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Von Carl-Wolfgang Holzapfel*

Jena/Berlin, 14. Oktober 2016 – „Wer ist Reinhard Goering?“ fragte Ludwig Sternaux (*17.07.1885 + 9.09.1938, Schriftsteller, Journalist, Dramaturg, Theaterdirektor, 1918 Theaterkritiker für die Tägliche Rundschau) zur Uraufführung der „Seeschlacht“ im Jahre 1918. Und Sternaux fuhr fort: „Noch vor kurzem wußte niemand von ihm; jetzt wissen viele, wissen alle um ihn.“

Am 14. Oktober 2016 jährt sich Goerings 80. Todestag. Vor 80 Jahren wurde sein Leichnam in den beginnenden kalten Novembertagen in dem Wald bei Jena gefunden. Goering (studierter und zeitweilig praktizierender Arzt) hatte sich eine tödliche Spritze verabreicht und zusätzlich, wohl um sicher zu gehen, mit einer Pistole erschossen. Nach der Obduktion wurde der Todestag offiziell auf den 14. Oktober 1936 festgelegt.

Reinhard Goering

Reinhard Goering

Goering hinterließ seine junge Frau und zwei Söhne. Auch wenn heute in Jena eine Tafel an den Träger der damals höchsten literarischen Auszeichnungen (Schiller- >1922< und Kleist-Preis >1930<)   erinnert („Hier wohnte 1936 Reinhard Goering“), so steht heute, fast einhundert Jahre nach seinem Freitod, erneut die Frage im Raum: Wer ist/war Reinhard Goering? Einst als führender Expressionist gefeiert und umjubelt, von Max Reinhard uraufgeführt und dem S.Fischer-Verlag verlegt, ist es still geworden um den „ewigen Sucher nach der Wahrheit“. Die letzte bekannte Aufführung eines seiner Dramen, Die Südpolexpedition des Kapitän Scott fand 1956 im Theater am Kurfürstendamm in Berlin statt; Langen-Müller brachte 1961 seine gesammelten Werke heraus; dtv verlegte 1966 in seiner Sonderreihe drei Dramen als Taschenbuch. Seither ist es, bis auf wenige Futures im Radio, still geworden um den Rastlosen. Zu still?

Reinhard Goering wurde am 23. Juni 1887 auf Schloss Biberstein (Hessen) als Sohn eines Regierungsbaurates geboren, der dort eine Dienstwohnung hatte. Bereits sein Vater schied durch Freitod aus dem Leben, seine Mutter verfiel der geistigen Umnachtung. Der Zehnjährige kam in ein Internat bei Traben-Trarbach. Nach dem Abitur (1905) ermöglichten Verwandte dem jungen Mann den Besuch der Universität, wo er zunächst Jura studierte, sich dann aber dem Medizinstudium zuwandte (Jena, Berlin und München). Während eines Studienabschnitts in Paris lernte er dort 2011 die Kunststudentin und jüdische Russin Helene Gurowitsch kennen, die Goering 1912 heiratete. Der Ehe entsprangen zwei Töchter, Susi (Zippendorf bei Schwerin) und Ingrid. Susi lebte, vom Nationalsozialismus ebenfalls zur Flucht gezwungen, bis zu ihrem Tod in Chile, Ingrid in Kanada.

Mit Lenin Schach in Davos

In einer Lyrisches Jahrbuch genannten Anthologie erschienen 1912 erste Gedichte (Verlag Schirmer und Mahlau, Frankfurt/Main). Der Herausgeber ist nicht mehr bekannt. Die Gedichte, obwohl über die zeitgleich veröffentlichten herausragend, drangen jedoch (noch) nicht in das literarische Bewusstsein der Öffentlichkeit, ebenso wenig sein ein Jahr später erschienenes Erstlingswerk, der Roman Jung Schuk. Auch Sternaux hält 1918 die Seeschlacht für Goerings erste Arbeit.

Als Goering 1914 in Bonn Medizin studierte, wird er nach einem Notexamina im Saargebiet als Militärarzt eingesetzt, wo er nach Wochen angestrengter Arbeit selbst an Tuberkulose erkrankte. Er kommt nach Davos, wo er die vier Kriegsjahre über bis 1918 kurt. Nach Erzählungen seines jungen Freundes und (späteren) Schwagers Siegfried Holzapfel soll er in Davos mit Lenin Schach gespielt haben.

In Deutschland wird Goering als Kriegsdienstverweigerer diffamiert. Wohl nicht zuletzt deswegen unterbricht er 1916 seinen Aufenthalt in Davos. Bald tritt jedoch ein Rückfall ein und er muß die Genesungskur fortsetzen. Hier entsteht die Seeschlacht im Gefolge der Schlacht im Skagerrak am 31. Mai 1916. Zunächst in Dresden unter Graf Nikolaus Seebach ein Skandal (1918) wird die Aufführung unter Max Reinhard in Berlin im selben Jahr zum Erfolg.

Doch der so Erfolgreiche ist zu krank, den folgenden Aufführungen beizuwohnen. Erstmals beginnt er eine seiner folgenden buddhistischen Wanderungen. Er taucht wochenlang unter, ernährt sich durch Bettelei am Straßenrand, wird bewußt namenlos. Die gewollt angestrebte Sinnsuche, die den rastlosen bis nach Finnland führt, treibt ihn bis zu seinem Freitod um.

1930 erschienen: Der erste Deutsche Luftfahrt-Kalender - Archiv: cwh

1930 erschienen: Der erste Deutsche Luftfahrt-Kalender – Archiv: cwh

Der erste Deutsche Luftfahrt-Kalender

Zwischendurch praktiziert er als Arzt, auch im Berliner Norden, steht aber auch dort eher einsam in der Praxis. Er widmet sich, weil er es für notwendig hält, oft einen ganzen Tag lang einem Patienten, während die Wartenden genervt aus der Praxis laufen. Zwar verfasst er auch Fachartikel über Krebs, widmet sich aber eher der Reform-Medizin, schreibt über Haltungsstudien, Vegetarismus und Impf-Probleme. 1928, als er seine ersten Fluggedichte verfasst, empfiehlt er Höhenflüge für an Bronchitis leidende Kinder.

In diese Zeit fällt seine Begegnung mit dem Buchhändler und Verleger Carl-Maria Holzapfel und seiner Frau Hildegard, geborene Carnap. Goering verliebt sich in die Frau seines Freundes, eine einst glühende Kommunistin im Rheinland und spätere ebenso glühende Nationalsozialistin. Obwohl diese Liaison durchaus konfliktreich ist, verbindet die Männerfreundschaft die Leidenschaft für die Luftfahrt. Auch Holzapfel schreibt Fluggedichte und verfasst Artikel über die ersten Flüge der Lufthansa. 1930 kulminiert dieses gemeinsame Interesse in der Herausgabe des ersten Deutschen Luftfahrt-Kalenders, heute eine historische Rarität mit zahlreichen Dokumenten aus den ersten Tagen der Luftfahrt.

Später wendet sich der inzwischen als Expressionist berühmt gewordene Goering der erst sechzehnjährigen Tochter Marilene seines Freundes zu. 1932 wird Sohn Reinhard geboren, der bereits in den neunziger Jahren in Augsburg verstarb, und 1934 in Berlin der weitere Sohn Knut-Stefan, der heute in Norddeutschland lebt. Im Frühjahr 1935 heiratet er Marilene.

Zur gleichen Zeit Mitglied in der NSdAP und KPD

Auch wenn Goering kaum Freundschaften mit Dichtergefährten hatte oder pflegte, so war er offenbar ein leidenschaftlicher, wenn auch schwieriger Liebhaber. Er ist unbürgerlich, ohne Bohemien zu sein, tendiert zu den Linken, ohne sich diesen ein- oder unterzuordnen. Auf der Suche nach der richtigen Wegweisung wird er Anfang der dreißiger Jahre gleichzeitig Mitglied der NSdAP und der KPD. Die NSdAP schließt ihn bald wieder aus, die KPD verließ er nach Angaben von Siegfried Holzapfel „nach einer Prüfperiode“ selbst. In Braunschweig soll er auf einen KPD-Abgeordneten so suggestiv eingeredet haben, dass dieser gemeinsam mit Goering sein Eigentum aus dem Fenster warf (nach Siegfried Holzapfel).

Er ist unstet, bleibt kaum mehr als einen Monat an einem Ort. Doch die Beziehungen zu seinen Frauen scheint er zu pflegen. Zwar hat der von seiner ersten Frau getrennt lebende inzwischen die Lehrerin Grete Höger in Berlin-Steglitz zu seiner Muse erkoren, aber die tiefe Freundschaft zu der 11 Jahre älteren Dagmar Öhrboom aus Helsinki, die er 1923 in Finnland kennengelernt hatte, pflegt er weiter. Ostern 1928 verbringt Goering mit der 1926 geschiedenen Frau und den nunmehr zwei Töchtern bei der Familie Holzapfel in Berlin-Zehlendorf.

1966 verlegtes dtv-Taschenbuch (li.) und S.Fischer-Verlag Berlin 1919

1966 verlegtes dtv-Taschenbuch (li.) und S.Fischer-Verlag Berlin 1919

Grete Höger bringt ihm die Tagebücher des Kapitän Scott, die Goering so faszinieren, dass er diese zu einem Drama verdichtet. Die ersten Sentenzen verfasst er im Bett, das er kaum verlässt. Dann treibt es ihn zurück nach Davos, dem Ursprungsort seiner Seeschlacht. Hier vollendet er das Drama „Die Südpolexpedition des Kapitän Scott“ und dient es dem Ullstein-Verlag an. Am 16. Februar 1930 findet im Staatstheater zu Berlin unter Leopold Jessner die Uraufführung statt und wird sofort von anderen Bühnen, so in Darmstadt und Würzburg übernommen. Dieser letzte große Erfolg bedeutet Goering nicht viel. Schon bei der Uraufführung seiner Seeschlacht erschien er zur Uraufführung im karierten Hemd und Straßenanzug, hatte sich zuvor nicht um die Proben noch um die Aufführungen gekümmert.

Reinhard Goering strebte offenbar nicht nach Ruhm, ihm war die Suche nach sich selbst, nach den Gründen und Ursachen des Lebens stets wichtiger. 1936, im Frühherbst, verschwindet Goering erneut für einige Wochen. Die Familie und Freunde sind nicht beunruhigt, sind sie doch die zwischenzeitlichen buddhistischen Wanderungen gewohnt. Dass es seine letzte Wanderung wird, ahnen sie nicht.

Nachtrag: Marilene Goering

Nachzutragen bleibt, dass Marilene Holzapfel mit den zwei Söhnen bittere Jahre durchlebte, ehe sie Anfang der vierziger Jahre einen Mann aus Bayern kennen- und lieben lernte. Noch ehe die Beiden heiraten konnten, wurde der Vater der beiden inzwischen geborenen Töchter Liselotte und Christa „auf der Flucht“ von der GESTAPO erschossen. Marilene befand sich ein Jahr in GESTAPO-Haft, die vier Kinder waren in dieser Zeit zwangsweise in Heimen untergebracht. Den Vater und mithin Schwiegervater Reinhard Goerings, Carl-Maria Holzapfel, der inzwischen zum „Reichsamtsleiter für Musik“ aufgestiegen war, bekümmerte das Schicksal seiner Tochter offenbar wenig. Schon seinem Sohn Siegfried und Schwager Goerings, dem 1939 durch ein bestelltes Gutachten der Reichsärztekammer das weitere Studium (Germanistik und Zeitungswissenschaften / Prof. Dovifat) untersagt worden war, hatte CMH bedeutet, dieser könne sich „bei seinen Sperenzchen“ (gegen das System) nicht auf seinen Vater berufen.

Marilene hat nie wieder geheiratet. Nach ihrer Tätigkeit im Helmstedter Tagblatt zog sie in den sechziger Jahren nach München, wo sie bis zu ihrer Verrentung als Chefsekretärin im Droemer-Verlag arbeitete. Die Witwe Reinhard Goerings war bis zu ihrem Tod vor einigen Jahren immer wieder Ansprechpartnerin bei den selten gewordenen Nachfragen zu diesem außerordentlichen Leben eines großen Dramatikers, der vor achtzig Jahren bei Jena starb.

* Der Autor ist Neffe von Marilene Goering. Siehe auch: https://17juni1953.wordpress.com/tag/reinhard-goering/

            V.i.S.d.P.: Redaktion Hoheneck, Berlin – Tel.: 030-30207785  (1.159)       

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