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Chemnitz/Dresden, 24.08.2016/cw – Tausende einstige politische Gefangene fieberten hier ihrer endlichen Ausreise entgegen: Das Gefängnis im Ortsteil Kaßberg in Chemnitz war die letzte Station auf dem Weg in die Freiheit. Jetzt soll die Immobilie verscherbelt werden, wie BILD-Chemnitz in seiner heutigen Ausgabe berichtet.

Die Verimmobilung historischer Orte, weil einst Zentren des in der DDR praktizierten Unrechtes, hat inzwischen im neuen Deutschland Tradition. So wurde zum Beispiel der einstige Knast in Rummelsburg (Berlin) bereits vor vielen Jahren ohne nennenswerten Widerstand einstiger Betroffener abgerissen. Heute stehen wertvolle Eigentums-Immobilien auf dem einstigen Boden von Folter und Unterdrückung. Am Rande erinnern wenigstens Gedenktafeln an die dunkle Vergangenheit dieses Ortes.

Ebenso war das ehemalige Frauenzuchthaus Hoheneck in der Großen Kreisstadt Stollberg (Erzgebirge) um 2005 zu einem Schleuderpreis an einen Immobilien-Mogul verkauft worden. Alle Bemühungen, diesen einstigen Horror-Ort in einen Erlebnis-Knast nach US-Vorbild zu kommerzialisieren, scheiterten letztlich am hartnäckigen Widerstand der einstigen Frauen von Hoheneck. Dieser Widerstand führte schließlich zu einem Umdenken, nicht zuletzt ausgelöst durch den Besuch des vormaligen Bundespräsidenten Christian Wulff, der im Mai 2011 eine würdige Gedenkstätte anmahnte. Inzwischen wurde das historische Gelände zu einer vielfachen Summe des ursprüngliche Kaufpreises zurückgekauft. Die Stadt Stollberg bemüht sich seither unter ihrem rührigen und engagierten OB Marcel Schmidt, das Gelände einer vielschichtigen Nutzung zuzuführen, wobei die geplante Gedenkstätte unter Einbeziehung des einstigen Zellentraktes eine wesentliche Rolle spielen soll.

Der erste Begegnungs- und Gedenkstättenverein (BuG Hoheneck e.V.) hatte bereits nach dem Präsidentenbesuch ein erstes Konzept vorgelegt. Das führte zwar zur Aufnahme von Hoheneck in die Förderung durch die Sächsische Gedenkstätten-Stiftung, verschwand ansonsten aber in den Ablagen von Stadt, Landtag und Abgeordneten. In dem Konzept war unter anderem vorgeschlagen worden, Hoheneck als zentralen Gedenkort an DDR-Unrecht zu gestalten und in diese zentrale Funktion den einstigen Auslieferungsknast Kaßberg einzubeziehen.

Stattdessen wurde für Kaßberg durch interessierte Kreise ein eigenes, einzig auf Kaßberg bezogenes Gedenkstättenkonzept entwickelt. Tatjana Sterneberg, einstige Vorsitzende des BuG e.V., kritisiert denn auch die „egoistisch anmutende dezentrale Konzeptionitis. Statt sich, wie einst vorgeschlagen, an einen Tisch zu setzen und gemeinsame Vorstellungen zu entwickeln, kamen hier eigensüchtige, oft eifersüchtige Bestrebungen zum Zug. Jetzt sehen wir an Kaßberg, wohin diese Zersplitterung von eigentlich gemeinsam zu tragenden Interessen führen,“ sagte die ehemalige Hoheneckerin, die sich noch lebhaft an den Kontrast zwischen den Erfahrungen in Hoheneck und den „absurd anmutenden Bedingungen“ in der Abschiebehaft erinnert. „Wir bekamen Bohnenkaffee, das Essen wurde serviert. Wir waren plötzlich keine Paria mehr, selbst die Bettwäsche war proper.“ Dass das lediglich der Aufpäppelung der einstigen politischen Strafgefangenen diente, die von der Bundesregierung freigekauft wurden, „steht auf einem anderen Blatt Papier,“ so Sterneberg.

Siehe auch: http://www.bild.de/regional/chemnitz/chemnitz/stasi-knast-soll-verscherbelt-werden-47464746.bild.html

V.i.S.d.P.: Redaktion Hoheneck, Berlin – Tel.: 030-30207785 (1.146)

NS-Opfer im Dritten Reich – Fluchthelfer zur DDR-Zeit

Von Carl-Wolfgang Holzapfel

Werner G.* (*Name geändert) wird im Januar 84 Jahre alt. Von seiner Wohnung im 4. Stock fällt sein Blick auf die weltberühmt gewordene „Bornholmer Brücke“, die an jenem 9. November 1989 zum Sinnbild des Zusammenbruchs einer Epoche wurde. Dort wurden nach den legendären Äußerungen des Sprechers des ZK der SED, Günter Schabowski (1929 – 2015), die Schlagbäume gehoben, strömten Abertausende Ost-Berliner ungehindert in den freien Westteil der Stadt.

Werner könnte sich mit diesem täglichen Triumph von seinem Balkon vor Augen zufrieden geben. Er hatte selbst in den sechziger Jahren aktiven Widerstand gegen die DDR geleistet, Tunnelbauten organisiert, mit Freunden Grenzlampen ausgeschossen oder mittels eines Wagenhebers Mauerteile zum Einsturz gebracht. Der 84jährige bestreitet nicht, diesen Widerstand aus rein persönlichen Gründen geleistet zu haben.

Er war mit seiner jungen Frau Martina* 1960 in den Westteil der Stadt gezogen und dort schon bald Vater einer Tochter geworden. Dann kam der August 1961. Das junge Paar wollte umziehen, gab die einjährige Tochter in die Obhut der Großeltern in Ost-Berlin, um die wenigen Möbel in das neue Domizil transportieren zu können. Dann kam die Nacht vom 12. auf den 13. August: Ost-Berlin sperrte die bis dahin offenen Grenzen zu den Westsektoren, ersetzte wenige Tage später die ausgerollten Stacheldrahtrollen durch massive Mauer-Elemente. Seither sannen Werner und seine gerade achtzehnjährige Frau auf einen Weg, die von ihnen getrennte Tochter in den Westen zu holen.

Der Schwiegervater starb im Tränenpalast bei der Ausreise

Als im Sommer 1963 ein Tunnelbau an der Bernauer Straße fast fertig war, nur wenige Meter trennten die Fluchthelfer vom Keller des Hauses, in dem der Tunneleinstieg geplant war, wurde das Vorhaben verraten. 21 Verhaftungen und Verurteilungen folgten, darunter die Großeltern der kleinen Martina, die in ein Heim verbracht wurde. Erst viele Jahre später durften die (Schwieger-)Eltern ausreisen. Die Frau hatte ihre Haft im DDR-Zuchthaus Hoheneck verbüßt. Der Mann brach bei der Ausreise nach ebenfalls durchlittener Haft bei der Kontrolle im sogen. Tränenpalast, dem Kontrollgebäude in der Friedrichstraße für Westreisende, zusammen und starb.

Wenn Werner über diese Zeit berichtet, erschrickt der Besucher über seinen leidenschaftslos wirkenden Bericht, die stoisch wirkende Aneinanderreihung von Faklen und Ereignissen. Zunächst schreibt man dies der üblichen Bitternis über seine jetzige Einsamkeit zu. Die Ehefrau hatte ihn 1966 endgültig verlassen, eine neue Bindung hatte sich nicht ergeben. Werner spricht rückblickend von Verrat, will kein gutes Wort über „die Treulose“ verlieren. War da dann doch so etwas wie Emotion erkennbar?

Der Zugang zu Werners Leben gestaltet sich nicht einfach, gibt zunächst Rätsel auf. Auch der kleine Weihnachtsbaum, der ihm die Einsamkeit in den heurigen Frühlingstagen des Dezember 2015 – das Thermometer zeigt nahezu 15 Grad plus an – wohl erträglicher machen soll, ist nicht geeignet, über den Weg weihnachtlicher Stimmung das Tor der Erinnerung zu öffnen, seine Gedanken einem Dritten zugänglich zu machen.

Aus den wenigen Anmerkungen und Hinweisen Werners, aus den Einblicken in seine Stasi-Akte, den Forschungen im Landesarchiv Berlin, in Beerdigungsinstituten und Meldebehörden ergibt sich dann doch ein grausames, dem Weihnachtsfrieden nicht gerade dienliche Bild eines Lebens, das so – und vieltausendfach – in Deutschland stattgefunden hat, aber in seiner Brutalität und Härte auch heute noch, im Jahr 2015, erschüttert und bewegt.

Im Alter von zwei Jahren 1934 von der Mutter getrennt

Die Mutter von Werner, Waltraud U.*, hatte einen jüdischen Vater und eine nicht unvermögende, wie es später hieß „arische“ Mutter. Schon bald nach ihrer Geburt – zwei Jahre vor Beginn des ersten Weltkrieges – stellte sich immer deutlicher heraus, das es der Vater wohl mehr auf das Vermögen seiner Frau als auf diese selbst abgesehen hatte. 1919 – ein Jahr nach dem Weltkriegsende – kam es zur Scheidung. Waltraud wurde von ihrer nun ärmlich gewordenen Mutter alleinerziehend aufgezogen. Im Alter von zwanzig Jahren, damals noch unter der Schwelle der Volljährigkeit (21), gebar Waltraud im Januar 1932 einen Sohn und nannte ihn Werner. Ihr Verlobter, Ullrich M.*, war wohl weniger begeistert, zumal sich ein Jahr später, also im „Jahr der Machtergreifung“ durch Hitler, die jüdische Vaterschaft seiner Verlobten als mögliche Belastung herausstellte. Ulrich M. löste die Verlobung und wandte sich einer anderen Frau zu.

Aus den zugänglichen Archivalien geht hervor, dass Werners Mutter ihren Sohn zweijährig in das Jüdische Weisenhaus in Pankow einlieferte. Dann verlief sich ihre Spur. Und Werner ging immer davon aus, dass seine Mutter in einem KZ ums Leben gekommen sei.

Das Jüdische Weisenhaus ist ein wuchtiger, beeindruckender Bau nahe dem U-Bhf. Pankow. Es beherbergt heute (2015) u.a. eine Bibliothek und eine Dauerausstellung über die Geschichte des Hauses. Warum Werner hier nie eine Schulbildung genossen hat, nicht einmal Lesen und Schreiben gelernt hat, lässt sich heute, über achtzig Jahre später, nicht mehr rekonstruieren. Das Essen war gut, daran kann sich der heutige Greis erinnern, mehr nicht.

Der „Idiot“ in den Kinderheimen

Aus den Akten: Um 1940 wird das Weisenhaus „geräumt“, die Zöglinge gehen auf „Transport“. Nur wenigen Kindern und Jugendlichen bleibt die Reise in den Tod erspart, so auch dem kleinen Werner. Er durchläuft bis zum Kriegsende und danach mehrere Heime, auch hier ohne Vermittlung schulischer Kenntnisse. Nach dem Krieg kommt der abgemagerte Knabe in ein sogen. Päppelheim, wird hier wie später in folgenden Einrichtungen als „Idiot“ bezeichnet, weil er nicht Lesen und Schreiben kann. Einzig eine Erzieherin müht sich um den Jungen, versucht ihm Hilfen zu verschaffen. Nach den Ursachen, nach den Spuren seines Schicksals fragt niemand. Warum auch? In der zerstörten Stadt hat jeder mit sich selbst genug zu tun, muß in der Trümmerlandschaft zwischen den Ruinen um die eigene Existenz kämpfen.

In den ersten Tagen der DDR laufen Anträge auf Anerkennung als OdF (Opfer des Faschismus), auch die Jüdische Gemeinde nimmt sich vorübergehend des Heranwachsenden an. Doch der Tod der Mutter läßt sich nicht nachweisen, allerdings – seltsamerweise, wie wir später durch Nachforschungen erfahren – auch nicht deren Überleben. Eine Kommission lehnt die Anerkennung ab, deren Wirksamkeit wird nach dem „Ausbleiben eines Widerspruchs“ bestätigt. Aber wie soll der Sechzehnjährige Widerspruch einlegen, wenn er den Bescheid gar nicht lesen, einen Widerspruch gar nicht zu Papier bringen kann?

Ach ja, der Vater. Nach den Unterlagen hat er seinen Sohn einige Male im Jüdischen Weisenhaus besucht, bis ihm bedeutet wurde, dass ein weiterer Besuch bei dem „jüdischen Balg“ Nachteile für ihn haben könnte. Nach 1945 nahm er Werner sogar für rund eineinhalb Jahre in die (neue) Familie auf. Ullrich M.* hatte nach der Tennung geheiratet und zwei Kinder gezeugt. Vermutlich nahm er Werner nach dem Krieg nur auf, weil er sich dadurch eine Besserstellung mit Lebensmittelmarken versprach, meint sein Sohn. Jedenfalls blieben an diese Zeit – der Rückkehr in eine Familie – keine guten Erinnerungen. Der Vater verprügelte seinen „missratenen“ Sohn regelmäßig und ließ ihn Hilfsarbeiten verrichten. So war auch zu den Halbgeschwistern kein engerer Kontakt entstanden, als Werner auf Veranlassung der Jugendbehörden erneut in ein Heim eingewiesen wurde.

Drei Jahre im Gefängnis Rummelsburg

Gerade 18 Jahre alt und damit volljährig geworden, verließ Werner eigenmächtig, sprich aus eigenem Entschluß die Heimwelt und entwich ohne jede Rücksprache. Wer wollte ihm das verdenken? Aber das Leben außerhalb der gewohnten Heime und Anstalten – man hatte zwischendurch sogar versucht, den Analphabeten als „schwachsinnig“ in einer gechlossenen Anstalt unterzubringen – der Kampf um die tägliche Existenz war hart. So blieb es kaum aus, das Werner mit den Gesetzen in Konflikt kam und schließlich um 1956 verhaftet und verurteilt wurde. Kleinere Diebstähle und der Handel mit Hehlerware war ihm schließlich zum Verhängnis geworden. In den Vernehmungsakten wird von Werner die Aussage vermerkt: „Ich wollte doch nur leben.“

Drei Jahre mußte Werner im Gefängnis Rummelsburg verbringen. Bis er schließlich, 1960, seine blutjunge Martina* kennen und lieben lernte, eine Familie gründete. Werner machte sich 1965 selbsständig und führte bis zu seiner Verrentung erfolgreich mehrere Geschäfte. Was wäre aus diesem Menschen wohlmöglich geworden, wenn ihm die Geborgenheit einer Familie und eine ordentliche Ausbildung zur Verfügung gestanden hätten?

Der Großvater starb 1943 in Auschwitz, die Mutter überlebte

Heute möchte der alte Mann mit der Vergangenheit nichts mehr zu tun haben: „Man soll die Toten ruhen lassen!“ Als Freund und zeitweiser Weggefährte (u.a. Fluchthilfe) liess mich sein Schicksal aber nicht in Ruhe. Nach dem freimütig gewährten Einblick in seine Stasi-Akte wurde ich neugierig. Erstmals stieß ich auf konkrete Daten, die zumindest Anhaltspunkte lieferten, wo und an welchen Stellen unter Umständen Näheres über seine Eltern herauszufinden wäre.

Nach diversen Recherchen wurde ich fündig, aktiv unterstützt von meiner Frau und vielen gutmeinenden Menschen. Ergebnis: Die Mutter von Werner hat den Krieg überlebt, starb erst 1998 in Berlin.

Sie hatte 1934, nach der – nach wie vor ungeklärten – Weggabe von Werner, eine Tochter zur Welt gebracht und geheiratet. Der Mann brachte es bis zum Offizier bei den Fallschirmspringern. Und hier dürfen die Gründe für das Überleben von Werners Mutter vermutet werden. Ihr Mann wurde mehrfach aufgefordert, sich von der „Halbjüdin“ zu trennen, was dieser Offizier kategorisch ablehnte. Es gibt einige Beispiele dafür, daß Ehepartner auf diese Weise dem anderen Teil ihrer Lebensgemeinschaft das Leben retteten.

Warum die Mutter Werners zumindest nach dem Krieg nie nach ihm gefragt hat, läßt sich nicht mehr feststellen, kann noch nicht einmal vermutet werden. Ihr Grab haben wir an der Seestraße im Wedding gefunden und zu Weihnachten geschmückt.

Auch die (Halb-)Schwester aus der Ehe mit dem Offizier haben wir ausfindig gemacht. Die ebenfalls über Achtzigjährige war sehr bewegt über unsere Forschungsergebnisse und würde sich über ein Kennenlernen des Bruders freuen. Dieser aber ist noch nicht so weit. Er zögert, sich seiner Vergangenheit erneut zu stellen, will „das alles ruhen lassen.“ Seine Schwester ist bereit, das zu akzeptieren. Und wir müssen das wohl auch.

Und so lassen wir tief bewegt und auch aufgewühlt den alten Freund in seiner Küche vor dem kleinen Weihnachtsbaum sitzend zurück. Nicht ohne ihm alles Gute für das bevorstehende Fest und den Jahreswechsel zu wünschen. Im neuen Jahr wird er gleich im ersten Monat seinen 84. Geburtstag begehen. Wir haben zugesagt, ihn an diesem Tag zu besuchen. Und vielleicht wächst ja bei ihm doch die Neugier auf seine Schwester. Eine Begegnung dieser zwei alten Menschen nach dieser unmenschlich langen Zeit wäre zumindest auch für uns ein besonderes Weihnachtsfest. Aber ich weiß, dass wir darauf keinen Anspruch haben. Sonst wäre es ja auch kein Geschenk…

V.i.S.d.P.: Der Autor und Redaktion Hoheneck, Berlin, Tel.: 030-30207785 (24.12.2015 / 1.065)

Heinrich Hagen – ein  deutsches Schicksal

Basse, 2.03.2013/cw (602) – Drei Wochen hatten sie ihn gesucht, mit Hubschraubern und Wärmebildkameras aus der Luft, mit Hunden im Moorgebiet, was die Findungsmöglichkeiten erheblich einschränkte. Heinrich Hagen, stolzer Eigentümer des „Moorhof“ genannten Anwesens mitten im moorigen  Wald bei Bad Sülze in Mecklenburg-Vorpommern, war seit Wochen spurlos verschwunden. Die Hunde, mit ihren berühmten Spürnasen ausgestattet, scheiterten nicht nur am Moor sondern wohl auch an den irritierenden Gerüchen, die eine  Rinderherde nahe dem Moorhof mit ihren  Fladen verbreitete. Nach über drei Wochen Suche fand sich Mitte Januar der Leichnam des Sechsundsechzigjährigen, nur ca. 150 Meter vom  Anwesen entfernt. Er war womöglich gestürzt, hilflos liegengeblieben und schließlich erfroren.

Der fehlendeTodestag weist auf das mögliche Drama hin - Foto:LyrAg

Der fehlende Todestag weist auf das mögliche Drama hin – Foto:LyrAg

 Heinrich Hagen, ehemaliger politischer Häftling der DDR, geboren am 26.09.1946, hinterließ Bestürzung und Trauer. Am 2. März 2013 wurde seine Urne nach einer bewegenden Feier in der alten evangelischen Kirche von  Basse, einem Weiler nahe der Ortschaft Tessin, auf dem Friedhof seines Geburtsortes in Anwesenheit seiner ersten Frau, seiner Geschwister, Kinder, Enkelkinder und zahlreichen Freunden beigesetzt.

Heinrich Hagen kam in Basse, nahe Rostock, als zweites von fünf Kindern zur Welt und wuchs mit seinen vier Geschwistern auf dem elterlichen Hof auf, bevor dieser in den 50er Jahren im Rahmen der Zwangskollektivierung enteignet und einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) zugeordnet wurde. Bereits mit drei Jahren mußte Heinrich wegen einer Erkrankung  bis zur Einschulung in  einem Tuberkuloseheim in Graal/Müritz zubringen.

Keine Zukunft in  der DDR

Abschied von einem Freund und KameradenFoto: LyrAg

Abschied von einem Freund und Kameraden
Foto: LyrAg

Nach der Ausheilung schlug Heinrich Hagen nach erfolgreichem Abitur die Militärlaufbahn ein und besuchte von 1965 bis 1968 in Plauen die Offiziersschule, wo er gleichzeitig eine Ausbildung zum Fachlehrer für Polytechnik und Werken absolvierte. Anschließend diente er bei der NVA in Berlin, von der er 1971 auf eigenen Wunsch entlassen wurde.

Im Anschluss wirkte der aufstrebende und karrierebewusste junge Mann drei Jahre bei der Deutschen  Außenhandelsbank und absolvierte nebenbei ein Fernstudium für Finanzökonomie. Von 1974 bis zu seiner 1976 folgenden Inhaftierung war er Hauptreferent im Amt für Rechtsschutz. In dieser Zeit nahm der bis dahin folgsame und vorzeigbare DDR-Bürger Verbindung zu einer Schleusergruppe  (Fluchthelfer) auf, weil er die DDR verlassen wollte. Berufliche Einblicke in die realen Verhältnisse der DDR ließen ihn resignieren. Er sah in der DDR keine Zukunft mehr.

Letzte Ruhe im Grab der Eltern - Foto: LyrAg

Letzte Ruhe im Grab der Eltern – Foto: LyrAg

Die Stasi versuchte den  Häftling  durch psychischen Druck und die Verabreichung von Psychopharmaka in der elfmonatigen Untersuchungshaft (Berlin-Pankow, Kissingenstraße) zum Eingeständnis seiner Schuld (Vorwurf: Geheimnisverrat an eine feindliche Macht) zu bewegen. Wegen der daraus erwachsenen Probleme wurde er schließlich zur Begutachtung in die Psychiatrie in Leipzig-Moisdorf eingewiesen. Hagen  konnte sich aufgrund der zwangsweise verabreichten Psychopharmaka später nur nebulös daran erinnern, mehrfach in  eine Zwangsjacke gesteckt worden zu sein. Vier Monate Isolationshaft hinterließen zusätzliche Spuren.

Der in der gemeinsamen Zelle inhaftierte Fluchthelfer verhinderte einen Selbstmordversuch; die zeitweilige Unterbringung mit einem Doppelmörder, der  auch versuchte, ihn sexuell zu belästigen, lösten bei Hagen traumatische Zustände aus.

Zwangsarbeit für IKEA

Unweit von der letzten Ruhestätte: Das Elternhaus in  Basse - Foto: LyrAg

Unweit von der letzten Ruhestätte: Das Elternhaus in Basse – Foto: LyrAg

Nach seiner Verurteilung zu sechs Jahren Zuchthaus im März 1977 wurde Hagen für vierzehn Tage nach Rummelsburg (Berlin) verlegt, wo ihm Ratten auf der Toilette entgegensprangen. Schließlich gelangte er nach Brandenburg, wo er in  Zwangsarbeit Möbel für einen  schwedischen Möbelhauskonzern leisten mußte (Holzverarbeitungswerke Burg). IKEA mußte sich erst im  letzten  Jahr schwerer Vorwürfe wegen der Ausnutzung politischer DDR-Gefangener erwehren.  Die Zugangszelle in Brandenburg mußte Hagen mit elf anderen Häftlingen teilen, davon allein neun  wegen  Mordes Verurteilten.

Der zuvor nie schweren körperlichen Arbeiten ausgesetzte politische Häftling erkrankte schließlich durch die Staubeinwirkung bei der Holzverarbeitung an einer Atemwegserkrankung, die einen operativen Eingriff in Leipzig notwendig machte. Nach seiner vorzeitigen Entlassung in die DDR 1979 stand er vor dem Zusammenbruch seiner Familie. Seine Frau hatte sich in Sorge um die gemeinsamen drei Kinder einem anderen Mann zugewandt. Zwar verließ seine Frau den neuen Freund, die Ehe war aber nicht mehr zu retten und wurde schließlich geschieden.

Nur drei Jahre später ehelichte Hagen  seine zweite Frau, die Ehe blieb kinderlos. Die durch die Haft verursachten schweren gesundheitlichen Störungen belasteten den einstigen Gefangenen zusehends. Die mangelnde Möglichkeit, in den Westen  zu gelangen, tat ein Übriges. Als Geheimnisträger war ihm dieser Weg versperrt. Der studierte Hagen mußte als Hausmeister in Berliner Schulen arbeiten.

Der Moorhof - Nur kurze Zeit ein Traum -                  Foto: Lyrag

Der Moorhof: Hier werkelte Heinrich Hagen nur wenige Jahre an seinem Traum – Foto: Lyrag

Erst nach dem Fall der Mauer gelang ihm wieder ein beruflicher Fortschritt. Er fand eine Anstellung als Referent im Bundesamt zur Regelung für offene Vermögensfragen. Die Haftfolgeschäden führten aber schließlich zu seiner vorzeitigen Verrentung. Nach langjährigen  rechtlichen Auseinandersetzungen wurde ihm eine umfassende finanzielle Entschädigung zugesprochen, die es dem einstigen  politischen Häftling erlaubten, das Anwesen im Moor zu kaufen.

Seine Frau mochte ihm nicht in die Einsamkeit folgen. Nach dreißig Jahren ließ sie sich scheiden. Heinrich Hagen litt unter diesem neuerlichen Schicksalsschlag, der den freundlichen und stets hilfsbereiten Menschen wohl aus der Bahn  warf.

Das Schicksal Heinrich Hagens steht symptomatisch für die erlittenen schweren Schäden der einst durch das SED-MfS-Regime politisch Verfolgten. Ein deutsches Schicksal. Die ihn kannten, werden den einsam in der Moor-Landschaft Verstorbenen  nicht vergessen.

V.i.S.d.P.: Vereinigung (AK) 17. Juni 1953 e.V., Berlin, Tel.: 030-30207785

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