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Nr.070 – Einigkeit und Recht und Freiheit – 17. 10. 2017
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Abschied von Dr. Wolfgang Mayer
Greiz, 14.10.2017/cw – Die Abschiedskapelle auf dem Friedhof in Greiz konnte die Trauergemeinde kaum fassen: Aus allen Teilen Deutschlands, wie Coburg, Regensburg, Landsberg am Lech, Erfurt und Berlin waren Freunde, Weggefährten, Kameraden und natürlich die Familie erschienen, um von Wolfgang Mayer, der am 2.Oktober nach langem Leiden an seinem neuen Domizil in Speyer verstorben war, Abschied zu nehmen. Die Deutsche Soziale Union (DSU), zu deren Mitbegründern Mayer nach dem Mauerfall gehörte, hatte einen großen Kranz gesandt. Kameraden der Vereinigung der Opfer des Stalinismus (VOS), so Fritz Schaarschmidt aus Landsberg am Lech und Peter Kämpfe aus Beratzhausen bei Regensburg nahmen ebenso Abschied, wie der Vorstand der Vereinigung 17. Juni, Berlin, die Hoheneckerin Eva Aust und der bekannte Publizist Dr. Jörg Bilke aus Coburg.
In vielen Gesprächen am Rande wurde der schwere Verlust durch den Tod des unermüdlichen Aktivisten betrauert. Bis zuletzt hatte der Verstorbene die Proteste gegen den Rentenbetrug an ehemaligen DDR-Flüchtlingen organisiert und begleitet. Die Teilnahme am letzten Protest vor vier Wochen in Berlin verhinderte seine Krankheit. Dennoch war er an der Vorbereitung aktiv beteiligt. Auch Wolfgang Graetz, Wegbegleiter der ersten Stunde gegen den Rentenbetrug, gehörte zu den Trauergästen. Die Vereinigung 17. Juni hatte ein T-Shirt von den Protestkundgebungen mit dem Aufdruck: „Wir fordern keine Sonderrechte, wir fordern unser Recht“ am Sarg niedergelegt. Mayer hatte in einem seiner letzten Telefonate darum gebeten, ihm eines dieser T-Shirts zu reservieren.
Erschütternd und bewegend für alle war der Aufschrei der 92jährigen Mutter Mayers, die mehrfach mit klagendem „Warum?“ und brechender Stimme am Sarg ihres Sohnes ihrem unendlichen Schmerz Ausdruck verlieh. Am Ende der eindrucksvollen Feier konnten die Trauernden mittels Blütenblättern und Blumenköpfen einen letzten Gruß auf den nunmehr abgesenkten Sarg werfen. Die Urnenbeisetzung wird im engsten Kreis der Familie Ende des Monats stattfinden.
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Ausstehende Ehrung von Gisela Gneist
Sachsenhausen/cw – Die Lagergemeinschaft Sachsenhausen 1945-1959 hat auf ihrer letzten Mitgliederversammlung ihren Willen bekräftigt, eine Ehrung ihrer langjährigen und vor zehn Jahren verstorbenen Vorsitzenden Gisela Gneist anzustreben. Der Vorstand hatte aus bisher ungeklärten Umständen ein vor Jahren einstimmig gefasstes Votum der Mitglieder nicht verfolgt und war dadurch in die Kritik geraten. Peinlich für die Arbeitsgemeinschaft: Erst durch eine Nachfrage bei der Stadt Oranienburg wurde das Versäumnis aufgedeckt. Jetzt versicherte Vorsitzender Joachim Krüger (CDU), dass sich der Vorstand aktiv für eine Straßenbenennung im Umfeld der Gedenkstätte einsetzen wolle.
Unser Staat tut sich mit Straßenbenennungen nach Opfern der SED-Diktatur ohnehin schwer. Während für den am 17. August 1962 an der Berliner Mauer ermordeten 17jährigen Peter Fechter auch 55 Jahre nach seinem weltweit beachtetem Sterben trotz langjähriger Bemühungen noch keine Straße benannt wurde, soll jetzt ein linker Barde eine Würdigung erhalten: „Der Mariannenplatz war blau, so viele Bullen waren da“, textete einst der Rock-Musiker und Hausbesetzer-Fan Rio Reiser, dem nun auf Antrag der Partei Die Linke ein Teil des besungenen Mariannenplatzes gewidmet werden soll (http://www.tagesspiegel.de/berlin/berlin-kreuzberg-teil-des-mariannenplatzes-soll-nach-rio-reiser-benannt-werden/20413612.html). Zwar steht hier – wie auch im Fall Peter Fechter immer wieder stereotyp angeführt wird – die Frauenquote des Straßenbenennungsgesetzes dagegen. Die dort festgeschriebene Ausnahmeregelung ermöglicht es allerdings einer Meinungsmafia, sich letztlich – wie bei Rudi Dutschke – durchzusetzen. So wird auch Rio Reiser letztlich seinen Winkel am Mariannenplatz bekommen, während das für den am 25.Dezember 1963 an eben diesem Platz errichtete Gedenkkreuz für den ermordeten Flüchtling Paul Schulz ohne Aufschrei geschändet wurde und es bei Peter Fechter nach wie vor heißt, dass eine Benennung wegen der Frauenquote …, na, sie wissen schon.
Früher gab es in dieser Stadt einen großen Verlag, der sich dieser skandalösen Vorgänge annahm und so wenigstens einen kontroversen Dialog anstieß. Früher …
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Abschied vom „Hohenecker Boten“ – Letzte Ausgabe
Berlin/Hoheneck, 15.10.2017/cw – Mit dieser Ausgabe stellt die Redaktion Hoheneck die seit November 2011 im Internet erschienenen monatlichen Ausgaben des HB ein. Die Vereinigung 17. Juni, die dem HB auf ihrer Homepage Gastrecht eingeräumt hatte, hat diese Möglichkeit jetzt gekündigt. Initiator Carl-Wolfgang Holzapfel erklärte, dass die „ursprünglich gut gemeinte Absicht, mit einer eigenen Stimme die nach dem Bundespräsidentenbesuch in Hoheneck verspürte Aufbruchstimmung zu begleiten“ auch aus Sicht der Redaktion gescheitert sei. So wäre die Vorlage eines Konzeptes für eine Begegnungs- und Gedenkstätte (BuG) Hoheneck zwar durchaus erfolgreich gewesen, der begleitende Aufbau eines Fördervereins aber durch die zerstörerische „Begleitung“ durch die Stiftung Sächsische Gedenkstätten blamabel gescheitert. Selbst der als „Ersatz“ vorgesehene und von der Stiftung zunächst geförderte Zweitverein scheiterte letztlich an internen Querelen.
Im Sog dieser Entwicklung verloren die bisher verbindenden Frauen nach der Abwahl der unglücklich agierenden Vorsitzenden Inge N. im bis dahin weit geachteten „Frauenkreis der ehemaligen Hoheneckerinnen“ an Einfluss. N. gelang es zunächst, ihre Abwahl über eine gutgläubig gestartete Initiative engagierter Hohenecker Frauen gerichtlich erfolgreich anzufechten. Im Ergebnis erschien diese Auseinandersetzung jedoch eher als persönlicher Rachefeldzug der Abgewählten denn als ein wirklicher Neubeginn. So konnte sich zwar eine neue Vorsitzende unter der verborgenen Führung von N. etablieren, mittlerweile ist der „neugewählte“ Vorstand von sieben auf drei Mitglieder geschrumpft, nachdem drei gewählte Beisitzerinnen das Handtuch geworfen und – wie verlautet – auch die zweite Vorsitzende ihr Amt zur Verfügung gestellt hatte. Seither befinden sich die Mitgliederzahlen im freien Fall.
Zumindest zeigt sich der augenscheinlich desolate Zustand des Vereins objektiv am Verlauf der letzten „Mitgliederversammlung“ in Stollberg im Sommer diesen Jahres, an der insgesamt vier Vorstandsmitglieder und ein Mitglied teilnahmen. Drei weitere von der „Mitgliederversammlung“ neu aufgenommene Mitglieder durften selbst nach deren Aufnahme nicht an der MV teilnehmen. Frühere Mitgliederversammlungen unter der mittlerweile legendären Führung von Margot Jann wiesen zwischen 40 und 60 teilnehmende Frauen aus.
Der derzeitige Vorstand erscheint unter diesem Gesichtspunkt als wenig professionell und beratungsresistent. Unter diesen Gesichtspunkten erscheint eine „gezielte publizistische Begleitung konstruktiver Arbeit, die derzeit und absehbar nicht zu erkennen sei, als überdimensioniert und dem Ist-Zustand nicht entsprechend,“ stellte die Redaktion aktuell fest. Gleichwohl werde man die journalistische Arbeit „in Begleitung der nach wie vor notwendigen Aufarbeitung der Hinterlassenschaften der Zweiten Deutschen Diktatur“ weiterhin – wenn auch sporadisch – unter dem Label „Redaktion Hoheneck“ fortsetzen.
Die Redaktion verweist in Übereinstimmung mit der Vereinigung 17. Juni auf ihre Verantwortung gegenüber einem inzwischen festen Leserstamm, der sich erfreulicherweise über alle fünf Kontinente erstrecke und im Mittel mehrere hundert Zugriffe täglich generiere. Allerdings habe man die über 2.800 Zugriffen an nur einem Tag nach 2014 nicht mehr erreicht.
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Überdenken und Neujustierung notwendig
Kommentar von cwh
Die Malaise der Hoheneckerinnen ist keinesfalls spezifisch, also nur auf diesen Verein beschränkt. Ein kritischer Blick auf die Mitgliedsverbände des Dachverbandes UOKG, die mit einigem Stolz zuletzt mit 40 Mitgliedern angegeben wurden, würde das Dilemma offenbar werden lassen. Die UOKG kontrolliert nicht die Substanz etwaiger Aufnahmeanträge von Vereinen, da offenbar die permanente Erhöhung der Mitgliedszahlen im Vordergrund steht.
So nimmt die UOKG zum Beispiel auch Vereine auf, die sich in Konkurrenz zu bestehenden Vereinen bzw. Mitgliedern des Dachverbandes gründeten. Das führt dazu, dass sich bereits zwei Vertretungen der einstigen Frauen von Hoheneck als Mitglieder des Dachverbandes bezeichnen dürfen. Eine kritische Hinterfragung wird mit der Floskel der „Nichteinmischung in innere Angelegenheiten von Mitgliedsverbänden“ abgelehnt.
Ein anderer Verein, einst unter Druck des Dachverbandes ausgetreten, darf sich wieder als Mitglied bezeichnen, obwohl dieser seine Hausaufgaben offensichtlich noch nicht erledigt hat. So wird bei dem Rückkehrer-Verein nach wie vor ein ehemaliger leitender Mitarbeiter aus der Stasi-Sphäre ignoriert, der (noch immer) die Geschicke des einst größten Diktatur-Opfer-Verbandes bestimmt.
Mitglieder der CDU haben sich in den wichtigsten Positionen der Verfolgten-Szene etabliert und sorgen dafür, dass die Anliegen der Diktatur-Opfer „angemessen“, also nicht zu kritisch gegenüber der Bundesregierung und der Staatspartei CDU vorgetragen werden (siehe Rentenbetrug). Im Laufe der fast drei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der Zweiten Deutschen Diktatur haben sich die Koordinaten wesentlich verschoben, werden die Interessen der Lastenträger der Diktatur nicht mehr vordergründig durch einstige Vertrauensleute wahrgenommen. Vielmehr haben sich in den Funktionärsebenen der Vereine berufliche, also sehr egomane Interessen durchgesetzt.
Was Marion Gräfin Dönhoff einst so trefflich in ihren „Erinnerungen an die Freunde vom 20.Juli“ schrieb („Um der Ehre willen“, 1994 Jobst-Siedler-Verlag) könnte einst auch den selbstlosen Vorkämpfern für die Opfer-Anliegen auf den Leib geschrieben worden sein: „Nie wieder ist bei uns so existenziell gelebt worden wie damals. … Politik war zu jener Zeit stets mit dem Einsatz der ganzen Person verbunden.“
Heute werkelt eine installierte Aufarbeitungsindustrie an der Bewältigung der Vergangenheit und achtet akribisch darauf, dass man unter sich bleibt. Geschickt werden die inzwischen reichlich fließenden Gelder an und auf angepasste Institutionen verteilt, Kritiker an diesem System – zum Beispiel durch die gezielte Verweigerung von Fördergeldern – kalt gestellt.
Immerhin werden Kritiker nicht mehr eingesperrt. Das allerdings verleitet die Gefolgschaft in den Vereinen zu der Annahme, ihre Interessen würden nach wie vor glaubwürdig vertreten. Ein Irrtum, der allerdings nicht zuletzt Dank geschickter politischer Regie durch etablierte Funktionäre bisher nur vereinzelt wahrgenommen wird. Ein Überdenken dieses Zustandes und eine Neujustierung der berechtigten Anliegen wäre dringend notwendig, ist aber nicht in Sicht.
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Hinweis: Die bisherigen Ausgaben des Hohenecker Boten können unter http://www.17juni1953.de abgerufen oder direkt bei der Redaktion gegen Kostenbeitrag bestellt werden (Redaktion: Siehe Impressum). Die Vereinigung 17. Juni 1953 e.V. hat der Redaktion Gastrecht auf der Homepage eingeräumt, der Verein ist für die Inhalte nicht verantwortlich. Namentlich gezeichnete Artikel geben die Meinung des/der Verfasser/Verfasserin wieder (1.297).
Impressum: Der „Hohenecker Bote“ ist einzig der demokratischen Auseinandersetzung und den Anliegen der Verfolgten beider Diktaturen verpflichtet, parteipolitisch und vereinsrechtlich unabhängig und erscheint in der Mitte eines jeden Monats. Beiträge dürfen b.a.W. kostenlos unter Zurverfügungstellung von Nachweisen (Belegen) insbesondere von gemeinnützigen Vereinen der Verfolgten- und Opferszene beider Diktaturen in Deutschland genutzt oder weiterverbreitet werden. Fotos dürfen grundsätzlich nur unter ausdrücklicher Zustimmung bzw. zu den Bedingungen der Redaktion verwandt werden. Redaktion: Carl-Wolfgang Holzapfel (cw) – verantwortlich; redaktion.hoheneck@gmail.com; Kaiserdamm 9, D-14057 Berlin, Tel.: 030-30207778 oder 0176-48061953. Anzeigen auf Anfrage.
Berlin, 3.10.2013/cw – „Orden für die Wunderkinder“ war 1963 ein furioser deutscher Fernsehfilm, in dem die Ordensbesessenheit in der jungen Bundesrepublik karikiert wurde. An dieser Ordensbesessenheit hat sich wohl bisher nichts oder wenig geändert. Allein der Autor erhält mehrfach im Jahr Anfragen, ob er denn nicht seinen (im Übrigen nicht vorhandenen) Einfluss geltend machen könne, um eine „endlich verdiente“ Auszeichnung für den/die Anfragende zu vermitteln.
In der Neuzeit werden diese Orden allerdings nicht mehr „per Gießkanne“ oder über einen „direkten Draht“ an die „Wunderkinder“ verteilt – die sind ja auch in die Jahre gekommen –sondern den „Wunsch-Kindern“ der Republik verliehen. Bei diesen Zeitgenossen handelt es sich in erster Linie um Personen, die den Normen der neuen deutschen demokratischen Republik (nDDR) entsprechen: Angepasst, nicht vorlaut oder aufsässig, im erwünschten Mainstream vorgegebener Lebenslinien lebend.
In diesen Bereich sind seit einiger Zeit auch Protagonisten der an dieser Stelle als Aufarbeitungsindustrie bezeichneten Sparte vorgerückt und werden seither kontinuierlich mit entsprechenden Auszeichnungen, Preisen und Orden versehen. Das Signal ist deutlich: Wenn ihr euch in unsere Vorgaben einpasst, euch dem großen Ziel einer einheitlichen Geschichtsvermittlung anpasst, statt eigensüchtig eure „wahren“ Geschichten zu verbreiten, dann werdet ihr in den Kanon der verdienten Zeitzeugen aufgenommen.
Vorstehendes entbehrt zweifellos nicht der Satire, zugegeben. Aber diese Zustandsbeschrei-bung entbehrt auch nicht einer gewissen Realität. Natürlich gibt es am Rande immer auch Auszeichnungen für tatsächliche „Helden des Alltags“. Hier werden die Unterschiede allerdings auf anderer Ebene austariert. Der/die Orden werden entweder durch den Präsidenten der neuen deutschen demokratischen Republik höchst persönlich oder eben „in Vertretung“ durch den jeweiligen Herrn Landrat, Bürgermeister, Senator etc. (je nach zugedachter Bedeutung) verliehen. So erhielten beispielsweise eine Reihe von Fluchthelfern, die oft unter Einsatz ihres Lebens („Fluchthilfe ist die Wiederherstellung eines Rechts!“) vielen Menschen unter abenteuerlichen Umständen in die Freiheit verholfen hatten, das Verdienstkreuz „in Vertretung“ verliehen (Wir haben darüber berichtet). Und die Fluchthelfer waren darüber ausnahmslos glücklich, wird kolportiert.
Orden für „Die bröckelnde Festung“?
Am 4. Oktober verleiht der Präsident wieder höchstpersönlich den Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland anlässlich des Tages der Deutschen Einheit. Unter den Geehrten befindet sich auch Gabriele Stötzer. Allein der Umstand, Autorin, Publizistin und Lyrikerin zu sein, kann nicht ausschlaggebend für diese Ehrung gewesen sein, denn dann müsste der Präsident wohl Sonderschichten einlegen oder zusätzliches Vertretungspersonal rekrutieren. Es muss also etwas Besonderes im Leben der einstigen Hoheneckerin (1977/78) aufgefallen sein, was ihr den direkten Gang in das Republik-Schoss Bellevue geebnet hat.
Vielleicht – und das ist freilich nur eine Annahme – war das Buch „Die bröckelnde Festung“ ausschlaggebend? In dieser Biografie beschreibt die damalige Insassin des berüchtigten DDR-Frauenzuchthauses Hoheneck ihren Aufenthalt in den Zellen der Burg. Die Zustandsbeschreibungen weichen allerdings derart gravierend von anderen Zeugnissen aus dieser Zeit ab, dass der aufmerksame Beobachter – vorsichtig ausgedruckt – stötzert, also stutzig wird. Vielleicht ist es aber gerade dieser „Mut“, sich gegen alle bisherigen Darstellungen grauenhafter Erlebnisse zu stellen, die Stötzer auszeichnungswürdig macht? Hier einige Zitate der einstigen FDJ-Sekretärin aus dem angeführten Buch:
„Sie hatte eine kurze Strafe im leichten Vollzug, das bedeutete viermal im Monat einen Brief schreiben zu können, einmal im Monat einen Sprecher zu haben, alle zwei Monate ein Paket zu erhalten und in offenen Stationen untergebracht zu sein… .“ (Seite 30).
Über die Einkaufsmöglichkeiten im Knastkiosk liest man auf Seite 35:
„Neben Kosmetikartikeln, Obst, Zigaretten, Kuchen, Süßigkeiten, Brötchen, Milch, Quark, Vitamintabletten oder Brause auch Papierbons, für die man sich, da es zu jeder Brotmahlzeit nur Malzkaffee gab, Bohnenkaffee oder Schwarzen Tee holen konnte. Außer in der Nachtschicht, da gab es besseres Essen: Leber, alle sechs Wochen ein gegrilltes Hähnchen und abends, vor der Schicht, kostenlos eine Tasse Schwarzen Tee oder Bohnenkaffee.“
War Stötzer in einem Interhotel? Hat sie womöglich in der Haft von nahezu paradiesischen Zuständen geträumt (was ja nachvollziehbar wäre)? Oder, das wäre allerdings ein schlimmer Verdacht, hatte sie eingeräumte Privilegien, die nur „ausgesuchten“ Personen eingeräumt wurden?
Erdbeeren, Himbeeren und Pampelmusen im DDR-Knast
Auch die Schilderung der erhaltenen Paketinhalte (Seite 44) oder der Besuche in der Haftanstalt („Sprecher“) steht in den Berichten über das Frauenzuchthaus einzig da:
„In den Paketen ließ sie sich Parfüm, Zahnbürsten, Wimpernspiralen, Deostifte, Lidschatten und Schreibwaren schicken. Gegen den immer gleichen Geschmack des Essens bestellte sie sich einen runden Plastikstreuer mit mehreren Gewürzen, Knoblauch und Fischpasten. Zum Sprecher wechselten Äpfel, Zitronen, Erdbeeren, Kirschen, Himbeeren über das Jahr hin zu Pampelmusen, Bananen und Apfelsinen. Manchmal wünschte sie sich weichgekochte Eier, Pfannkuchen oder sinnlose Dinge wie Blumen, die außerhalb der Geldklausel mitgebracht werden durften…„
Stötzer selbst schreibt im November 2011 in einem Beitrag für die Thüringer Allgemeine Zeitung: „In meinem Knastbuch hat die Hauptfigur keinen Namen, niemand muss sich mit ihr identifizieren. Sie bleibt einsam, isoliert.“ Und: „Wenn eine schwierige Wahrheit nicht besprochen wird, sucht sie sich andere Wege und verschlimmert sich.“
Augenscheinlich im Widerspruch zu den im Buch geschilderten Erfahrungen steht ihr viel beachteter und kürzlich eigens mit einem Preis versehener fünfzehnminütiger MDR-Radio-Feature, in dem sie eine Insassin in Hoheneck aus den fünfziger Jahren zu Wort kommen lässt. Trotz entsprechender Vorabinformationen lässt Stötzer diese mit nachgewiesenen Lügen zu Wort kommen („.. ihr Freund ist zu diesem Zeitpunkt bereits in der Haftanstalt Bautzen II verstorben“ und sie „wird in den Keller gebracht. Die Wasserzelle ist größer als in Leipzig.“)
Lügen hier, Unwahrhaftigkeiten da? Vielleicht hat ja gerade diese Vielfältigkeit der Autorin und Publizistin im Präsidialamt überzeugt? Liegt sie damit doch im offenbaren Trend der Aufarbeitungsindustrie, die sich zunehmend an den Vermarktungsmöglichkeiten von Geschichte und Geschichten und weniger an nachweisbaren Vorgängen orientiert. Anzunehmen bleibt, dass ein Bundespräsident Christian Wulff nach seiner eigenen Inaugenscheinnahme der finsteren Burg in Stollberg im Mai 2011 einer Ehrung für eine derartige Glanz-Berichterstattung über Hoheneck wohl widersprochen hätte. Aber die Zeiten haben sich ja auch in Bellevue geändert. In dem sitzt jetzt als höchster Repräsentant ein Mann, der den Besitz von zwei Pässen und die zahlreichen in Anspruch genommenen Ausreisen aus dem Gefängnis DDR als „nicht untypisch“ bezeichnet.
Kristin Derfler wurde bisher übersehen
Während also Gabriele Stötzer der feierlichen Aufnahme in den Club der Ordensträger entgegensieht, wurde eine andere Frau bislang übersehen: Christin Derfler. Zusammen mit ihrem Mann hatte sie über Jahre andauernde Studien über das Verlies in Hoheneck gemacht und schließlich auf dieser Grundlage ein spannendes Drehbuch geschrieben. Der Film: „Es ist nicht vorbei“ (In den Hauptrollen: Ulrich Noethen, Anja Kling, Tobias Oertel) wurde zur besten Sendezeit am 9.11.2011 in der ARD ausgestrahlt, hatte die höchste Einschaltquote. Danach folgte ein Dokumentarfilm über Hoheneck. Autoren: Kristin Derfler und Dietmar Klein, ihr Ehemann. Es war nicht ihr erster Film und wird – nach überstandener schwerer Krankheit – nicht ihr letzter Film sein.
Vielleicht nutzt Gabriele Stötzer ja die gegebene Gelegenheit am 4. Oktober, auf diese Frau aufmerksam zu machen. Vielleicht aber ist Kristin Derfler nicht in den beschriebenen Kanon der Aufarbeitungsindustrie aufgenommen?
Man weiß nicht, was wünschenswerter wäre…
V.i.S.d.P.:Vereinigung (AK) 17. Juni 1953 e.V., Berlin, Tel.: 030-30207785
Preussische Allgemeine Zeitung:
Bürgerrechtler Carl-Wolfgang Holzapfel kritisiert gegenüber der PAZ Umgang mit 17. Juni und DDR
Berlin, 17.06.2013/SB – Vor 23 Jahren musste er als offizieller Nationalfeiertag weichen: der Gedenktag an den Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953. Das hält allerdings den Bürgerrechtler Carl-Wolfgang Holzapfel nicht davon ab, die Bedeutung dieses Tages zu würdigen. Das Interview führte PAZ-Mitarbeiterin Susanne Baumstark.
PAZ: Herr Holzapfel, wo waren Sie am 17. Juni 1953 und was haben Sie an diesem Tag getan?
Holzapfel: Da gibt es nur eine Erinnerung: Ich war neun Jahre alt, wohnte in West-Berlin und unsere Großmutter verbot uns, auf die Straße zu gehen: „Kinder, die Panzer kommen.“ Die verbindende Erinnerung entstand erst drei Jahre später mit der aktiven Verfolgung des Aufstands in Ungarn. Das war die Initialzündung, dieser verzweifelte Ruf nach Hilfe über Radio Budapest. Von da an gehörte mein Herz dem Freiheitskampf.
PAZ: Nun steht der 60. Gedenktag des 17. Juni 1953 vor der Tür. Wie werden Sie sich an diesem Tag einbringen?
Holzapfel: Wir werden, wie seit sechs Jahrzehnten, die Toten dieses für Deutschland und Europa so wichtigen Aufstandes ehren. Das beginnt traditionsgemäß am Vorabend mit der Ehrung am einzigen originären Mahnmal, am Holzkreuz in Berlin-Zehlendorf, und setzt sich am nächsten Tag mit diversen Erinnerungen fort. Dem Staatsakt auf dem Friedhof Seestraße wird die größte Aufmerksamkeit gewidmet. Immerhin nehmen alle zehn Jahre die Spitzen des Staates daran teil. In diesem Jahr wird die Bundeskanzlerin sogar die Ansprache halten. Unser Verein ist als einziger Verband traditionsgemäß an der feierlichen Kranzniederlegung direkt beteiligt.
PAZ: Sie sind in West-Berlin aufgewachsen und wohnten auch später nie auf dem Gebiet der DDR …
Holzapfel: Na ja, bis auf Hohenschönhausen und Bautzen II von 1965 bis 1966.
PAZ: Welche Bedeutung hat für Sie der Volksaufstand und weshalb interessieren Sie sich überhaupt dafür?
Holzapfel: Die Bedeutung des Aufstands in Mitteldeutschland begriff ich erst durch die intensive Aufnahme der Ungarischen Revolution von 1956. Ich war zwölf Jahre alt und begann, mich mit dem Widerstand gegen totalitäre Strukturen auseinanderzusetzen. Mit 13 Jahren schrieb ich ein interaktives Theaterskript über den Ungarnaufstand. Es beschreibt den dramatischen Kampf zwischen Budlap (Budapest) und Kremlowski (Kreml). Im Alter von 14 schrieb ich dann ein 60 Artikel umfassendes „Deutschlandpapier“, in dem ich eine mir möglich erscheinende Lösung der Teilung Deutschlands entwarf. Die Veröffentlichung im Berliner „Telegraf“ scheiterte an einem erneuten Heimaufenthalt, diesmal in Westdeutschland. Ich stamme aus einer Scheidungsfamilie, das war alles sehr kompliziert.
PAZ: „Volksaufstand“ und „Arbeiteraufstand“ sind ja die gängigen Bezeichnungen für den 17. Juni. Ausgelöst wurde er durch die Verkündung der Normenerhöhung durch das SED-Regime: Die Bürger sollten mehr arbeiten, allerdings ohne Lohnerhöhung. Welche Bezeichnung ziehen Sie vor und warum?
Holzapfel: Gehen wir davon aus, das Stauffenberg-Attentat vom 20. Juli 1944 war ein Aufstand der Intelligenz mit Planung von oben, aber ohne Beteiligung des Volkes, so war der 17. Juni 1953 in der Tat ein Arbeiteraufstand von unten, ohne Führung. Beide hätten Aussicht auf Erfolg gehabt, wenn ihnen nicht jeweils ein wesentlicher Faktor gefehlt hätte. Diese Tragödien, die den Ausgang beider, wenn auch sehr unterschiedlichen Aufstände bestimmten, werden viel zu wenig beachtet. Der 17. Juni war von seinem Ursprung her ein Arbeiteraufstand und wuchs sich in seiner kurzen, aber heftigen Entwicklung zum Volksaufstand aus, wobei der größere Teil des Volkes (im Westen) nicht einmal „Gewehr bei Fuß“ stand. Das hatte auf der Westseite mehr den Status des interessierten Beobachters, den das Ganze im Grunde aber nichts anging. Erst danach erwuchs das Gedenken, das wir Ernst Reuter, Ernst Scharnowski, Konrad Adenauer und Herbert Wehner verdanken.
PAZ: Für Ihr Freiheitsverständnis investierten Sie bereits einiges an Zeit und Energie, nicht nur zu DDR-Zeiten. Im Juni 2005 protestierten Sie mittels Hungerstreik vor dem Bundesfinanzministerium gegen die Abnahme der dortigen Erinnerungstafeln an den 17. Juni, allerdings erfolglos. Welche Politiker waren für die Abnahme verantwortlich? Und welche Antwort erhielten Sie auf Ihren Protest?
Holzapfel: Na ja, ich bin ja Bankkaufmann und als Investment würde ich mein Engagement nicht bezeichnen wollen. Ich brach nach dem Bau der Mauer eine Lehre in Hamburg ab und kehrte nach Berlin zurück. Als ich die Mauer das erste Mal sah, brach ich in Tränen aus. Ich war fassungslos, dass so etwas nach all den Geschehnissen im Dritten Reich im Herzen Europas möglich war: quer durch eine Millionenstadt eine tödliche Mauer zu ziehen. Und ich schwor mir vor der zugemauerten Versöhnungskirche, nicht eher zu ruhen, bis entweder diese Mauer fallen oder ich nicht mehr leben würde. Daran habe ich mich gehalten.
In der Tat hungerte ich 2005 vor dem Bundesfinanzministerium neun Tage lang aus Protest gegen die Entfernung der großen Erinnerungstafeln an dem Gebäude. Daraus wurde dann die „Ersatzforderung“, das Areal vor dem Ministerium in „Platz des 17. Juni“ zu benennen. Seither demonstrieren wir jedes Jahr zum 17. Juni dafür. Leider ist außer der Errichtung von Bildtafeln, die wir auch anregten, noch nichts geschehen. In diesem Jahr soll es endlich soweit sein. Wir rechnen damit, dass am 16. Juni das Gedenkareal in „Platz des Volksaufstandes von 1953“ benannt wird. Der jetzige Finanzminister ist da offensichtlich geschichtsbewusster als sein Vorvorgänger Hans Eichel, der seinerzeit unter Zuhilfenahme eines in diesem Fall zweifelhaften Denkmalschutzes die Tafeln entfernen ließ.
PAZ: Sehen Sie dies als Zeichen dafür, dass dem Gedenktag zukünftig wieder mehr Ehre zuteil wird?
Holzapfel: Bei allem Respekt vor dieser 23 Jahre nach der Einheit überfälligen Rückkehr des Gedenkens an den Ort des Geschehens, müssen wir realistisch bleiben: Der Volksaufstand hat nicht mehr den Stellenwert im Bewusstsein unseres Volkes, der ihm als erster Aufstand gegen den Kommunismus nach 1945 in Europa zukommt.
PAZ: Menschen, die sich für mehr Aufmerksamkeit für den 17. Juni 1953 einsetzen, wollen offenbar der Bevölkerung etwas vermitteln. Was genau ist das?
Holzapfel: Die Deutschen waren international und aus ihrem Selbstverständnis heraus diskreditiert als Bücklinge, als kritiklose Jasager „nach oben“. Der 17. Juni bewies in der neueren Zeit das Gegenteil. Nur acht Jahre nach dem Ende des braunen Desasters standen deutsche Arbeiter wider ihre diktatorische Obrigkeit auf. Ein Fanal! Und dieses Fanal war Beispiel und Ausgangspunkt für die Erhebungen in Posen (Polen) und Ungarn 1956, für den Widerstand in der damaligen CSSR 1967 und wieder in Polen 1980 mit der Gewerkschaftsbewegung. Es sollte uns nachdenklich stimmen, dass der 17. Juni in Polen, der Tschechei und Ungarn einen weit höheren Stellenwert hat als bei uns in Deutschland. Es wäre Zeit, sich aus dem historischen Trauma zu lösen und Geschichte wieder lebendig, als immerwährenden Auftrag und Wegbegleiter wahrzunehmen.
PAZ: Wie könnte diese Geschichte wieder lebendig werden?
Holzapfel: Zunächst einmal war und ist die Politik gefordert. Sie prägt das öffentliche Bewusstsein. Versagt sie in diesem Punkt, versagt auch die Erinnerung. Der Bundespräsident, der Bundeskanzler oder die Kanzlerin sollten es als Pflicht sehen, jedes Jahr öffentlichkeitswirksam dieses Tages zu erinnern – nicht nur im Rhythmus von zehn Jahren. Die Schulbücher, das Lehrprogramm sollte Geschichte eher von vorne als von hinten thematisieren. So interessant die Eis- und Steinzeit ist, unser Leben wird durch die Geschehnisse der letzten 100 Jahre geprägt und diese wiederum durch die davor liegenden Epochen. Ein Mensch, der die Gegenwart nicht begreifen kann, weil er über deren Entstehung durch die Ereignisse der letzten 100 bis 150 Jahre nicht informiert ist, geht für die Gegenwart als mitagierender Zeitgenosse verloren. Er wird zum Spielball für Demagogen, die sehr wohl geschichtsbewusst sind und ihr Wissen zur Manipulation Unwissender einsetzen.
PAZ: Neben dem 17. Juni – welche Forderungen liegen Ihnen sonst noch am Herzen?
Holzapfel: Die Aufarbeitungsindustrie muss sich auf ihre Grundidee besinnen und in erster Linie denen eine Stimme geben, die durch Zivilcourage und ihre Leiden in den Zuchthäusern der Diktatur die Grundlagen für unser heutiges Deutschland geschaffen haben.
PAZ: Sie sprechen von Aufarbeitungsindustrie: Was meinen Sie damit?
Holzapfel: Die DDR-Diktatur und ihre Folgen können nicht wirklich ernst genommen werden, solange an deren Aufarbeitung nahezu ausschließlich Menschen arbeiten, für die vor allem zählt: die Sicherung des Arbeitsplatzes oder die Auflagensteigerung historischer Bücher, die oft auch noch während der Arbeitszeit geschrieben, also bezahlt und in Vertragsverlagen garantiert aufgelegt werden.
Arbeitsplatzbeschaffungsmaßnahmen im Rahmen der Aufarbeitungsindustrie sehen zum Beispiel so aus: Ehemalige DDR-Zwangsarbeiter bei Ikea werden nicht entschädigt, stattdessen gibt es jetzt wissenschaftliche Mitarbeiter, die zu diesem Komplex forschen. Es hat sich eine satte Schicht herangebildet, die von der Aufarbeitung lebt. Jenen aber fehlt das innere Feuer, die Begeisterung für eine Sache, die unsereins unabhängig von Lohn- und Brotaussichten ein Leben lang motiviert und angetrieben hat und immer noch bewegt.
http://www.preussische-allgemeine.de/nachrichten/artikel/wider-die-aufarbeitungsindustrie.html
Förderverein Begegnungs- und Gedenkstätte Hoheneck e.V.
Hohenecker Bote
Nr.016 Förderverein – Info 15. April 2013
Totgesagte leben länger
Ein „Toter“ von Bautzen lebt und wie die Aufarbeitungsindustrie reagiert
Von Tatjana Sterneberg und Carl-Wolfgang Holzapfel
Berlin, 15.04.2013 – Nach dem Fall der Mauer, verstärkt nach der offiziellen Wiedervereinigung der deutschen Teilstaaten im Jahre 1990 wurden nicht nur diverse Vereine gegründet, die sich der Aufarbeitung der vorausgegangenen Diktatur und ihrer Opfer widmen wollten. Neben einem Dachverband dieser Vereine entstand schließlich sogar eine eigene Stiftung, die sich neben den bestehenden, meist parteinahen Institutionen der Förderung von Aufarbeitungsprojekten verschrieb. Dieses Konglomerat unterschiedlichster Institutionen führte in den nachfolgenden Jahren zu meist lukrativen, zumindest aber sicheren Plattformen, um Bücher, Filme, Ausstellungen und anderes zu produzieren, ohne dass sich z.B. Interessenten oder Mitarbeiter durch Lektorate quälen mussten. Kritische Zeitgenossen, meist einstige Opfer der Diktatur, sprechen heute sarkastisch von einer Aufarbeitungsindustrie.
Sie verkennen die Situation, wir sind für Sie da
Geht man zu den Wurzeln der Entstehungsgeschichte zurück, trifft man allerdings auf interessante Details. So hörte sich die Vorstellung der Arbeit einer wichtigen Stütze dieser Industrie um die Jahrtausendwende durchaus interessant an. Auf die Frage von Opfervertretern, ob man dieses oder jenes Projekt zur Aufarbeitung umsetzen könne, hieß es: „Sie verkennen die Situation. Sie sind nicht für uns, sondern wir sind für Sie da. Sie äußern Ihre Wünsche, wir bemühen uns um die Umsetzung.“
Wenige Jahre später hörte sich dies (übrigens aus dem gleichen Mund) so an: „So geht das nicht, das ist nicht umsetzbar. Da müssen Sie sich etwas anderes einfallen lassen. Das geben unsere Förderungsbedingungen nicht her.“ etc. etc.
Natürlich führte diese Änderung ursprünglicher Ausrichtung längerfristig auch zu Verschiebungen in den Verhaltensweisen bei den Opfer-Vereinen, um die potentiellen Förderer günstig zu stimmen. Die Spielregeln der Aufarbeitungsindustrie funktionieren inzwischen nahezu reibungslos – auf nahezu allen Ebenen. So wird kritikwürdiges Verhalten zunehmend nicht nach Inhalten, sondern danach beurteilt, ob diese Haltung von unbotmäßigen Opfervertretern oder angepassten Empfängern von Fördermitteln transportiert wird. Entsprechend wird „Empörung“ vorgetragen oder einfach geschwiegen.
Um in der nun festgefügten Liga der AufarbeitungsIndustrie (AI) ebenfalls mitspielen zu können, verschoben sich auch bei manchen Zeitzeugen die Koordinaten der eigenen Vita. Stand bisher das tatsächliche Erleben im Vordergrund, das für sich nicht nur schrecklich erschien, sondern vielfach grausam war, veränderte sich die Darstellung dieses Erlebens kontinuierlich in Richtung AI-Vermarktung.
Politisch Verfolgte verweigern sich
Da die AI inzwischen die Vermarktung zum Schwerpunkt machte, wurde zunehmend auf die Hinterfragung von Zeitzeugenberichten verzichtet. Je „eindrucksvoller“ diese waren, umso interessanter. Ließen sich diese „Erzähler“ doch wesentlich besser vermarkten, als pure „Wahrheitsfanatiker“, die nach wie vor glauben, die reale Wiedergaben ihrer Erlebnisse seien ausreichend. So ist es beispielsweise im 60. Jahr nach dem Volksaufstand vom 17. Juni nicht mehr vorrangig, die wenigen noch lebenden und tatsächlichen Teilnehmer am Aufstand zu befragen und einzubinden. Man beschränkt sich auf „Zeitzeugen“, für die bis vor wenigen Jahren der Aufstand keine Rolle spielte, weil sie einst neugierig waren und eher ängstlich am Straßenrand standen. In der von der AI vermittelten aktuellen Darstellung mutierte z.B. ein so „Geförderter“ zum staatsfeindlichen Steinewerfer auf Fahrzeuge der Sowjets, aus der jugendlichen Straßenrandfigur wurde so der aktive „Kämpfer vom 17. Juni.“
Dankenswerterweise verweigert sich der Großteil der einst politisch Verfolgten diesem unseriösen Treiben. Sie ziehen sich allerdings zunehmend frustriert und enttäuscht zurück, treten sogar aus ihren angestammten Vereinen aus. So verbleiben auf der Bühne öffentlicher Wahrnehmung die „spannenden Geschichtenerzähler“, die damit die AI am Leben halten. Um aber „im Geschäft“ bleiben zu können, vermeiden diese Spannungsdarsteller jegliche Kritik an ihren potentiellen Förderern und Geldgebern. So haben beide Seiten etwas von dieser freilich fragwürdigen Geschichtsvermittlung.
Hier alle Ungereimtheiten und nachweisbaren „Storys“ anzuführen, würde den Rahmen ebenso sprengen, wie – als Beispiel – die folgende Legende von Angelika Delitz* (*Name geändert) den Rahmen bisheriger „spannender Geschichten“ sprengt. Sie ist nichtsdestoweniger ein belegtes Beispiel für den mehr als sorglosen Umgang der in der AI wirkenden Kräfte mit den Berichten von „Zeitzeugen“.
Ein „in Bautzen Verstorbener“ lebt
Erst im letzten Jahr erschien ein Buch, in dem auch Angelika Delitz* in den Leser berührender Weise von ihrem schweren Schicksal erzählte. „Endlich wieder leben“ nach den Jahren der Demütigungen in Haftanstalten, die zu Recht auch als „der dunkle Ort“ bezeichnet wurden. Delitz* war zusammen mit ihrem Verlobten und dessen Freund 1953 in der DDR zu mehreren Jahren Haft verurteilt worden. Nachdem sie im Haftkrankenhaus unter „fürchterlichen Bedingungen“ das gemeinsame Kind geboren hatte, will sie 1954 im berüchtigten Frauenzuchthaus Hoheneck durch eine Haftkameradin vom „Tod“ ihres Verlobten im Zuchthaus Bautzen II erfahren haben. Später, nach ihrer Entlassung aus der Haft, habe sie erforscht, dass der Verlobte noch „in Bautzen eingeäschert“ und die Urne an die Eltern „an der Ostsee“ versandt und dort beigesetzt worden sei.
Ein erschütterndes Schicksal, das uns schließlich veranlasste, uns auf die Spur ungeklärter Todesfälle in der politisch bedingten Haft in den einstigen Zuchthäusern der DDR zu begeben. Das Schicksal des Verlobten der Angelika Delitz* schien uns dafür prädestiniert.
Allerdings belegen jetzt aufgefundene Unterlagen, dass der „Verlobte“ niemals in Bautzen war und als zur höchsten Strafe Verurteilter (14 Jahre Haft) 1958, also vier Jahre nach seinem behaupteten Tod, begnadigt und aus der Strafanstalt Rummelsburg entlassen wurde. Totgesagte leben länger, sagt man. Auch die Angabe, nie gewusst zu haben, wo ihr Verlobter seine Haft verbüßte, wird durch die Akten-Funde infrage gestellt. In einem Schreiben von 1954 an Angelika Delitz* wurde dieser offiziell auf Nachfrage mitgeteilt, ihr Verlobter sitze in der Haftanstalt Torgau ein.
Wer Angelika Delitz* am Radio zuhört, sie im Fernsehen sieht oder bewegt ihren Ausführungen bei zahlreichen Auftritten der AI folgt, ist auch über deren „verzweifelte Suche“ nach ihrem Kind über das Rote Kreuz erschüttert. Erst nach „weiteren zehn Jahren“ will sie endlich ihr Kind gefunden haben. Auch hier belegt die Forschung einen anderen Sachverhalt. In einem DDR-Akten-Vermerk von 1957 ist zu lesen, das die Staats-Anwaltschaft Düsseldorf* (*Name der Stadt geändert) Angelika Delitz* „wegen Unterhaltsentzug“ suche. Ermittlungen wegen Unterhaltsentzug ohne Kenntnis über den Aufenthalt des minderjährigen Kindes?
Wasserzelle und Dunkelhaft für positives Verhalten?
Nach Angelika Delitz* wurde diese 1954 nach der Entbindung in die Frauenstrafanstalt Hoheneck überführt; dort habe sie nicht nur vom Tod ihres Verlobten erfahren, sondern sei auch zur Strafe für ihre Weigerung, eine Adoption für ihr Kind zu unterschreiben, in die dortige Wasserzelle und in Dunkelhaft gesperrt worden (Hier divergieren die Angaben in zwei Büchern durch Delitz* selbst). Auf die Zitierung des Berichtes über den unmenschlichen Wasserzellen-Aufenthalt wird hier verzichtet. Nicht verzichtet werden soll hier auf die Frage, wie Angelika Delitz 1954 nach Hoheneck und dort in die Wasserzelle und/oder anschließende Dunkelhaft gelangte, wenn sie nach dem Haftkrankenhaus in Meusdorf (Entbindung) zunächst in die Haftanstalt nach Altenburg und von dort bis August 1955 in die StVA Görlitz verbracht worden war? Die angeführten Haftanstalten tauchen in keinem ihrer Berichte auf.
Und folterte man Gefangene durch Wasserzelle und Dunkelhaft, wenn gleichzeitig in den Akten die positive Haltung der Strafgefangenen Angelika Delitz* vermerkt und ihr täglicher Bezug des Zentralorgans der SED „Neues Deutschland“ und einer weiteren Zeitung lobend erwähnt wurde?
Auch die Erzählung über die Folter in der Stasi-U-Haft in Leipzig muss nach jetziger Aktenlage neu bewertet werden. Es findet sich kein einziger Beleg über die Befassung der Stasi (amtlich: des Ministeriums für Staatssicherheit –MfS-) mit der Erzählerin oder ihren Mitangeklagten. Nach Leipzig gelangte sie erstmals vor dem angesetzten Verhandlungstermin, als die Verlegung aus einem Krankenhaus nach Leipzig Ende April 1953 (von der Justiz, nicht von der Stasi) angeordnet wurde. Und warum sollte man Angelika Delitz* mittels Wasserzelle und Dunkelhaft zu einem Geständnis bewegen, wenn sie bereits in der ersten Vernehmung in der U-Haft (in ihrer Geburtstadt) geständig im Sinne der erhobenen Vorwürfe war? Jedenfalls lag vor der Verlegung nach Leipzig bereits die Anklageschrift vor, die Ermittlungen (der Staatsanwaltschaft) waren also abgeschlossen.
Die Akten geben noch einiges mehr her, was mit den „Erzählungen“ der einstigen politischen Gefangenen nicht übereinstimmt. Die Wiedergaben weiterer Details, die der Redaktion sämtlich vorliegen, würden auch hier den gegebenen Rahmen sprengen.
Konfrontation mit der Wahrheit abgewiesen
Was haben diese Erzählungen mit der AI, mit deren Aufgaben zu tun? Leider Einiges. Nachdem bereits im letzten Jahr erste „Unwahrheiten“ bekannt geworden waren, publiziert in einem von der AI geförderten Buch, und andere Autorinnen eine Berichtigung verlangt hatten, verweigerte die fördernde Institution dafür die Zustimmung. Begründung: Delitz* erzähle seit Jahren unverändert die selbe Geschichte, daher müssen diese stimmen. Geht’s noch? Im Gegenteil. Nach Bekanntwerden der „Unrichtigkeiten“ wird Angelika Delitz* von AI-Einrichtungen in einem zuvor nie gekannten Ausmaß zu Vorträgen und Repräsentationen eingeladen. Es lässt sich konstatieren: Delitz* ist gut im Geschäft. Auch für die unterschiedlichen, weil abweichenden Darstellungen über sie in verschiedenen Zeitzeugenportalen hat sich bis heute ebenfalls keine Einrichtung interessiert. Die Konfrontation mit der Wahrheit wird abgewiesen oder schlicht ignoriert. Weil sie den Vermarktungsintentionen der AI widerspricht?
So kann Angelika Delitz* als ehemalige BGL-Vorsitzende (BGL – Betriebsgewerkschaftsleitung) der „Bahnsicherheit“ und Mitglied in diversen politischen DDR-Verbänden weiterhin offiziell einen Opferverein führen, im Vorstand eines Dachverbandes wirken und nach wie vor mit Unterstützung der AI mit leiser, fast zerbrechender Stimme von ihrem Schicksal erzählen. Schlimm wird dies erst durch die dramatisch erscheinenden Zufügungen, die man anderswo als Lügen zu bezeichnen pflegt. Wäre sie nach ihrem erstenAufenthalt in der (alten) Bundesrepublik zwischen 1950 und 1951 (Tätigkeit in der Landwirtschaft und einem Haushalt) im Westen geblieben, wären ihr nicht nur Urteil und Haft sondern auch die aktuellen Vorhalte erspart geblieben.
Wenigstens den Bundespräsidenten wagte sie nicht, doppelt zu belügen. Beim Besuch von Christian Wulff in Hoheneck im Mai 2011 führte sie diesen in die dortige einstige Wasserzelle, betonte aber, dort sei sie „im Gegensatz zur U-Haft in Leipzig“ nicht gewesen. Immerhin.
Welche Konsequenzen die beiden Buchverlage aus der Tatsache ziehen wollen, offensichtlich falsche Angaben verbreitet zu haben, war bis Redaktionsschluss nicht in Erfahrung zu bringen. Auch eine AI-Institution steht wohl unausweichlich vor der Überprüfung der von ihr geförderten DVD-Dokumentation „Ein Tag zählt wie ein Jahr“. Eingeweihte sprechen von einem publizistischen Desaster und verheerenden Auswirkungen auf die Glaubwürdigkeit von Zeitzeugen. Angelika Delitz* wollte trotz mehrerer Anfragen zu den jüngsten Forschungsergebnissen keine Stellungnahme abgeben.
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Neuwahlen: Jahrestreffen der ehemaligen Hoheneckerinnen Anfang Mai in Stollberg
Hoheneck, 15.04.2013/cw – Zu ihrem jährlichen Treffen kommen die Frauen von Hoheneck Anfang Mai in Stollberg und Zwönitz (Erzgebirge) zusammen. Auf der Mitgliederversammlung des Vereins „Frauenkreis der ehemaligen Hoheneckerinnen e.V.“ wird u.a. ein neuer Vorstand gewählt und u.a. der aktuelle Stand in Sachen Gründung einer „Begegnungs- und Gedenkstätte in Hoheneck“ diskutiert. Laut Tagesordnung werden zu diesem Thema auch der Vorsitzende des (zweiten) Fördervereins Dietrich Hamann und der Vorsitzende der geplanten Gedenkstätte „Kaßberg“ in Chemnitz und Leiter der dortigen BStU-Außenstelle Dr. Clemens Heitmann referieren. Letzteres Referat ist nicht ohne Pikanterie, da sich die Gedenkstätte „Kaßberg“ aus Sicht von Beobachtern der Szenerie in eine bedauerliche Konkurrenzsituation zu Hoheneck manövriert hat. Eine erste, im Dezember 2011 vorgelegte Konzeption hatte noch eine Einbindung der jetzt auf den Weg gebrachten Chemnitzer Gedenkstätte in ein Gesamtkonzept für die ehemalige Frauenhaftanstalt vorgesehen.
Der amtierende Vorstand hatte dem zuständigen Registergericht Anfang des Monats mitgeteilt, den Rücktritt des Vorstandes und anschließende Neuwahlen in die Tagesordnung aufzunehmen. Damit wird nunmehr auf die anhaltende Kritik aus den Reihen der Mitglieder reagiert, die sich letztlich sogar veranlasst sahen, einen Rechtsanwalt zu bemühen.
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Lesung „Wo sind die Toten von Hoheneck?“ mit Autorin Ellen Thiemann
Stollberg, 15.04.2013/cw – Zusätzlich zu dem jährlich wiederkehrenden Angebot von Zeitzeugengesprächen in einer örtlichen Schule durch den Verein wird die einstige Hoheneckerin und Buchautorin Ellen Thiemann am 4. Mai ihr neuestes Buch „Wo sind die Toten von Hoheneck?“ in den Veranstaltungsräumen der Stadt Stollberg „im dürer“ um 15:30 Uhr in einer Lesung vorstellen. Veranstalter: Frauenunion Erzgebirge und die Buchhandlung Lindner aus Stollberg.
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VOS: Vera Lengsfeld strebt demokratische Wahlen an
Berlin, 15.04.2013/cw – Die einstige Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld, jüngst durch den VOS-Bundesvorstand bestätigte Landesvorsitzende von Berlin-Brandenburg, strebt für den Sommer 2013 demokratische Wahlen an. Danach sollen alle Mitglieder des Landesverbandes einen neuen Landesvorstand wählen. Bisher hatten ausschließlich fünf Delegierte den Vorstand „gewählt“, was zu Irritationen geführt und auf zunehmende Kritik unter den Mitgliedern gestoßen war.
Strafbefehl für einstigen UOKG-Vize und Workutaner
Berlin, 15.04.2013/cw – Kurz nach seinem 84. Geburtstag erhielt der ehemalige Workutaner und langjährige UOKG-Vize Lothar Scholz per Einschreiben einen Strafbefehl über 900,00 Euro zugestellt. Vorwurf: Er soll die Leiterin der Gedenkstätte Leistikowstraße in Potsdam Ines Reich bedroht haben. Der rüstige Veteran dazu: „Bereits zu meinem 19.Geburtstag war mir die Verurteilung eines Moskauer Gerichtes zu 15 Jahren Zwangsarbeit in Sibirien „per Post“ übermittelt worden. An dieser Praxis der ´postalischen Verurteilung´ hat sich wohl nichts verändert.“
Hinweis: Die bisherigen Ausgaben des Hohenecker Boten können unter www.17juni1953.de (>Förderverein und/oder > Hohenecker Bote) abgerufen oder direkt bei der Redaktion gegen Kostenbeitrag bestellt werden. Die Vereinigung hat uns einstweilen Gastrecht bis zur Einrichtung einer eigenen Homepage auf ihrer Seite eingeräumt. Fotos/Dokumente dieser Ausgabe nur im Internet.
© 2013 Redaktion: Förderverein Begegnungs- und Gedenkstätte (BuG) Hoheneck e.V., verantwortlich: C.W. Holzapfel, Kaiserdamm 9, 14057 Berlin
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