine Freunde in West-Berlin. Diese hatten nämlich geunkt, ich würde nach dem ersten Schritt über die weiße (sprich „rote“) Linie sofort verhaftet werden, man würde mich für die nächsten Jahre nicht mehr sehen. Es war also für mich und künftige Aktionen sehr wichtig, dieses erste Mal nicht durch unbedachte Reaktionen zu überreizen, sondern meinen Freunden im Westen zu signalisieren: Man kann auch gegen die DDR gewaltlosen Widerstand leisten, ohne gleich verhaftet zu werden.
Allerdings erklärte ich dem abweisenden DDR-Oberleutnant, daß ich wiederkommen würde, um für die Freiheit von Harry Seidel erneut zu demonstrieren. Dabei würde ich mich nicht mehr so schnell zurückweisen lassen.
-Wird fortgesetzt-
V.i.S.d.P.: Redaktion Hoheneck, Berlin – Mobil: 0176-48061953 (1.451)
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