Rückblick auf ein unwürdiges Medienspektakel

Gastbeitrag von Susanne Baumstark

28.02.2012/suba – „Käme er, man würde ihn zum zweiten Mal kreuzigen“, schrieb Goethe seinerzeit. In dieser Stimmung mögen sich manche befunden haben, die sich mit der „Causa Wulff“ intensiv auseinandersetzten. Der zurückgetretene Bundespräsident Christian Wulff wurde in aller Öffentlichkeit bloß gestellt, angeklagt und vorverurteilt, als Waschlappen dargestellt und mit richterlicher Genehmigung als Lügner stigmatisiert. Auch vor sexistischen Einlagen schreckten Werbemanager nicht zurück. Die Häme befeuerten seriös auftretende Moderatoren und Journalisten. Günther Jauch meinte vor einem Millionenpublikum in der ARD, Christian Wulff erschiene ihm „entrückt“ (1) und fragte süffisant, ob dieser nicht restlos pleite sei, falls er den Ehrensold nicht bekommt. Gelächter und Beifall im Publikum ob dieser grenzüberschreitenden Frage. Ebenfalls im öffentlich-rechtlichen Fernsehen wurde das Publikum im Morgenmagazin dazu angeregt, sich einen Wulff-Witz auszudenken (2). Und selbst der stellvertretende Redaktionsleiter bei evangelisch.de konnte sich nicht zurückhalten zu schreiben, dass Wulff ins Mikrofon „blaffte“ (3). Und weiter: „Die Medienberichterstattung habe ihn und seine Frau ‚verletzt‘, und weil die Welt so böse und gemein ist…“ – selbst er als Christ ist also nicht in der Lage, Gefühlsäußerungen zu respektieren und macht obendrein durch die Wortwahl deutlich, dass er diese auch nicht ernst nimmt.

Aufklärung soll das sein, behaupten einige Vertreter von Leitmedien bis heute. Tatsächlich war es mehr als das. Die Gewichtung von Wulffs auch kleinster Verfehlungen, das Weglassen relevanter Informationen sowie eine niveaulose, diskriminierende Wortwahl geben dieser „Causa“ den Anschein einer Propaganda. Schnell vorwärts und vergessen, scheint nun das Motto zu sein. Wir sind doch jetzt einen Schritt weiter, so Jakob Augsteins Replik auf eine Medienkritik des Schweizer Journalisten Jürg Dedial in kulturzeit (4). Wenn aber Vertrauen zwischen Bevölkerung, Medien und Politik noch eine Chance bekommen soll, dann ist das Gegenteil angesagt: stehen bleiben und Rückschau halten. Wenn der Teufel im Detail steckt, hier nämlich in der Wortwahl, ist eine Aufarbeitung aufwändig. Für eine Gesamtschau lohnt es sich dennoch, ein paar Beispiele aus vergangenen Pressetagen aufzulisten. Angefügt sind offene Fragen, die sich daraus ergeben.

Beispiele und Fragen

Manfred Schweidler schrieb nach Wulffs Rücktritt in der Mainpost: „Wäre es weitergegangen, hätte manche(r) fürchten müssen, mit in den Abgrund gerissen zu werden. Um den penetranten Pfarrer Peter Hintze, der Wulff bis zuletzt eifernd verteidigte, wäre es allerdings nicht schade.“ (5) Steht das im Einklang mit dem Pressekodex?

Der Deutsche Journalisten-Verband hat sich „gegen den Vorwurf zur Wehr gesetzt, die Journalisten hätten den am heutigen Freitag zurückgetretenen Bundespräsidenten Christian Wulff mit ihrer Berichterstattung verletzt.“ (6) Außerdem habe der scheidende Bundespräsident bis zum Schluss den Vorwurf nicht entkräftet, er habe kritische Berichterstattung verhindern wollen. Meint der Journalisten-Verband, er könne anderen Menschen ihre Gefühle absprechen? Wie soll ein Vorwurf entkräftet werden, wenn das Gegenteil nicht beweisbar ist?

Die Welt pauschalierte, Wulff respektiere „weder Presse- noch Meinungsfreiheit und missachtet Regeln der offenen Bürgergesellschaft.“ (7) Und Spiegel Online sprach Wulff bereits am 6. Januar kurzerhand die Menschenwürde ab. Warum sich der Autor Helmut Däuble dabei der lateinischen Sprache bedient, bleibt der Spekulation der Leserschaft überlassen: „Seine Hülle kann noch geraume Zeit im Amt bleiben, die dignitas seiner Person ist unwiederbringlich verloren.“ (8)

Unzählbar viele mit unbewiesenen Behauptungen und Beleidigungen gespickte Artikel wurden veröffentlicht. Und trotz aller Leserbeschwerden meint Die Welt: „Schuld sind nicht die Medien, schuld ist nicht die Justiz und auch nicht die Politik. Der Umgang mit der Affäre Wulff ist vorbildlich für eine Demokratie.“ (9)

Dass einige Journalistenkollegen dies genau gegensätzlich sehen, erwähnt Die Welt nicht. Durchaus kritische Stimmen fanden sich – bis zu einem gewissen Zeitpunkt – in einigen Gastbeiträgen und Interviews. Gernot Fritz, stellvertretender Chef des Bundespräsidialamts unter Roman Herzog, schrieb in der Frankfurter Rundschau unter dem Titel „Pranger der Selbstgerechten“: „Meinungsstärke aus Nichtwissen zu gewinnen – ein Lehrstück des Pharisäertums, an dem gegenwärtig viele Statisten lustvoll mitwirken…Hier wird Inquisition als öffentlicher Showdown betrieben mit dem Kopf des Präsidenten als Hauptgewinn.“ (10) Dazu passend ein Kommentar eines Users auf faz.de, der das Titelbild der Bildzeitung nach Wulffs Rücktritt dem einer Jagdtrophäe nicht unähnlich fand. (11)

Am 14. Januar erschien in der Frankfurter Neuen Presse ein Beitrag von Michael Kluger unter dem Titel „Wulffs Hinrichtung“: „Diese Demontage eines deutschen Staatsoberhaupts ist ohne Beispiel…Der Furor, mit dem an ihm und auch dem Amt gesägt wird, ist…von einer Gnadenlosigkeit, Verbissenheit und Brutalität, für die es hierzulande kein Vorbild gibt…Welchen Schaden diese Affäre für die Zukunft anrichtet, ist noch nicht abzusehen. Was an ihr bestürzt, ist das hysterische Vergnügen an der Demontage, die Gier, den, der fällt, auch noch zu stoßen…Die Hemmungslosigkeit als Debattenstil und Umgangsform ist für eine demokratische Gesellschaft, die auf Auskommen zielt, ein fataler, ja brandgefährlicher Irrtum.“ (12)

Alexander Marinos traute sich, im Generalanzeiger vom 16. Januar zu schreiben: „Ein Kommentator, der in einer Zeitung zu einer Medienkritik ansetzt, betritt dünnes Eis…Diese Recherche im Klein-Klein wirkt vor allem: kleinkariert. Sie nährt den Verdacht, dass ganze Redaktionen regelrecht beleidigt sind, weil Wulff nicht zurücktritt. Vor lauter gekränkter Eitelkeit pusten und pusten sie heiße Luft in den Empörungsballon…“ (13)

Von „sehr viel Verdachtsberichterstattung“ sprach Hans Mathias Kepplinger, Professor für empirische Kommunikationsforschung an der Uni Mainz, im Deutschlandradio. Die Dinge seien zum Teil „an den Haaren herbeigezogen“. (14)

Warum sind diese kritische Stimmen plötzlich allesamt verstummt?

Transparenz nur bei Bedarf

Bemerkenswert ist, was Presse und Fernsehen nicht berichteten. Da ist zum Beispiel die „Schuh-Demonstration“ vor dem Schloss Bellevue – von Wulff-Gegnern und öffentlich-rechtlichen Medien mehrmals zur Unterstützung ihrer Thesen herangezogen. Diese Demonstration organisierte das aktive DKP-Mitglied Klaus Meinel, früher Ex-Major der Stasi. Ist das für die Gesamtbeurteilung der Situation wirklich unerheblich?

Hape Kerkelings Facebookseite, auf der er Wulff unterstützte, wurde von Facebook gelöscht (15) – nicht berichtenswert? Nachdem die Seite verschwunden war, konnte man in einigen Zeitungen lesen, Kerkeling habe sie gelöscht. Um den journalistischen Anforderungen zu genügen, hätte es hier mindestens einer Richtigstellung bedurft.

Ebenfalls nicht berichtet wird über nicht lange zurückliegende Vorgänge bei der Staatsanwaltschaft Hannover, die letztendlich Wulffs Rücktritt auslöste. Erst 2010 schrieben Die Zeit und andere über die dortige „Justizaffäre“ (16). Bis heute sind dort dieselben Personen tätig. Warum sollte das Vorleben dieser Institution, die solch eine weit reichende Entscheidung trifft, weniger wichtig sein, als jenes des Bundespräsidenten?

Nicht ausreichend berichtet wurde außerdem über die Entkräftung eines Vorwurfs. Die sächsische Freie Presse schrieb am 6. Februar: „Bundespräsident Christian Wulff hatte nach Aussage des ehemaligen Leiters der Wirtschaftsabteilung in der Hannoveraner Staatskanzlei, Mathias Middelberg, keine Hinweise auf die VW-Übernahmepläne von Porsche. Die am Wochenende vom Nachrichtenmagazin ‚Der Spiegel‘ veröffentlichten Vorwürfe gegen ihn und Wulff seien ‚konstruiert‘, sagte Middelberg am Montag dem Radiosender NDR1 Niedersachsen.“ (17) Warum bekam die Bekräftigung der Vorwürfe in der Presse deutlich mehr Gewicht als deren Entkräftung?

Wie bigott einige mit der Transparenzfahne umher eilende Journalisten agieren, zeigt ihr Verhalten während der Fragestellungen an Wulff. Während Die Welt proklamierte: „Größtmögliche Transparenz im Fall der Kreditaffäre des Bundespräsidenten: Die ‚Welt‘ dokumentiert sämtliche Anfragen zur Causa Christian Wulff“ (18), war in dem von Wulffs Anwaltskanzlei ins Netz gestellte Dokument zu lesen: „Ein Redakteur einer Tageszeitung hat seine Zustimmung an die Bedingung geknüpft, dass seine Fragen nur anonymisiert und ohne Nennung der Zeitung veröffentlicht werden. Eine an bestimmte Beschränkungen geknüpfte Zustimmungserklärung liegt uns von einem Redakteur des Stern vor. Die Welt hat uns bestimmte Fragen ausdrücklich unter dem Vermerk „vertraulich“ gestellt. Wir haben deshalb bei der Veröffentlichung die Passagen geschwärzt und kenntlich gemacht, für die uns nur eingeschränkte Zustimmungen vorliegen.“ (19) Aus dem Dokument ist auch ersichtlich, wie Journalisten mit der Fristsetzung zur Beantwortung ihrer Anfragen umgingen. So schrieb etwa Hans-Martin Tillack vom Stern in einer E-Mail mit sechs Fragestellungen am Sonntag, 18.12.2011, um 20 Uhr: „Ich darf Sie um eine Beantwortung am morgigen Montag, dem 19.12.2011, bis 12 Uhr bitten.“ (20) Wer sich eine möglichst ausgewogene Einschätzung in der Causa Wulff aneignen will, sollte sich das Dokument ausführlich ansehen. Wer das Bild vom professionellen Journalismus in Deutschland bewahren will, lässt es besser sein.

Medien konterkarieren Meinungsfreiheit

Das verwunderte Volk mag sich die Augen reiben ob der Vorgänge der letzten Zeit. Manch eine aufmerksame Person wird sich fragen, wer eigentlich jemals sagte, die Medien dürften nicht recherchieren und Fragen stellen. Fakt ist: Das hat kein Mensch gesagt oder geschrieben. Die Kritik bezieht sich auf die unfaire Art und Weise der Berichterstattung, auf die beleidigende, unsachliche Wortwahl und auf die unausgewogene Darstellung von Pro- und Contra-Argumenten. Der von den Medien erfundene Vorwurf dient jetzt der gegenseitigen, in Talkshows zelebrierten Beschwichtigung, wie gut und richtig die Medienarbeit doch gewesen sei. Das ist eine inszenierte Wirklichkeit. Manch eine Person mag auch erstaunt darüber sein, dass plötzlich die ARD einen Sozialneid schürt, wie er von der populistischen Linken nicht besser hätte transportiert werden können – siehe Frank Plasbergs Müllmänner (21), die angeblich alle wütend sind auf den zurückgetretenen Bundespräsidenten.

Die jüngste Entwicklung bietet Anlass zur Sorge. Grundlegende Regeln des solidarischen Zusammenlebens, inklusive der vom Deutschen Presserat formulierte Pressekodex, sind in Frage gestellt: Grenzüberschreitungen und Hemmungslosigkeit werden hoffähig, Begriffe wie Moral und Anstand entwertet und das Recht jedes Menschen auf Respekt vor seinen subjektiven Empfindungen wird hintergangen – es ist deplatziert, subjektive Gefühlsäußerungen zu kommentieren, wie das Journalisten bei Wulff praktizierten. Jeder Coach, Gruppensoziologe, Psychologe, weiß das. Wo sind diese Stimmen? Es gäbe viele interessante Dinge zu berichten und zu debattieren. Zum Beispiel, welches Menschenbild wir in Deutschland grundsätzlich vertreten. Zeichnet eine moderne, plurale Gesellschaft aus, dass man Spott und Häme lustig findet oder ist Schadenfreude eher etwas für vormoderne Gesellschaften? Es gibt eine ganze Reihe an Fragen, die sich hier anfügen ließen.

Laut Pressekodex sollen Medien ausgewogen über Sachverhalte berichten, damit sich die Bürger eine eigenständige Meinung bilden können. Spätestens seit den medialen Vorgängen um Wulff drängt sich der Eindruck auf, dass genau das Gegenteil der Fall ist: Leitmedien oktroyieren ihre Meinung der Gesellschaft auf. Damit sind nicht journalistische Darstellungsformen wie Kommentar oder Glosse gemeint, die selbstverständlich auch die Funktion haben, die Richtung des jeweiligen Medienverlags respektive der Journalisten zu repräsentieren. Es ist damit gemeint: Penetranz durch ständige Wiederholung gleicher Sachverhalte sowie populistische Degradierung anderslautender Meinungen. Alles und jeder wird mit herabsetzenden Äußerungen bedacht, wenn es nicht die eigene transportierte Theorie stützt. Wer hat unter diesen Umständen noch Lust, von seinem Recht auf Meinungsfreiheit Gebrauch zu machen? Diese Art der versuchten Gleichschaltung sowie die Methode der Zielerreichung mittels Diffamierung hatten wir schon zweimal in der jüngeren deutschen Geschichte. Karl Jaspers Beobachtung ist offenbar aktueller denn je: „Welche Journalisten ein Volk hervorbringt, das ist heute sein Schicksal.“

© 2012 by Susanne Baumstark*

* Die Autorin ist Redakteurin und Dipl.Soz.Pädagogin.

Quellennachweise:

(1) ARD-Sondersendung „Günther Jauch“ vom 17.2.2012

(2) Morgenmagazin vom 20.2.2012

(3)  http://www.evangelisch.de/themen/politik/christian-wulff-ein-unversch%C3%A4mter-r%C3%BCcktritt58098 letzter Zugriff am 23.2.2012

(4) kulturzeit in 3sat vom 22.2.2012

(5) http://www.mainpost.de/ueberregional/meinung/Standpunkt-Zu-klein-fuers-grosse-Amt;art9517,6623927 letzter Zugriff am 23.2.2012

(6) http://www.djv.de/SingleNews.20+M5ea62544f87.0.html letzter Zugriff am 23.2.2012

(7) http://www.welt.de/debatte/kommentare/article13794888/Christian-Wulff-ein-Stromberg-im-Schloss-Bellevue.html  letzter Zugriff am 23.2.2012

(8) http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,807506,00.html letzter Zugriff am 28.2.2012

(9) http://www.welt.de/debatte/article13875657/Christian-Wulff-ein-Opfer-seiner-selbst.html  letzter Zugriff am 23.2.2012

(10) http://www.fr-online.de/meinung/einspruch-pranger-der-selbstgerechten,1472602,11351656.html letzter Zugriff am 23.2.2012

(11) http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/ruecktritt-des-bundespraesidenten-wulffs-kapitulation-11653679.html letzter Zugriff am 23.2.2012

(12) http://www.fnp.de/fnp/nachrichten/kommentare/leitartikel-wulffs-hinrichtung_rmn01.c.9513099.de.html letzter Zugriff am 23.2.2012

(13) http://www.general-anzeiger-bonn.de/news/kommentare/die-wulff-affaere-in-den-medien-abruesten-jetzt-id602329.html  letzter Zugriff am 23.2.2012

(14) http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1672027/ letzter Zugriff am 23.2.2012

(15) Hape Kerkeling in der NDR-Sendung „Tietjen und Hirschhausen“ vom 20.1.2012: „Also das ist und war meine private Facebookseite und in der Tat, das habe ich auf meiner privaten Facebookseite geschrieben mit dem Ergebnis, dass sie jetzt von Facebook gesperrt wurde.“

(16) http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2010-05/justizaffaere-hannover letzter Zugriff am 23.2.2012

(17) http://www.freiepresse.de/NACHRICHTEN/WIRTSCHAFT-BOERSE/Middelberg-Vorwuerfe-gegen-Wulff-zu-VW-Uebernahme-sind-konstruiert-artikel7897422.php letzter Zugriff am 23.2.2012

(18) http://www.welt.de/politik/deutschland/article13812449/Welt-veroeffentlicht-alle-Fragen-zur-Causa-Wulff.html letzter Zugriff am 23.2.2012

(19) http://pdf.redeker.de/downloads/pm/hinweise.pdf letzter Zugriff am 23.2.2012

(20) http://pdf.redeker.de/downloads/pm/Teil%201%20Stand%2018012012%20mit%20ZDF.pdf (Seite 21) letzter Zugriff am 23.2.2012

(21) ARD-Talkshow „Hart aber fair“ vom 9.1.2012