Eine sehr persönliche Reflexion
Von Carl-Wolfgang Holzapfel
Berlin, 28.06.2015/cw – Warum tut man sich das an? Das war eine Retraumatisierung, der ich mich aussetzte, heute, am Sonntagabend in einem kleinen Kino in Berlin-Charlottenburg. Und dann hieß der Protagonist auch noch Wolfgang…

Verharmlosung statt Information im Jahr 2015 –
Ausschnitt aus einer Info des Rauhen Hauses http://www.rauheshaus.de/betreuung/behindertenhilfe.html
Kaum zu glauben, aber wahr: Genauso erlebte ich den vergleichbaren Teil meiner zwölfjährigen Heimgeschichte im Dezember 1959. Nachdem ich aus einem Heim nahe Göttingen ausgerissen war – das Versprechen, mich nach einem Jahr wieder nach Hause zu holen, war nicht eingehalten worden – wurde ich am 16. Dezember – wie im Film – von einem Bus des Jugendamtes abgeholt. Mein Vater hatte mit seiner Frau extra Weihnachten vorgezogen und mit mir unter einem kleinen Baum das Fest gefeiert. Der Bus brachte mich in eine Einrichtung der Evangelischen Kirche nahe Kaltenkirchen. Es handelte sich um ein landwirtschaftliches Gut des von Johann Hinrich Wichern gegründeten Rauhen Hauses in Hamburg.
Wir, Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahre alt, mussten nicht, wie Wolfgang und seine Kameraden im Film, im Moor arbeiten, aber sonst war das alles vergleichbar. Ein „Vater“ Schönau leitete die Einrichtung und „Brüder“, Diakone in Ausbildung, versuchten sich als Erzieher. Wir mussten bis zu 14 Stunden am Tag in der Landwirtschaft, im Stall und auf dem Feld, arbeiten. Unsere Schlafstellen waren im Winter nicht geheizt, an den Innenwänden bildeten sich Eisdecken. Als Toiletten gab es sogen. Donnerbalken, also Sitzgruben in einem Bretterverschlag. Das Wasser zum Waschen holten wir uns aus Pumpen in die Waschschüssel. Für unsere Arbeit erhielten wir ein monatliches Taschengeld von fünf Mark, von dem wir uns Seife und Zahnpasta für den Eigenbedarf selbst kaufen mussten.
Wie in Freistatt setzte es auch mal Prügel von einem „Bruder“ Weise. Ein anderer „Bruder“ stahl mir ein Transistorradio, das mir mein Vater zum vorgezogenen Weihnachtsfest geschenkt hatte. Als ich mir im ersten Winter in den kalten Schlafräumen schwere Rheumaschmerzen zuzog und nicht mehr in der Lage war, im Stall die eineinhalb Zentner schweren Strohballen zu heben, blieb ich im Bett liegen und verweigerte mich der Arbeit. Schon bald erschien „Vater“ Schönau an meinem Bett und erklärte mir mit einem Bibel-Zitat: „Wer nicht arbeitet, braucht auch nicht zu essen.“ Ich solle mir nicht einbilden, bei meiner Arbeitsverweigerung mit Essen versorgt zu werden. Im Anschluß an dieses Gespräch schnitt ich mir die Pulsadern an beiden Handgelenken auf.

Größeren Schaden verhinderten Diakone wie Bruder Gebauer (Bild, Kattendorfer Hof), die stets um Menschlichkeit bemüht waren – Foto: LyrAg
Ein Diakon entdeckte mich rechtzeitig und beide Handgelenke wurden verbunden. Notgedrungen stand ich also auf und schleppte mich in den Stall. Meine Kameraden schonten mich soweit sie konnten, dennoch arbeitete ich unter Schmerzen und Tränen im Stall. Dieses von mir als Martyrium empfundene Dasein endete erst im Frühjahr 1961, als ich nach einem komplizierten Dreifachbruch im Fußgelenk – ich war im Pferdestall unglücklich ausgerutscht – nahezu fünf Monate krank geschrieben war und nach Hamburg in ein Lehrlingsheim verlegt worden war. An den Folgen des damals noch nicht genagelten Bruchs leide ich bis heute. Meine Pflegemutter schrieb auf einen Hilferuf von mir, ich solle mich zusammen nehmen, gelobt sei, was hart macht…
Anders, als die Mutter von Wolfgang im Film konnte sich mein Vater nicht gegen seine Frau durchsetzen. Wie Wolfgang schwamm ich mich im Alter von achtzehn Jahren frei, verließ den schützenden Hort einer Familie, die mich nicht mehr schützen konnte.
FREISTATT ist absolut realistisch, ein eindruckvolles und wichtiges Dokument aus der Dunkelkammer der frühen Bundesrepublik. Sehenswert, man möchte sagen: Sehenspflicht. Allerdings sollten all die gewarnt sein, die das hier geschilderte selbst erlebt haben. Sie brauchen zumindest verlässlichen und vertrauten Beistand. Und sie brauchen sich ihrer vermutlichen Tränen nicht zu schämen. (1.003)
V.i.S.d.P.: Redaktion Hoheneck, Berlin, Tel.: 030-30207785
2 Kommentare
29. Juni 2015 um 08:40
Weber
Danke für den Hinweis. Ich habe mir die Presse-links auf der homepage von freistatt-film.de angesehen. Es sind 11 Presseberichte. Zu keinen dieser Berichte ist ein Leserkommentar zu finden. Warum? In der Alt-BRD gibt es keine Aufarbeitungsindustrie. Leider.
29. Juni 2015 um 05:52
Martin MITCHELL
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Über den Film und seine Vorführung im Kino kann ich nichts sagen, denn ich habe ihn nicht gesehen und werde wohl auch nicht so schnell die Möglichkeit haben diesen hier in Australien wo ich seit 24. März 1964 ansässig bin – im Alter von 17½ Jahren nach einem einjährigen Auffenthalt in der HÖLLE VON FREISTATT entkommen – zu sehen. Ich habe diese Geschichte selbst erlebt und am eigenen Leibe erlitten und bin froh darüber, dass dieser Freistatt-Film „FREISTATT“ (2015) von Marc Brummund sowohl wie auch der Freistatt-Film „VON JETZT AN KEIN ZURÜCK“ (2015) von Christian Frosch und auch der Freistatt-Film „DAS ANFANG VOM ENDE“ (1981) von Helmut Christian Görlitz gedreht worden sind und der gesammtgesellschaftlichen Öffentlichkeit zumindest im deutschsprachigen Raum zur Verfügung stehen. „Wann und wo überall der Film in Deutschland gezeigt wird“ kann jeder ganz schnell auf einen Blick auf der Vereinswebseite des Vereins ehemaliger Heimkinder e.V. @ http://www.veh-ev.eu/home/vehevinf/public_html/uncategorized/freistatt-der-film/ feststellen.
Und detailliertes und vielfältiges Hintergrundmaterial zur HÖLLE VON FREISTATT ist ebenso (seit Anfang Juni 2013) in meinem Forum EHEMALIGE-HEIMKINDER-TATSACHEN.COM und auf meiner Webseite HEIMKINDER-UBERLEBENDE.ORG (seit Mitte 2003) zu finden. Ich befasse mich mit diesem Thema auf diesen und anderen Internetseiten schon seit über 12 Jahren und das Thema wird mich wohl auch weiterhin bis zum Ende meines Lebens beschäftigen. Vergessen kann man es nicht.
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