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1988 fand in Naumburg eine Widerstandsaktion statt, die weitgehend unbekannt blieb

von Michael Kleim*

„Ich schwieg eine lange Zeit,        war still und hielt an mich mich.         Nun aber will ich schreien wie eine Gebärende.      Ich will laut rufen und schreien.“     Prophet Jesaja, Kap. 42  (aus der Erklärung der Demonstranten)

Es war Dienstag, der zweite Februar,          ein ganz besondrer Tag.       Zum ersten Mal im Leben kriminell.          Und nur, weil man die Wahrheit sagt.“ (Liedvers von Matthias Meyer)

Ein Stasi-Telegramm

Am 3. Februar sandte die Bezirksverwaltung Halle des Ministeriums für Staatssicherheit ein internes, dringliches Telegramm an Generalmajor Kienberg, Leiter der Hauptabteilung XX des MfS in Berlin. Darin stand:

MfS-Telegramm aus Halle an die Stasi-Zentrale - Archiv: M.Kleim

MfS-Telegramm aus Halle an die Stasi-Zentrale – Archiv: M.Kleim

„Durch zuverlässige informelle Mitarbeiter wurde bekannt, dass am 2. Februar 1988 auf dem Marktplatz in Naumburg Protest gegen staatliche Maßnahmen in demonstrativer Absicht bekundet werden sollte. Gegen 16:30 versammelten sich 15 Personen in der Mitte des Marktplatzes und vermummten ihre Gesichter mit Tüchern. Ein Teilnehmer begann ein Pamphlet zu verlesen, in dem eine Solidarisierung mit Inhaftierten ausgesprochen und der Staat wegen Unterdrückung des verfassungsmäßigen Rechtes auf Gewissens- und Meinungsfreiheit angeklagt wird.“

Was war geschehen?

Tatsächlich fand an diesem Tag in Naumburg eine der wenigen Demonstrationen statt, die von der politischen Opposition zwischen 1953 und 1989 ausgegangen waren. Auslöser für die Widerstandaktion war zu Beginn die Absicht, sich im öffentlichen Raum mit inhaftierten Dissidenten zu solidarisieren. Im Vorfeld der offiziösen Luxemburg–Liebknecht-Demonstration in Berlin Januar 1988 war es zu verstärkten Repressionsmaßnahmen des DDR-Staates gegen unliebsame BürgerInnen gekommen. Zu den Betroffenen gehörten unter anderen Bärbel Bohley, Freya Klier, Lotte und Wolfgang Templin, Ralf Hirsch und Werner Fischer. Die in Naumburg agierenden Oppositionsgruppen, wie Friedenskreis, Menschenrechtsgruppe und Studentengemeinde waren eng mit der Berliner Initiative Frieden und Menschenrechte verknüpft. Bei der Planung der Solidaritätsprotestes entschieden sich die Beteiligten, daraus eine grundlegende Aktion gegen staatliche Willkür und für Meinungsfreiheit zu machen. In der während der Demonstration verlesenen und danach weiter verbreiteten Erklärung hieß es:

Als Pamphlet diffamiert: Aufruf zum Widerstand - Archiv: M.Kleim

Als Pamphlet diffamiert: Aufruf zum Widerstand – Archiv: M.Kleim

Wir machen von unserem verfassungsmäßig garantierten Recht der Gewissens- und Meinungsfreiheit Gebrauch. Bezugnehmend auf die Ereignisse in Berlin und in anderen Städten der DDR und aufgrund eigener Erfahrungen müssen wir feststellen, dass oben genannte Rechte nicht gewährleistet sind. Wenn wir uns in unserem Selbstverständnis als mündige Bürgerinnen und Bürger mit unserem Anliegen an die Öffentlichkeit wenden, möchten wir das als zeichenhafte, bewusst gewaltfreie Handlung verstanden wissen. Jeder einzelne von uns hat sich durch die persönliche Betroffenheit über offensichtliche Missstände zu diesem Schritt entschlossen.

Erst kurz vorher erhielt die Stasi durch eine Denunziation Kenntnis von der geplanten Aktion. Gemeinsam mit der Polizei wurde die Demonstration brachial unterbunden. Die Teilnehmenden wurden zugeführt und verhört.

Auf Grund der in Berlin erfolgten Verhaftungswelle waren wichtige Kontaktpersonen nicht erreichbar. Die Berliner Szene befand sich im Ausnahmezustand. Deshalb konnten Informationen über die Aktion nicht wie geplant innerhalb der DDR-Opposition weiterverbreitet und an westliche Medien weitergeleitet werden. So blieb die Wahrnehmung dieser mutigen Geste auf das Naumburger Umfeld begrenzt.

Nachspiel

Duie Mutigen von Naumburg - Archiv: M.Kleim

Die Mutigen von Naumburg – Archiv: M.Kleim

Bei den leitenden SED-Funktionären lagen die Nerven blank. Das brutale Vorgehen gegen die DDR-Opposition hatte viel Staub aufgewirbelt. Westliche Medien berichteten ausführlich, die DDR-Führung geriet unter Druck.

Die Naumburger Aktivisten wiederum waren zum Teil Studierende der hiesigen kirchlichen Hochschule. Zudem hatten sie persönliche Kontakte in die Bundesrepublik, Niederlande, England und Kanada. Da wollten die Behörden wohl den Ball lieber flach halten. Noch mehr Ärger konnte man sich an dieser Stelle wohl nicht gönnen. Deshalb verliefen die staatlichen Reaktionen auf die Demonstration nach außen scheinbar glimpflich. Nur einen der Beteiligten hatte sich die Stasi als Rädelsführer ausersehen. Er wurde mit einer Ordnungsstrafe belegt.

Nach 1989 wurde in den Stasiakten der Betroffenen allerdings ersichtlich, dass der Geheimdienst hinter den Kulissen durchaus die Daumenschrauben angezogen hatte. Alle Beteiligten der Aktion wurden registriert. Bei Vielen wurden Operative Vorgänge eingeleitet. Dies war mit sogenannten Zersetzungsmaßnahmen verbunden. Zudem sammelte die Stasi über die Personen Material, um politische Strafprozesse vorzubereiten.

Nicht vergessen…

Noch immer gibt es überraschende Erkenntnisse, welchen Mut, welche Phantasie Menschen in der DDR aufgebracht haben, um gegen die Lähmung durch die Diktatur anzukämpfen. Nicht alles wurde dokumentiert. Manches wurde übersehen. Doch heute, wo autoritäre Gesellschaftsmodelle leider wieder an Boden gewinnen, ist die Erinnerung an die Vielfalt des Widerstandes in der DDR eine bitter-süße Notwendigkeit.

* Der Autor ist Jugendpfarrer in Gera.

V.i.S.d.P.: Der Autor und redaktion.hoheneck@gmail.com – Berlin – Tel.: 030-30207785 (1.216).

 

 

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