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Moskau/Berlin, 29.12.20157cw – «Wir müssen kämpfen, um Hoffnung für unsere Kinder zu haben. Damit wir im Alter sagen können: ‹Sie sind frei, weil wir keine Angst hatten. Die Welt ist frei, weil ich dafür gekämpft habe.›» Der achtzehnjährige Regimekritiker, der gegenüber der russsische Internetzeitung „Novi Region“ sich so eindrücklich äußerte, ist tot. Nach übereinstimenden Medien-Berichten, so die Neue Züricher Zeitung vom 28.12., hat sich Wlad Kolesnikow (18) am 25.12. das Leben genommen.

Kolesnikow war aus seiner Fachschule entlassen worden, weil er ein T-Shirt mit den ukrainischen Nationalfarben (Gelb/Blau) und der Aufschrift „Gebt die Krim zurück“ getragen hatte. Wenige Tage später wurde Kolesnikow laut eigenen Angaben von Klassenkameraden zusammengeschlagen und von der Schule verwiesen. Verhöre durch den Geheimdienst FSB und die Polizei folgten. Aber auch im privaten, ja selbst im familiären Umfeld wurde der Regimekritiker offenbar gemobbt: Von seinen Altersgenossen, vom eigenen Großvater, einem KGB-Oberst, von den Eltern, die ihn auf die Straße setzten, aber auch von Putins „Presse“. Igor Jakowenko, früher Sekretär des Journalistenverbands, macht die Propaganda-Krieger von der Komsomolskaja Prawda für den Selbstmord des junge Dissidenten verantwortlich – sie hatte mit Hilfe des KGB-Opas intime Auszüge aus Wlads Tagebuch veröffentlicht.

In einem Schreiben an „Radio Swoboda“, dass seine Freunde als „Letzten Hilferuf“ einstufen, schrieb Wald Kolesnikow: „Wie sich die Menschen mir gegenüber verhalten ist schrecklich. Man hat mir angedroht, mich zu verprügeln, mich in den Schmutz geworfen, in den Schnee, ich werde ständig beleidigt und von den Leuten im den Gängen geschupft und gestoßen. Einer hat mich sogar ins Gesicht geschlagen (glücklicherweise nicht zu fest). Ich kann mich nicht an die Polizei wenden (die haben mir noch im Sommer zu verstehen gegeben, dass sie, ich zitiere das, „dir selbst am liebsten in die Fresse schlagen würden für das, was tu machst“). In Schiguljowske können sie mit mir machen was sie wollen. Ich suche verzweifelt einen Ort, an den ich ziehen kann.“
Inzwischen wird Kritik an den Medien auch in Deutschland laut, die im Zusammenhang mit dem Tod die bodenlosen Unterstellungen gegen Wlad Kolesnikow wiedergeben: Dieser sei „psychisch krank“ gewesen, eine übliche verleumderische Propaganda gegen Dissidenten. Journalisten, die mit Kolesnikow in den vergangenen Monaten in Briefkontakt standen, beschreiben den jungen Mann jedoch weder als verrückt noch als aggressiv, so die NZZ.

Auf Wlads Facebook-Seite sieht man einen  gutaussehenden jungen Mann: dunkle Haare und dunkle Augen. „Bemerkenswerte 4.700 Freunde und fast so viele Follower aus aller Welt zählt sein Profil. Denn im vergangenen Frühsommer wurde Wlad Kolesnikow berühmt,“ schreibt Christian Weisflog in der Neuen Züricher Zeitung über den Tod Kolesnikows. Nach diesem Bericht wohnte der damals 17-Jährige mit seinem Grossvater in Podolsk, einem Vorort knapp 50 Kilometer südlich von Moskau. Bei der Einberufung durch die Armee erklärte er den dortigen Offizieren, er wolle nicht in den Krieg gegen seine ukrainischen Brüder ziehen, und spielte dazu von seinem Handy die ukrainische Hymne ab. Die Beamten hätten bei ihm darauf «Persönlichkeitsstörungen» diagnostiziert, erzählte Kolesnikow in einem Interview gegenüber Radio Svoboda.

Wenige Wochen später, am 3. Juni, ging Kolesnikow mit dem besagten T-Shirt in die Schule, eine erneute Anspielung auf die von Russland im Frühjahr 2014 annektierte Schwazmeerhalbinsel. Nicht nur seine Schulkameraden und die Behörden stellten sich gegen Kolesnikow – auch sein eigener Grossvater zog in einem langen Interview mit dem Boulevardblatt «Komsomolskaja Prawda» über ihn her. Sein Enkel, der ganz leicht aggressiv werden könne, sei „von Mormonen angeworben worden, bei denen es sich um amerikanische Agenten handelte“, erklärte der Grossvater. Wlad sei ganz klar „von jemandem bezahlt und gelenkt worden.“
Der Grossvater schickte Wlad nach diesem Eklat zurück zu seinem Vater in die russische Provinzstadt Schiguljowsk. «Ich hoffe, dass ihm die heilende Luft in der Provinz alle Torheit aus dem Kopfe treibt.» zitiert Weisflog den KGB-Opa.

An Weihnachten schrieb Kolesnikow eine letzte Nachricht an die Journalistin Bigg: «Wenn ich mich in 2 bis 6 Tagen nicht melde, bin ich tot. Ich habe eine tödliche Dosis genommen.» Wenige Stunden später bestätigte die russische Polizei, dass Kolesnikow an einem Cocktail aus Alkohol und Medikamenten gestorben sei. Wlad Kolesnikow hat sich wohl das Leben genommen, weil er selbst die Hoffnung in seinen Kampf verloren hatte.
Wir weinen um einen aufrechten jungen Menschen, der in seinem Kampf um Freiheit und Gerechtigkeit nicht zuletzt durch mangelnde Unterstützung in seinem Umfeld die erforderliche Kraft dafür verloren hatte. Wir, die wir ebenfalls in jungen Jahren gegen eine Diktatur gekämpft haben, werden Wlad Kolesnikow in ehrender Erinnerung behalten.

V.i.S.d.P.: Redaktion Hoheneck, Berlin – Tel.: 030-30207785 (1.067)

Teheran/Paris/Berlin, 28.12.2015 – Die iranische Oppositionsführerin Maryam Rajavi, die ihren Wohnsitz im Exil in Paris hat, nimmt das Zusammenfallen der Geburt Jesu Christi mit dem Geburt des Propheten Mohammeds zum Anlass, Akzente auf die gemeinsamen Werte von Christen und Moslems, nämlich Toleranz, Liebe und Barmherzigkeit zu setzen und gegen den Fundamentalismus einzutreten. Sie ruft zum Engagement in einer gemeinsamen Front auf. In ihrer Botschaft zum Weihnachtsfest heißt es:

„Liebe Christen im Iran und allerorten, liebe Unterstützer des iranischen Widerstandes in aller Welt, ich grüße Sie zu Weihnachten, zur Geburt Jesu Christi, zu dem Fest, das in diesem Jahr mit dem Geburtstag des Propheten Mohammed zusammenfällt. Ich schließe meine Grüße zum Neuen Jahr an.

Ich wünsche, 2016 möge ein Jahr der Einheit und des Siegs über den islamischen Extremismus sein, besonders über den im Iran herrschenden religiösen Faschismus und seine üblen Verbündeten im Mittleren Osten, die in aller Welt den Samen der Feindschaft säen. Wir denken an Jesus Christus, der gesagt hat: „Liebt einander, wie ich euch liebe.“ Und im Koran sagt Gott zu Mohammed: „Wir haben dich zu einer Gnade für die ganze Menschheit geschickt.“

Dies ist die Botschaft aller Religionen und darum ist das Zusammenfallen der beiden Geburtstage ein Fest der Brüderschaft in allen Nationen. Glücklich sind die, die im Christentum und im Islam das Wesen des Glaubens gefunden haben: Liebe, Mitgefühl und Freiheit. Und wir grüßen in Verehrung die Jungfrau Maria, die Verkörperung der Liebe und des Opfermutes, die in der Bibel „die, die Gott lieb hat“ genannt wird. Geburt und Erscheinen jedes Propheten bezeichnen eine Neugeburt der Menschheit im Zusammenleben.

Gemeinsame Werte

Zu dieser Zeit, da die Welt unter den Anschlägen von Terror und Extremismus leidet, können wir im Erscheinen der Propheten das Licht der Freiheit, der Toleranz, der Standhaftigkeit gegen Fundamentalismus und Extremismus finden. Muslime und Christen können sich auf ihre gemeinsamen Werte verlassen. Sie sind die Kraft, mit der sie denen, die ihre Religionen verderben, widerstehen können.

Entgegen dem, was die Extremisten wollen, sollten wir stärker als je an die Menschheit glauben, tiefer auf sie hoffen. Lasst uns hoffen: auf ein Ende des Extremismus und auf Freiheit für das syrische Volk, Freiheit von den Diktaturen Bashar Assads, Khameneis und der ISIS-Terroristen. Lasst uns hoffen, dass die Vertreibung der Christen aus ihrer Heimat im ganzen Mittleren Osten ein Ende finde. Und lasst uns hoffen, dass die, die sich im Iran zum Christentum bekehrt haben, von der Unterdrückung durch die herrschenden Mullahs befreit werden. Möge die ganze iranische Nation von dieser religiösen Diktatur befreit werden.

In diesem Moment rufe ich die Weltgemeinschaft auf, eine internationale Front gegen die religiöse Diktatur im Iran, ihrer Statthalter und Milizen in Syrien und im Irak zu bilden und den islamischen Islamismus zu bekämpfen, den Feind wahrer Muslime, wahrer Christen und aller Angehörigen anderer Religionen. Möge die Botschaft des Mitgefühls, der Freiheit und der Toleranz im ganzen Mittleren Osten zur Geltung kommen.
Möge die Welt von Tyrannei und Fundamentalismus erlöst werden und eine neue Geburt, ein neues Leben finden. Ihnen allen frohe Weihnachten und ein glückliches Neues Jahr.“

V.i.S.d.P.: Nationaler Widerstandsrat Iran (NWRI) – Office in Germany – Vertretung in Deutschland (1.066)

NS-Opfer im Dritten Reich – Fluchthelfer zur DDR-Zeit

Von Carl-Wolfgang Holzapfel

Werner G.* (*Name geändert) wird im Januar 84 Jahre alt. Von seiner Wohnung im 4. Stock fällt sein Blick auf die weltberühmt gewordene „Bornholmer Brücke“, die an jenem 9. November 1989 zum Sinnbild des Zusammenbruchs einer Epoche wurde. Dort wurden nach den legendären Äußerungen des Sprechers des ZK der SED, Günter Schabowski (1929 – 2015), die Schlagbäume gehoben, strömten Abertausende Ost-Berliner ungehindert in den freien Westteil der Stadt.

Werner könnte sich mit diesem täglichen Triumph von seinem Balkon vor Augen zufrieden geben. Er hatte selbst in den sechziger Jahren aktiven Widerstand gegen die DDR geleistet, Tunnelbauten organisiert, mit Freunden Grenzlampen ausgeschossen oder mittels eines Wagenhebers Mauerteile zum Einsturz gebracht. Der 84jährige bestreitet nicht, diesen Widerstand aus rein persönlichen Gründen geleistet zu haben.

Er war mit seiner jungen Frau Martina* 1960 in den Westteil der Stadt gezogen und dort schon bald Vater einer Tochter geworden. Dann kam der August 1961. Das junge Paar wollte umziehen, gab die einjährige Tochter in die Obhut der Großeltern in Ost-Berlin, um die wenigen Möbel in das neue Domizil transportieren zu können. Dann kam die Nacht vom 12. auf den 13. August: Ost-Berlin sperrte die bis dahin offenen Grenzen zu den Westsektoren, ersetzte wenige Tage später die ausgerollten Stacheldrahtrollen durch massive Mauer-Elemente. Seither sannen Werner und seine gerade achtzehnjährige Frau auf einen Weg, die von ihnen getrennte Tochter in den Westen zu holen.

Der Schwiegervater starb im Tränenpalast bei der Ausreise

Als im Sommer 1963 ein Tunnelbau an der Bernauer Straße fast fertig war, nur wenige Meter trennten die Fluchthelfer vom Keller des Hauses, in dem der Tunneleinstieg geplant war, wurde das Vorhaben verraten. 21 Verhaftungen und Verurteilungen folgten, darunter die Großeltern der kleinen Martina, die in ein Heim verbracht wurde. Erst viele Jahre später durften die (Schwieger-)Eltern ausreisen. Die Frau hatte ihre Haft im DDR-Zuchthaus Hoheneck verbüßt. Der Mann brach bei der Ausreise nach ebenfalls durchlittener Haft bei der Kontrolle im sogen. Tränenpalast, dem Kontrollgebäude in der Friedrichstraße für Westreisende, zusammen und starb.

Wenn Werner über diese Zeit berichtet, erschrickt der Besucher über seinen leidenschaftslos wirkenden Bericht, die stoisch wirkende Aneinanderreihung von Faklen und Ereignissen. Zunächst schreibt man dies der üblichen Bitternis über seine jetzige Einsamkeit zu. Die Ehefrau hatte ihn 1966 endgültig verlassen, eine neue Bindung hatte sich nicht ergeben. Werner spricht rückblickend von Verrat, will kein gutes Wort über „die Treulose“ verlieren. War da dann doch so etwas wie Emotion erkennbar?

Der Zugang zu Werners Leben gestaltet sich nicht einfach, gibt zunächst Rätsel auf. Auch der kleine Weihnachtsbaum, der ihm die Einsamkeit in den heurigen Frühlingstagen des Dezember 2015 – das Thermometer zeigt nahezu 15 Grad plus an – wohl erträglicher machen soll, ist nicht geeignet, über den Weg weihnachtlicher Stimmung das Tor der Erinnerung zu öffnen, seine Gedanken einem Dritten zugänglich zu machen.

Aus den wenigen Anmerkungen und Hinweisen Werners, aus den Einblicken in seine Stasi-Akte, den Forschungen im Landesarchiv Berlin, in Beerdigungsinstituten und Meldebehörden ergibt sich dann doch ein grausames, dem Weihnachtsfrieden nicht gerade dienliche Bild eines Lebens, das so – und vieltausendfach – in Deutschland stattgefunden hat, aber in seiner Brutalität und Härte auch heute noch, im Jahr 2015, erschüttert und bewegt.

Im Alter von zwei Jahren 1934 von der Mutter getrennt

Die Mutter von Werner, Waltraud U.*, hatte einen jüdischen Vater und eine nicht unvermögende, wie es später hieß „arische“ Mutter. Schon bald nach ihrer Geburt – zwei Jahre vor Beginn des ersten Weltkrieges – stellte sich immer deutlicher heraus, das es der Vater wohl mehr auf das Vermögen seiner Frau als auf diese selbst abgesehen hatte. 1919 – ein Jahr nach dem Weltkriegsende – kam es zur Scheidung. Waltraud wurde von ihrer nun ärmlich gewordenen Mutter alleinerziehend aufgezogen. Im Alter von zwanzig Jahren, damals noch unter der Schwelle der Volljährigkeit (21), gebar Waltraud im Januar 1932 einen Sohn und nannte ihn Werner. Ihr Verlobter, Ullrich M.*, war wohl weniger begeistert, zumal sich ein Jahr später, also im „Jahr der Machtergreifung“ durch Hitler, die jüdische Vaterschaft seiner Verlobten als mögliche Belastung herausstellte. Ulrich M. löste die Verlobung und wandte sich einer anderen Frau zu.

Aus den zugänglichen Archivalien geht hervor, dass Werners Mutter ihren Sohn zweijährig in das Jüdische Weisenhaus in Pankow einlieferte. Dann verlief sich ihre Spur. Und Werner ging immer davon aus, dass seine Mutter in einem KZ ums Leben gekommen sei.

Das Jüdische Weisenhaus ist ein wuchtiger, beeindruckender Bau nahe dem U-Bhf. Pankow. Es beherbergt heute (2015) u.a. eine Bibliothek und eine Dauerausstellung über die Geschichte des Hauses. Warum Werner hier nie eine Schulbildung genossen hat, nicht einmal Lesen und Schreiben gelernt hat, lässt sich heute, über achtzig Jahre später, nicht mehr rekonstruieren. Das Essen war gut, daran kann sich der heutige Greis erinnern, mehr nicht.

Der „Idiot“ in den Kinderheimen

Aus den Akten: Um 1940 wird das Weisenhaus „geräumt“, die Zöglinge gehen auf „Transport“. Nur wenigen Kindern und Jugendlichen bleibt die Reise in den Tod erspart, so auch dem kleinen Werner. Er durchläuft bis zum Kriegsende und danach mehrere Heime, auch hier ohne Vermittlung schulischer Kenntnisse. Nach dem Krieg kommt der abgemagerte Knabe in ein sogen. Päppelheim, wird hier wie später in folgenden Einrichtungen als „Idiot“ bezeichnet, weil er nicht Lesen und Schreiben kann. Einzig eine Erzieherin müht sich um den Jungen, versucht ihm Hilfen zu verschaffen. Nach den Ursachen, nach den Spuren seines Schicksals fragt niemand. Warum auch? In der zerstörten Stadt hat jeder mit sich selbst genug zu tun, muß in der Trümmerlandschaft zwischen den Ruinen um die eigene Existenz kämpfen.

In den ersten Tagen der DDR laufen Anträge auf Anerkennung als OdF (Opfer des Faschismus), auch die Jüdische Gemeinde nimmt sich vorübergehend des Heranwachsenden an. Doch der Tod der Mutter läßt sich nicht nachweisen, allerdings – seltsamerweise, wie wir später durch Nachforschungen erfahren – auch nicht deren Überleben. Eine Kommission lehnt die Anerkennung ab, deren Wirksamkeit wird nach dem „Ausbleiben eines Widerspruchs“ bestätigt. Aber wie soll der Sechzehnjährige Widerspruch einlegen, wenn er den Bescheid gar nicht lesen, einen Widerspruch gar nicht zu Papier bringen kann?

Ach ja, der Vater. Nach den Unterlagen hat er seinen Sohn einige Male im Jüdischen Weisenhaus besucht, bis ihm bedeutet wurde, dass ein weiterer Besuch bei dem „jüdischen Balg“ Nachteile für ihn haben könnte. Nach 1945 nahm er Werner sogar für rund eineinhalb Jahre in die (neue) Familie auf. Ullrich M.* hatte nach der Tennung geheiratet und zwei Kinder gezeugt. Vermutlich nahm er Werner nach dem Krieg nur auf, weil er sich dadurch eine Besserstellung mit Lebensmittelmarken versprach, meint sein Sohn. Jedenfalls blieben an diese Zeit – der Rückkehr in eine Familie – keine guten Erinnerungen. Der Vater verprügelte seinen „missratenen“ Sohn regelmäßig und ließ ihn Hilfsarbeiten verrichten. So war auch zu den Halbgeschwistern kein engerer Kontakt entstanden, als Werner auf Veranlassung der Jugendbehörden erneut in ein Heim eingewiesen wurde.

Drei Jahre im Gefängnis Rummelsburg

Gerade 18 Jahre alt und damit volljährig geworden, verließ Werner eigenmächtig, sprich aus eigenem Entschluß die Heimwelt und entwich ohne jede Rücksprache. Wer wollte ihm das verdenken? Aber das Leben außerhalb der gewohnten Heime und Anstalten – man hatte zwischendurch sogar versucht, den Analphabeten als „schwachsinnig“ in einer gechlossenen Anstalt unterzubringen – der Kampf um die tägliche Existenz war hart. So blieb es kaum aus, das Werner mit den Gesetzen in Konflikt kam und schließlich um 1956 verhaftet und verurteilt wurde. Kleinere Diebstähle und der Handel mit Hehlerware war ihm schließlich zum Verhängnis geworden. In den Vernehmungsakten wird von Werner die Aussage vermerkt: „Ich wollte doch nur leben.“

Drei Jahre mußte Werner im Gefängnis Rummelsburg verbringen. Bis er schließlich, 1960, seine blutjunge Martina* kennen und lieben lernte, eine Familie gründete. Werner machte sich 1965 selbsständig und führte bis zu seiner Verrentung erfolgreich mehrere Geschäfte. Was wäre aus diesem Menschen wohlmöglich geworden, wenn ihm die Geborgenheit einer Familie und eine ordentliche Ausbildung zur Verfügung gestanden hätten?

Der Großvater starb 1943 in Auschwitz, die Mutter überlebte

Heute möchte der alte Mann mit der Vergangenheit nichts mehr zu tun haben: „Man soll die Toten ruhen lassen!“ Als Freund und zeitweiser Weggefährte (u.a. Fluchthilfe) liess mich sein Schicksal aber nicht in Ruhe. Nach dem freimütig gewährten Einblick in seine Stasi-Akte wurde ich neugierig. Erstmals stieß ich auf konkrete Daten, die zumindest Anhaltspunkte lieferten, wo und an welchen Stellen unter Umständen Näheres über seine Eltern herauszufinden wäre.

Nach diversen Recherchen wurde ich fündig, aktiv unterstützt von meiner Frau und vielen gutmeinenden Menschen. Ergebnis: Die Mutter von Werner hat den Krieg überlebt, starb erst 1998 in Berlin.

Sie hatte 1934, nach der – nach wie vor ungeklärten – Weggabe von Werner, eine Tochter zur Welt gebracht und geheiratet. Der Mann brachte es bis zum Offizier bei den Fallschirmspringern. Und hier dürfen die Gründe für das Überleben von Werners Mutter vermutet werden. Ihr Mann wurde mehrfach aufgefordert, sich von der „Halbjüdin“ zu trennen, was dieser Offizier kategorisch ablehnte. Es gibt einige Beispiele dafür, daß Ehepartner auf diese Weise dem anderen Teil ihrer Lebensgemeinschaft das Leben retteten.

Warum die Mutter Werners zumindest nach dem Krieg nie nach ihm gefragt hat, läßt sich nicht mehr feststellen, kann noch nicht einmal vermutet werden. Ihr Grab haben wir an der Seestraße im Wedding gefunden und zu Weihnachten geschmückt.

Auch die (Halb-)Schwester aus der Ehe mit dem Offizier haben wir ausfindig gemacht. Die ebenfalls über Achtzigjährige war sehr bewegt über unsere Forschungsergebnisse und würde sich über ein Kennenlernen des Bruders freuen. Dieser aber ist noch nicht so weit. Er zögert, sich seiner Vergangenheit erneut zu stellen, will „das alles ruhen lassen.“ Seine Schwester ist bereit, das zu akzeptieren. Und wir müssen das wohl auch.

Und so lassen wir tief bewegt und auch aufgewühlt den alten Freund in seiner Küche vor dem kleinen Weihnachtsbaum sitzend zurück. Nicht ohne ihm alles Gute für das bevorstehende Fest und den Jahreswechsel zu wünschen. Im neuen Jahr wird er gleich im ersten Monat seinen 84. Geburtstag begehen. Wir haben zugesagt, ihn an diesem Tag zu besuchen. Und vielleicht wächst ja bei ihm doch die Neugier auf seine Schwester. Eine Begegnung dieser zwei alten Menschen nach dieser unmenschlich langen Zeit wäre zumindest auch für uns ein besonderes Weihnachtsfest. Aber ich weiß, dass wir darauf keinen Anspruch haben. Sonst wäre es ja auch kein Geschenk…

V.i.S.d.P.: Der Autor und Redaktion Hoheneck, Berlin, Tel.: 030-30207785 (24.12.2015 / 1.065)

Titel HB 2014Nr.048 – Einigkeit und Recht und Freiheit15. 12. 2015

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Weihnachten 2015: Anlass zum Innehalten

Von Carl-Wolfgang Holzapfel

Berlin, 15.12.2015 – Vor siebzig Jahren sah sich das gebeutelte, vom Krieg verwundete Deutsche Reich zusätzlich der Belastung durch Millionen von Flüchtlingen ausgesetzt, die vornehmlich aus den von der Roten Armee besetzten Teilen des Reiches in die sogen. Westzonen (Amerikanische, Britische und Französische Zone) strömten. Auch die sowjetisch besetzte Zone und spätere DDR mußte die Aufnahme von Milionen Flüchtlingen verkraften. Der knappe Wohnraum in den zerstörten Städten wurde so noch knapper, die Versorgung mit notwendigen Grundnahrungsmitteln noch prekärer.

Ich erinnere mich noch gut an die Feindseligkeiten, die den Flüchtlingen begegnete: Die „Asozialen aus den Nissenhütten“ war noch eine glimpfliche Bezeichnung. Dabei kamen diese Menschen aus dem (bislang) „eigenen Land“, gehörten dem selben Kulturkreis an. Das hinderte die „Ureinwohner“ vor Ort nicht, diesen Flüchtlingen die Schuld an der Misere, an dem verlorenen Krieg förmlich in die Schuhe zu schieben. Hatten diese nicht am Lautesten „Heil“ gebrüllt, am Eifrigsten hinter Hitler gestanden?

Natürlich gab es – Gott sei Dank! – auch andere Gruppen in dieser zerrissenen Gesellschaft. So sammelten die Kirchen und andere humanitär ausgerichtete Gruppen eifrig Kleidung, Lebensmittel und Dinge des alltäglichen Gebrauchs, um die größte Not zu lindern. Und nicht alle Mieter tobten gegen die Zwangseinweisung obdachloser Flüchtlinge.

Heute, im Jahr 2015, kommen diese Bilder wieder aus der Tiefe der Erinnerung. Und während in den Medien und der Öffentlichkeit um eine Million Flüchtlinge debattiert wird – damals strömten mehrere Millionen in ein vom späteren Wirtschaftswunder noch weit entferntes Land – wird die Frage nach einer Vergleichbarkeit dieser erneuten Völkerwanderung mit der Situation vor siebzig und sechzig Jahren gestellt.

Ich meine, dass ein Vergleich aus kultureller Sicht nicht statthaft ist. Hier sollten wir uns der Realität stellen und die durchaus bestehenden Gefahren für eine homogene Gesellschaft ernsthaft diskutieren. Nur so können wir wirkliche Lösungen erarbeiten und finden. Alles andere wäre und ist Schaumschlägerei, vertieft die Risse in unserer Gesellschaft und diffamiert Menschen als Extremisten, die lediglich ihre ernsten Besorgnisse artikulieren, im wahrsten Sinn des Wortes Angst um ihr Land, um eine friedliche Zukunft haben.

Etwas anderes ist die gebotene menschliche Pflicht zur Nächstenliebe, auch diese ein wesentlicher Teil unserer christlichen Kultur. Gerade zu Weihnachten ein Anlass, innezuhalten, sich unabhängig von sonstigen durchaus berechtigten Bedenken dieser freiwilligen Pflicht zur Liebe am Nächsten zu erinnern. Jedenfalls wird man(n)/frau unglaubwürdig, wenn angebliche oder tatsächliche Besorgnis in Hass auf Menschen umschlägt, die offensichtlich vor Krieg und Terror, Gefahr für Leib und Leben, fliehen.

Ebenso unglaubwürdig werden jene Menschen, die berechtigte (oder unberechtigte) Sorgen aus vordergründig politischen Gründen auf eine Stufe mit Extremismus, Rassismus oder gar Neo-Nazismus stellen. Beides ist Rufmord und Diffamierung und hat mit einem menschlichen Miteinander nichts zu tun. Dabei stehen auch die Medien in der Kritik. Oder hat man schon einmal etwas über „Rechts-Autonome“ lesen oder gar hören können? Gerade dies geschah vor wenigen Tagen wieder im Zusammenhang mit schlimmsten Ausschreitungen, bei denen über 70 Polizisten verletzt worden sein sollen. Es waren nicht „Rechts-Extreme“ sondern laut Medien-Berichten „Links-Autonome“, die dieses Fiasko unter der Vorgabe, gegen „Neo-Nazis“ demonstrieren zu wollen, angerichtet haben.

Wer unter dem Motto agiert: „Willst du nicht mein Bruder sein, dann schlag ich dir den Schädel ein!“ stellt sich auf eine Stufe mit jenen, die er/sie, angeblich politisch lauter, bekämpft. Andererseits: Wer Brandanschläge gegen Flüchtlingsheime unternimmt oder gar nur verbal unterstützt, wer seinen Hass auf wehrlose und hilflose Menschen projiziert, muss sich nicht wundern, wenn seine „Besorgnisse“ auf Widerspruch oder gar Widerstand stoßen.

Weihnachten wäre ein Anlass, über die eigene Befindlichkeit nachzudenken, vielleicht gar Flüchtlinge demonstrativ zu beschenken oder zum Weihnachtsessen einzuladen. Bei dieser Gelegenheit könnten gegenseitige Ängste ausgetauscht und diskutiert, das Verständnis für diese Sorgen sogar gegenseitig geweckt werden. Auch eine Gesprächskultur gehört zu unserem kulturellen Erbe. Wir sollten dieses Erbe nicht leichtfertig aufs Spiel setzen und damit den Extremisten auf beiden Seiten den Brandsatz liefern, die diese für ihre abartigen und menschenunwürdigen Spielchen (miss-)brauchen.

In diesem Sinn wünscht die Redaktion Hoheneck allen Freunden und Lesern besinnliche Feiertage und einen guten Rutsch in ein (hoffentlich) gutes Jahr 2016.

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UOKG: Dachverband startet durch und holpert

Berlin, 15.12.2015/cw – Der Dachverband der Opferverbände der zweiten deutschen Diktatur (UOKG) hat nach dem Desaster um den Rücktritt ihres langjährigen Vorsitzenden Rainer W. im April d.J. wieder Tritt gefasst. Auf dem um einen Monat vorgezogenen Herbst-Treffen wählten die Delegierten der Mitgliedsverbände Dieter Dombrowski (CDU) zum Nachfolger des zuletzt wenig glücklich agierenden Predigers aus Neustadt, der nicht über seine Verdienste um die UOKG sondern letztlich über seine obskuren religiösen Thesen gestolpert war. Mit Dombrowski rückt an die Verbandsspitze ein absoluter Polit-Profi, der es über den Landesvorsitz der Jungen Union (Berlin) bis zum derzeitigen Vizepräsidenten des Landtages in Brandenburg geschafft hat und dem die Fehler seines Vorgängers kaum unterlaufen dürften.

Überdies verfügt Dombrowski über eigene Erfahrungen als einstiger politischer Häftling und ist langjähriger und erfolgreicher Vorsitzender des Menschenrechtszentrums in Cottbus, das seinen Sitz in der ehemaligen DDR-Strafanstalt hat. In einem Interview mit dem UOKG-Organ „Stacheldraht“ (Nr.9/2015) betont der neue Vorsitzende denn auch seine Bereitschaft zum Brückenbau zwischen unterschiedlichen Meinungen und wirbt um Verständnis für „Ausuferungen“ durch schwer traumatisierte Menschen. Der hoffnungsfrohe Neustart geriet allerdings schon auf der Wahlversammlung ins Holpern, als der bis dato amtierende UOKG-Vorsitzende gegen Auflagen einer rechtskräftigen Unterlassung verstieß (Landgericht Berlin) und erneut gegen einen ehemals politisch Verfolgten und wegen seiner Kritik an den Äußerungen von Rainer W. unliebsam gewordenen Vorsitzenden eines historischen Vereins polemisierte. Das allerdings geschah vor der Wahl Dombrowskis…

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Hoheneck-Ausstellung im Landtag von Brandenburg

Berlin/Potsdam, 15.12.2015/cw – Die Ausstellung „Das Frauengefängnis Hoheneck: 25 Portraits ehemaliger politischer Häftlinge“, eine Wanderausstellung der Heinrich-Böll-Stiftung Berlin, ist ab 12. Januar 2016, 18:00 Uhr, für drei Monate im Foyer des Landtages in Brandenburg zu sehen. Eröffnet wird die Ausstellung über den „dunklen Ort“ durch die Landtagspräsidentin Britta Stark (SPD). Ein Vortrag des Historikers Sebastian Lindner über die Haftanstalt und ein Zeitzeugengespräch mit der ehemaligen SMT-Verurteilten Annerose Matz-Donath (93) und der DDR-Verurteilten Eva Aust runden das interessante Eröffnungsprogramm ab. für den musikalischen Teil wurde der Barde Detlef Jablonski verpflichtet.

Zahlreiche ehemalige Hoheneckerinnen werden zur Eröffnung erwartet, unter diesen besonders auch Frauen, die für ein der Ausstellung vorausgehendes Buch (DER DUNKLE ORT, bebra-Verlag, 19,95 €) eigens von Dirk von Nayhauss (Fotos) und Maggie Riepl (Text) portraitiert worden waren. Tatjana Sterneberg (63), ehemalige Hoheneckerin und Mitarbeiterin der Redaktion Hoheneck, ist glücklich über den Erfolg ihrer langjährigen Bemühungen. Seit 2012 hatte sie sich für die Präsentation dieser eindrüklichen Schau auch in Potsdam eingesetzt.

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Betroffene: Demo gegen Rentenbetrug im April 2016

Berlin, 15.12.2015/cw – Zu einer Demonstration gegen den „Rentenbetrug“ an einstigen aus der DDR geflüchteten Menschen hat jetzt der Bürgerrechtler Wolfgang Graetz aufgerufen. Die Demonstration soll am 13. April 2016 stattfinden und über sechs Kilometer vom Sitz der Deutschen Rentenversicherung in der Ruhrstr.2 vor das Bundeskanzleramt, Willy-Brandt-Str.1 in Berlin führen, Beginn 14:00 Uhr.

Die IEDF (Interessengemeinschaft ehemaliger DDR-Flüchtlinge) hat sich vollinhaltlich dem Aufruf angeschlossen. Neben anderen Organisationen unterstützt auch die Vereinigung 17. Juni 1953 den Aufruf. Weitere Meldungen sind erbeten an Wolfgang Graetz, renten-dmo@gmx.de , damit dieser als Organisator eine Übersicht über mögliche Beteiligungen erhält. Graetz verweist darauf, dass eine Teilnahme „klar und deutlich“, d.h. verbindlich sein sollte. Da brauche es kein „wenn und aber“. Auch soll es bei dieser Demonstration ausschließlich um die Rentenproblematik gehen. Andere Themen wären „für das Anliegen kontraproduktiv,“ so Graetz in seinem Aufruf.

Leid und Unheil nach 25 Jahren vergessen?

Leid und Unheil nach 25 Jahren vergessen?

Der Bundestag hatte ohne seinerzeitige große Beachtung in der Öffentlichkeit das bis dahin geltende Rentenrecht abgeändert, wonach Deutsche, die vor dem Ende der DDR aus dieser geflüchtet waren, bei den Rentenleistungen mit Arbeitnehmern in der (alten) Bundesrepublik gleichgestellt worden waren (FRG – Fremdrentengesetz). Für deren Arbeitsleistungen in der DDR wurden der Rentenberechnung Beiträge zugrunde gelegt, als seien diese in der Bundesrepublik gezahlt worden. Damit unterstrich der Gesetzgeber seinen jahrzehntelang gepflegten Anspruch auf die staatliche Einheit beider Teile Deutschlands. Bei der „klammheimlich“ (Ottmar Schreiner, SPD) durchgeführten Änderung wurden nicht nur die ehem. DDR-Bürger nach 1990, sondern auch die einstigen Flüchtlinge als DDR-Rentner mit verminderten Leistungsanspüchen eingestuft.

Zu nächtlicher Stunde war es am 21.01.2012 im Deutschen Bundestag zu einem Schlagabtausch zwischen der damaligen SPD-Opposition und den Regierungsparteien CDU/CSU und FDP gekommen, wir berichteten (28.01.2012 http://www.17juni1953.de ). Der zwischenzeitlich verstorbene Sozialpolitiker Ottmar Schreiner (SPD) konnte sich nicht mit seiner Forderung durchsetzen, die klammheimlich durchgeführte Rentenänderung („Rentenbetrug“) wieder zu korrigieren. Allerdings versprachen SPD-Politiker den bei der Debatte anwesenden Vertrtetern zahlreicher Opferverbände, darunter IEDF und Vereinigung 17. Juni, im Falle einer Regierungsbeteiligung der SPD diesen Betrug zu heilen und das Gesetz entsprechnd wieder zu ändern. Der Vorsitzende der Vereinigung 17. Juni drückte in den nächtlichen Gesprächen nach der Bundestagsdebatte seine Skepsis gegenüber dieser Zusage aus. Zu oft seien die DDR-Diktatur-Opfer mit derartigen Versprechungen getröstet worden. Dabei habe sich die jeweilige Opposition immer wieder auf die jeweilige Regierung bezogen, gegen die man „gegenwärtig machtlos“ sei. Die SPD-Vertreter widersprachen dieser Skepsis vehement: Man könne sich auf die Zusagen der SPD verlassen.
Drei Jahre später, wir befinden uns seit 2013 in einer Großen Koalition zwischen CDU/CSU und SPD, steht die Umsetzung der einstigen Zusage immer noch aus. Und der Kämpfer Ottmar Schreiner ist tot.

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Willy Schreiber:
Ein DDR-Opfer soll seine letzte Ruhe finden

Markt Schwaben/Halle/Berlin, 15.12.2015/cw – Die Stasi hatte ihn seinerzeit bis nach Süd-Amerika verfolgt, Stasi-General Schwanitz hatte gar die Liquidation unterschrieben. Aber der kleine mutige Mann, einst Schausteller in der DDR und Betreiber einer Eis-Diele, überlebte.
Nach der Wiedervereinigung veröffentlichte er seine Biografie „IM VISIER“, schilderte seinen zermürbenden Kampf mit dem Stasi-Moloch, seine Flucht aus dem Arbeiter- und Bauernstaat und seine Überlebensstrategie. In der Neuauflage (TvR Medienverlag, 2000, ISBN 978-3-940431-14-1, Vorwort Norbert Blüm) ließ Schreiber in der 2. Auflage (2009) neben anderen ein brisantes Dokument abdrucken. Aus diesem ging hervor, daß der ehemalige Ministerpräsident der frei gewählten DDR-Übergangsregierung und seinerzeitige Scheidungsanwalt seiner Frau, Lothar de Maiziére, der Stasi die Fluchtabsichten des Willy Schreiber übermittelt hatte (S. 279/280). Für den gefeierten Lothar hatte diese Veröffentlichung bislang keine negativen Folgen, obwohl sich Schreiber bis zu seinem Tod im Sommer d.J. nach Aussage seiner Freunde Hoffnung darauf machte, von Lothar de Maiziére zumindest eine Entschuldigung für dessen Verrat zu erhalten.

Der gebürtige Hallenser hatte immer wieder den Wunsch geäußert, im Grab seiner ersten Frau in Halle beigesetzt zu werden, allerdings so gut wie keine Vorsorge für diesen Fall getroffen. Als Optimist erhoffte er sich wohl noch eine längere Lebenszeit mit möglichst vielen seiner bereits zahlreich absolvierten und gut besuchten Lesungen, um dann „irgendwann“ seine Vorsorge treffen zu können. Der Krebs machte alle diese Hoffnungen zur Makulatur. Eine notwendig gewordene Operation überlebte Schreiber nur um wenige Tage.

Nun steht seine Urne seither in einem Münchner Krematorium. Laut Aussagen des eingesetzten Nachlassverwalters fehlen rechnerisch knappe 2.000 Euro, um Willy Schreiber seinen letzten Wunsch erfüllen, ihn in Halle beisetzen zu können. Anderenfalls, so der Verwalter, müsse Schreiber anonym in München beigesetzt werden. Die Vereinigung 17. Juni, will „diesen schrecklichen Ausblick für einen Kameraden“ verhindern und zumindest den Versuch unternehmen, mit einem Spendenaufruf den letzten Wunsch des DDR-Opfers erfüllen zu können. Daher bittet der Verein „um viele kleine oder auch großzügige Spenden“ auf das Konto „Vereinigung 17. Juni 1953 e.V., IBAN DE27 7009 1600 0000 6329 02, Verwendungszweck : Beisetzung Willy Schreiber“. Sollte der Spendeneingang wider Erwarten die anfallenden Überführungs-und Beisetzungskosten übersteigen, so wird die übersteigende Summe für ähnliche Fälle separiert, fließt also nicht in den normalen Vereinshaushalt ein. Das garantiert der Verein. „Auf Wunsch werden bei Beträgen über 100 Euro auch Spendenquittungen übersandt, die steuerlich absetzbar sind, weil wir als gemeinnützig anerkannt sind,“ heißt es dazu in dem Spendenaufruf durch den Vorstand.

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Hagen Koch:
Der Grenzstrichzieher vom Checkpoint ist tot

Berlin, 15.12.2015/cw – Hagen Koch,  bekannt als Maler des berühmten „Weißen Strichs“ am Grenzübergang Checkpoint Charlie (im DDR-Sprachgebrauch „GÜSt. Zimmerstraße“), der dort die Trennung zwischen Ost und West markierte, ist tot. Er starb Ende letzten Monats vermutlich an den Folgen eines vor Jahren erlittenen Schlaganfalls. Über die näheren Umstände seines Todes ist ebensowenig bekannt wie über Form und Zeitpunkt seiner Beisetzung. Wir werden in unserer nächsten Ausgabe auf das Leben und Wirken von Hagen Koch eingehen, der sich besonders um die Rettung vieler Mauer-Segmente aber auch zahlreicher DDR-Dokumente um den Mauerbau verdient gemacht hat.

Seine Familie hat um Stillschweigen um seinen Tod gebeten. Wir haben uns mehrere Wochen daran gehalten. Da Hagen Koch zweifellos eine Person der Zeitgeschichte ist, konnten wir unsere Information nicht länger zurückhalten. Das sind wir unserem Auftrag und auch Hagen Koch schuldig.

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Hinweis: Die bisherigen Ausgaben des Hohenecker Boten können unter http://www.17juni1953.de abgerufen oder direkt bei der Redaktion gegen Kostenbeitrag bestellt werden (Redaktion: Siehe Impressum). Die Vereinigung 17. Juni 1953 e.V. hat der Redaktion Gastrecht auf der Homepage eingeräumt, der Verein ist für die Inhalte nicht verantwortlich. Namentlich gezeichnete Artikel geben die Meinung des/der Verfasser/Verfasserin wieder.
Impressum: Der „Hohenecker Bote“ ist einzig der demokratischen Auseinandersetzung und den Anliegen der Verfolgten beider Diktaturen verpflichtet, parteipolitisch und vereinsrechtlich unabhängig und erscheint in der Mitte eines jeden Monats. Beiträge dürfen b.a.W. kostenlos unter Zurverfügungstellung von Nachweisen (Belegen) insbesondere von gemeinnützigen Vereinen der Verfolgten- und Opferszene beider Diktaturen in Deutschland genutzt oder weiterverbreitet werden. Fotos dürfen grundsätzlich nur unter ausdrücklicher Zustimmung bzw. zu den Bedingungen der Redaktion genutzt werden. Redaktion: Carl-Wolfgang Holzapfel (cw) – verantwortlich; redaktion.hoheneck@gmail.com ; Kaiserdamm 9, D-14057 Berlin, Tel.: 030-30207785 oder 0176-48061953; Fax: 030-30207786 (derzeit außer Betrieb). Anzeigen auf Anfrage.

Von Carl-Wolfgang Holzapfel

Dieter Wohlfahrt *27.05.1941 -  † 09.12.1961

Dieter Wohlfahrt *27.05.1941 – † 09.12.1961

Berlin, 9.Dezember 2015 – Heute, vor 54 Jahren, verblutete an der Zonengrenze in Staaken der damals 20-jährige Student Dieter Wohlfahrt im Scheinwerferlicht britischer Militärpolizisten. Er wäre jetzt 74 Jahre alt. Die MP sah teilnahmslos zu, wie DDR-Grenzsoldaten nach Wohlfahrts Tod den Stacheldraht aufschnitten, um den Ermordeten zwei Stunden nach den tödlichen Schüssen in das „Staatsgebiet der Deutschen Demokratischen Republik“ zu ziehen. Ganz im DDR-Stil wird diese Tatsache der Untätigkeit, sprich Hilfeverweigerung durch die britische Militätpolizei auf der am Tatort neben dem Mahnkreuz aufgestellten Stele so geschildert: „Westliche Rettungsversuche wurden von DDR-Grenzposten unter Androhung von Waffengewalt vereitelt.“ Verantwortlich für den Text ist die Stiftung Berliner Mauer.

Stiftung Berliner Mauer: Geschilderter Vorgang, der so nicht stattgefunden hat. Foto: LyrAg

Stiftung Berliner Mauer: Geschilderter Vorgang, der so nicht stattgefunden hat.
Foto: LyrAg

Sebastian Haffner nahm Wohlfahrts Sterben zum Anlass,  nach diesem „schrecklichen Mord“ in „CHRIST UND WELT“ die dramatischste Anklage zu schreiben, die je zu diesem Thema geschrieben wurde („Der Mord an der Mauer“). Auch Haffner beschrieb die kaltherzige Untätigkeit der angerückten britischen MP, die nach den Schüssen alarmiert worden war und  sich einzig darauf kapriziert hatte, die Szenerie des sterbenden Fluchthelfers mit aufgestellten Scheinwerfern auszuleuchten.

Der in den Abendstunden des 9. Dezember 1961 nach 19:00 Uhr ermordete Chemie-Student war der erste „Peter Fechter“ nach dem Mauerbau vom 13. August 1961. Sein Tod war besonders tragisch, weil im Gegensatz zu dem am 17. August 1962 nahe dem Checkpoint Charlie erschossenen Peter Fechter keine Mauer eine unüberwindlich erscheinende Barriere darstellte. Nur eine Nylonschnur war zwischen den möglichen Helfern und dem verblutenden Dieter Wohlfahrt gespannt. Bis heute wird diesem bis dahin beispiellosen und rüden Mord an einem ausschließlich humanistisch denkenden jungen Menschen und seinem offenbar sinnlosen, weil durch Hilfeverweigerung verursachten Sterben die Aufmerksamkeit verwehrt, die bis heute Peter Fechter gewidmet wurde und wird.

Nur eine Nylonschnur (re.) trennte den Sterbenden von der angerückten britischen Militärpolizei. Foto: Archiv

Nur eine Nylonschnur (re.) trennte den Sterbenden von der angerückten britischen Militärpolizei.
Foto: Archiv

Ausschließlich die Appelle des damals verantwortlichen österreichischen Konsuls in Berlin an die Medien, den „Vorfall mit Rücksicht auf die in Ost-Berlin lebende Mutter und seine Schwester nicht hochzuspielen“ hatten die seinerzeitige Aufmerksamkeit eingeschränkt. Eine Korrektur wurde bis heute nicht vorgenommen. Weil das offensichtliche Fehlverhalten einer alliierten Besatzungsmacht auch heute nicht diskutiert werden soll?

Dieter Wohlfahrt hatte im Spanien-Urlaub vom Bau der Mauer erfahren. Er brach ohne Zögern seinen Urlaub ab und kehrte nach Berlin zurück. Dort schloss er sich einer studentischen Fluchthilfegruppe an (Girrmann, Thieme, Köhler u.a.). Obwohl 1941 in Berlin geboren, verdankte er seinem 1955 verstorbenen Vater die österreichische Staatsbürgerschaft. So konnte er als Osterreicher die Grenze auch nach dem 13. August 1961 ohne Hindernisse passieren, ein für die Vorbereitung von zahlreichen Fluchten unverzichtbarer Vorteil.
(Siehe auch: https://17juni1953.wordpress.com/2011/12/02/dieter-wohlfahrt-er-war-der-erste-peter-fechter-nach-dem-mauerbau/ und https://www.google.de/search?q=Der+Mord+an+der+Mauer,+Dieter+Wohlfahrt+%2B+Sebastian+Haffner&sa=N&biw=1638&bih=813&tbm=isch&tbo=u&source=univ&ved=0ahUKEwjom82R9czJAhWBhSwKHZmyBNE4FBDsCQhF). …

Stilles Gedenken 2015 - Foto: LyrAg

Stilles Gedenken 2015 –
Foto: LyrAg

Damals 17jährig erinnere ich mich noch heute lebhaft an dieses brutale Ereignis, von dem wir damals regelrecht geschockt waren. Von 1962 bis zu meiner Verhaftung durch DDR-Grenzposten 1965 organisierte ich am errichteten Holzkreuz zum jeweiligen Todestag  ein Gedenken an den „durch nichts entschuldbaren Mord“, wie es Sebastian Haffner in seinem anklagenden Artikel am 15.12.1961 treffend formulierte. Wir hielten in den dunklen Abendstunden mit Fackeln jeweils für mehrere Stunden eine Mahnwache.

Auch 2015 gedenken wir dieses mutigen und uneigennützigen Vorbildes. Wir haben eine kleine Blumenschale und ein Licht am Mahnkreuz in Staaken aufgestellt. Dieter Wohlfahrt – Unvergessen (1.063).

V.i.S.d.P.: C.W.Holzapfel und Redaktion Hoheneck, Berlin – Tel.: 030-30207785

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