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Von Carl-Wolfgang Holzapfel*
Berlin, 14.Juni 2019 – „Wir werden nicht ruhen – diesen Schwur lege ich hier ab für das gesamte deutsche Volk -, bis auch die achtzehn Millionen in der Sowjetzone wieder in Freiheit leben, bis ganz Deutschland wieder vereint ist in Frieden und Freiheit.“ Bundeskanzler Konrad Adenauer am 23.06.1953 in Berlin.
Es ist 66 Jahre her, an dem sich „zum ersten Mal seit 1933 die Arbeiter am 16. und 17 Juni 1953 zu Demonstrationen zusammen“ fanden. „Keine staatliche Anordnung, kein organisierter Beschluß setzte die Massen in Marsch. Spontan kamen sie aus den Industriewerken der Sowjetzone, um vor dem sowjetzonalen „Regierungsgebäude“ ihren Willen zu bekunden.“ So die einleitende Beschreibung des seinerzeitige Bundesministeriums für Gesamtdeutsche Fragen für ein 1953 vorgelegtes „Bilddokument einer echten Volkserhebung,“ , das im Archiv der Vereinigung 17. Juni vorliegt.
Es ist auch nach nahezu siebzig Jahren bewegend, mit welcher Akribie die damalige Bundesregierung Bild- und Text-Dokumente dieses ersten Aufstandes gegen die kommunistische Gewaltherrschaft in Europa zusammengetragen hat.

Das einzige originäre Denkmal an den Aufstand wurde 1953 in Berlin-Zehlendorf ggüb. einem sowjetischen Panzer errichtet –
Foto: Archiv 17.Juni
Für den Geschichtshungrigen ist allein diese originale Broschüre ein wahrer Schatz, zumal das offizielle Deutschland sich seit Jahrzehnten in einem schleichenden, weil nahezu unbemerkten Prozess der Erinnerung an diesen Volksaufstand entzieht. War der seinerzeitige Schwur Konrad Adenauers vor dem Schöneberger Rathaus noch mit einer glaubwürdigen Inbrunst vorgetragen worden, die Niemand als „politisches Geschwätz“ missverstand, werden heute die wenigen Erinnerungs-Zelebrierungen, wie der Staatsakt auf dem Friedhof Seestraße im Berliner Arbeiterbezirk Wedding als Rituale verstanden, die auch von den Medien mit zunehmender Unlust transportiert werden. So werden prominente Redner dabei ertappt, sich bereits abgelegter Rede-Manuskripte zu bedienen, weil ihnen in der Tat zu diesem Tag nichts Bewegendes mehr einfällt.
Trauer und Stolz eine unauflösbare Einheit
Dabei gäbe es auch in unserer Zeit genügend Anknüpfungspunkte, um an diesen ersten demokratischen Aufstand seit der Weimarer Republik zu erinnern. Junge Menschen gehen wieder auf die Straße, weil sie sich um die Zukunft sorgen, sich von der Politik im Stich gelassen fühlen. Vielleicht liegt dieses Gefühl der „Verlassenheit“ auch darin begründet, dass unsere Politiker nicht mehr in der Lage sind, Geschichte so lebendig zu vermitteln, daß sich junge Menschen davon angesprochen und inspiriert fühlen. Man kann Geschichte nicht nur auf Zeiten des Niedergangs, der Scham, die aus den zweifellosen Verbrechen erwachsen ist, beschränken. Wir können diese dunklen Tage eigener Geschichte überhaupt erst ertragen, wenn wir uns auch der Tage bewusst sind, auf die wir alle Zeiten und mit Recht wahrhaft stolz sein dürfen. Wenn Geburt und Tod untrennbar zusammen gehören, dann sind auch Trauer und Stolz eine unauflösbare Einheit.
So falsch die alleinige Hervorhebung großer historischer Ereignisse wäre, so falsch wäre und ist die Reduzierung eigener Geschichte ausschließlich auf Ereignisse der Trauer und des Niedergangs. Beides führt zur schleichenden Zersetzung der Identität eines Volkes, zerstört jedwede Basis des Vertrauens in die eigene und vor allem glaubwürdige Zukunftsfähigkeit.
Wir dürfen stolz sein auf diese Tage im Juni 1953. Sie waren der deutsche Auftakt zu einer Freiheitsgeschichte im zerrissenen Nachkriegs-Europa, dem (nahezu vergessenen) Aufstand im Sommer 1956 im polnisch gewordenen Posen, dem dramatischen Freiheitskampf im Oktober/November 1956 in Ungarn, der Freiheitsbewegung von 1967 in der CSSR unter Alexander Dubcek (wer kennt noch diesen Namen unter den „Nachgeborenen“?), dem Kampf der Solidarnosc in Polen in den achtziger Jahren. Ohne den Mut deutscher Frauen und Männer, denen man bis dahin unwidersprochen als Volk die willenlose Unterwerfung unter jedwede Obrigkeit unterstellte, ohne diesen Mut hätte es diesen Aufbruch in das freie Europa so nicht gegeben, wie wir es heute kennen und trotz aller Vorbehalte letztlich zu schätzen, fast schon zu lieben gelernt haben.
Wir sollten einen neuerlichen Stolz auf diesen Aufstand entwickeln, eine neue Dankbarkeit jenen Frauen und Männern gegenüber, die für diesen Ruf nach Freiheit und freien Wahlen, nach der Einheit unseres Vaterlandes mutig auf die Straße gegangen, dafür in die Zuchthäuser der Nach-Nazi-Diktatur gegangen und auch dafür gestorben sind. Der 17. Juni 1953 ist ein Gedenktag, der mit Leben, weil mit vielfältigen Erinnerungen angefüllt ist. Wir sollten diesen Tag dem Fast-Vergessen bewusst entreißen, ihn als historische Klammer zwischen den dunklen und den hellen Zeiten unserer Geschichte begreifen. Den 3. Oktober, der das Gedenken an den 17. Juni 1953 schmählich abgelöst hat, dürfen wir ohne Bedenken dem Orkus der Geschichte überantworten. Er ist als Gedenktag „nach Aktenlage“ blutleer, ohne jedweden erinnernden Lebenshauch, der uns mit dem Inhalt eines wirklichen Gedenktages über politische Grenzen hinaus verbinden sollte.
Der 17. Juni 1953 ist ein Gedenktag, der uns in jedweder Erinnerung mit Leben erfüllt und (wieder) inspirieren sollte. Lasst uns an Deutschlands, an Europas Zukunft glauben. Das ist ohne Erinnerung – auch an diesen Volksaufstand – nicht möglich.
* Der Autor ist Vorsitzender der Vereinigung 17. Juni 1953 in Berlin.
V.i.S.d.P.: Redaktion Hoheneck, Berlin – Tel.: 0176-48061953 (1.420).
Aus aktuellem Anlass verweisen wir auf folgende Veranstaltungen der Vereinigung bzw. deren Mitwirkung:
– 16. Juni – 11:00 Uhr: Ehrung der Toten an den Mauerkreuzen am Reichstag, Friedrich-Ebert-Straße.
– 16. Juni – 12:00 Uhr: Ehrung am Gedenkstein Weberwiese (Karl-Marx-Allee).
– 16. Juni – 14:00 Uhr: Strausberg, Gedenkstein „17. Juni 1953“ vor der Kaserne.
– 16. Juni – 16:00 Uhr: Gedenken am Steinplatz/Hardenbergstraße – Opfer des Stalinismus, Opfer der nationalsozialistische Gewaltherrschaft.
– 16. Juni – 18:00 Uhr: Gedenkfeier am einzige originären Denkmal an den Aufstand in Berlin-Zehlendorf, Potsdamer Chaussee (Autobahn-Kleeblatt) „Holzkreuz“.
– 16. Juni – 19:00 Uhr: Mitgliederversammlung.
– 17. Juni – 09:45 Uhr: Kranzniederlegung mit Reg. Bürgermeister von Berlin am ehem. „Haus der Ministerien“, dem heutigen Bundesfinanzministerium, Platz des Volksauftandes von 1953.
– 17. Juni – 11:00 Uhr: Staatsakt Bundesregierung und Senat von Berlin, Friedhof Seestraße, Seestraße 93
– 17. Juni – 11:30 Uhr: Gedenken der Verstorbenen Teilnehmer und Zeitzeugen
– 17. Juni – 17:00 Uhr: Treffen mit Schulklasse aus Bremen „Haus der Ministerien“
– 17. Juni – 19:00 Uhr: Treffen mit Schulklasse aus Bremen am „Holzkreuz“ in Zehlendorf. Thema: Der Umgang in Deutschland mit dem Gedenken.
Verantwortlich: Vereinigung (AK) 17. Juni 1953 e.V.
Berlin, 2.Oktober 2018/cw – Die Innenstadt gleicht eher einem Heerlager als der freudigen Einstimmung auf ein nationales Fest. Weiträumige Absperrungen im weiten Zirkelkreis rund um das Brandenburger Tor können einem durchaus freudig gestimmten Besucher der diesmal von Berlin gestalteten Festlichkeiten zum „Tag der Deutschen Einheit“ verleiden. Streckenweise fühlt man sich an unselige Absperrungen rund um das Aufmarschgelände für Partei und Armee zu Zeiten der DDR erinnert, nicht aber an die anderen demokratischen Zeiten im einstigen West-Berlin, als bis zu 600.000 (!) Berliner zum Beispiel am 1. Mai zum Platz der Republik vor dem damals noch ruinösen Reichstag zur Freiheitskundgebung zogen, ungehindert von Absperrungen und Kontroll-Barrieren.
Bedenklicher Wechsel in der Selbstdarstellung
Sicherlich haben sich seither einige Koordinaten verändert, nicht zuletzt auch durch den fürchterlichen Anschlag vor der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche auf den – frei zugänglichen – dortigen Weihnachtsmarkt. Trotzdem bleibt die Notwendigkeit, auf diesen Wechsel in der Selbstdarstellung eines demokratischen Staates kritisch hinzuweisen, um die Einschränkungen nicht ausufern zu lassen oder um einen ständigen Ausbau durch eifrige Schreibtisch-Bürokraten möglichst zu verhindern. Ein wesentliches Merkmal unserer Demokratie ist die permanente Überprüfung von Maßnahmen auf deren Notwendig- oder Überflüssigkeit.
Nicht hinnehmbar allerdings ist der Umgang mit Gedenkstätten im Rahmen notwendiger Sicherheitsvorkehrungen, darauf hat heute die Vereinigung 17. Juni in Berlin hingewiesen. So wurden die Gedenkkreuze an diverse Opfer der Mauer im Schatten des Reichstages (Ebert-/Ecke Scheidemannstraße) zunächst gedankenlos von Arbeitern mit Absperrgittern zugestellt. Nachdem der Senator für Kultur, Klaus Lederer, intervenierte, wurden die Gitter schnellstmöglich hinter die Kreuze verlegt, was die Berliner Stadtreinigung nicht daran hinderte, im Gefolge der erfolgreichen Fehlerbehebung diverse Abfallcontainer vor den Kreuzen zu platzieren. Nach erneuter Intervention auch des Senators wurden diese wieder entfernt, die BSR hat sich „für diesen Fehler“ entschuldigt.
Gedankenlose Entsorgung vor Gedenkkreuzen
Bei einer gestrigen Begehung des Geländes, das für die Feierlichkeiten zum 3. Oktober aufbereitet wurde, stellte die Vereinigung fest, dass erneut ein wohl im Wege stehendes Absperrelement vor den Kreuzen abgestellt worden war. Zudem war das bereits vorhandene großflächige Sperrgitter auf der Mitte der Scheidemann- und Eberstraße weiterhin vorhanden. Besucher – auf dem Weg zum Brandenburger Tor – können also nicht spontan an den Gedenkkreuzen innehalten und der Opfer der Mauer und Teilung gedenken.
Die Vereinigung 17. Juni wird heute zwischen 14:00 und 15:00 Uhr an den Gedenkkreuzen jeweils eine Rose anbringen. In diesem Zusammenhang hat die Vereinigung an die Verantwortlichen appelliert, wenigstens zwei Sperrgitter auf der Höhe des dortigen Mahnmals zu entfernen, um einen freien Zugang zu ermöglichen. Es könne nicht sein, dass „zur Jubelfeier um die Deutsche Einheit die Gedenkkreuze an die Toten der Mauer geradezu versteckt werden,“ erklärte der Verein einen Tag vor dem Feiertag in Berlin. „Die ermordeten Opfer der Teilung gehören als deren Lastenträger zum festen Bestandteil der deutschen Geschichte. Der ungehinderte Zugang zu deren Mahnmalen sollte auch in Zeiten notwenig erscheinender Sicherheitsmaßnahmen außer Diskussion stehen,“ sagte Vorstandssprecher Holzapfel.
V.i.S.d.P.: Redaktion Hoheneck, Berlin – Tel.: 030-30207785 oder 0176-48061953 (1.434).
Berlin, 22.04.2018/cw – Dem aktuellen Regierenden Bürgermeister kann man ja einiges vorwerfen, einen Mangel an Ideenreichtum wohl nicht. Michael Müller machte unlängst Furore mit seinem Vorschlag zur Grundsicherung. Jetzt ging der Auch-Bundesratspräsident mit der Idee an seine Berliner Öffentlichkeit, sich zwischen drei Feiertagsvorschlägen zu entscheiden: Dem 8. Mai (1945, „Tag der Kapitulation“ oder „Tag der Befreiung“, je nach Gusto), dem 17. Juni (1953, Volksaufstand in der DDR, bis 1990 gesetzlicher und arbeitsfreier Feiertag in der alten Bundesrepublik) oder dem 27. Januar (1945, dem Befreiungstag des Vernichtungslagers Auschwitz, bereits als nicht-arbeitsfreier Holocaust-Gedenktag etabliert).
Meisterhafte Verdrängung oder meisterhafter Polit-Circus?
Interessanterweise taucht bei Michael Müller der 9. November nicht auf (1918 Ausrufung der Republik; 1923 Niederschlagung des Hitler-Putsches in München; 1938, als „Reichskristallnacht“ bekannter Auftakt zur aktiven Juden-Verfolgung durch die Brandschatzung diverser Synagogen und jüdischer Geschäfte, 1989 Fall der Berliner Mauer). Für einen Berliner und dazu noch Regierenden Bürgermeister etwas seltsam. Meisterhafte Verdrängung oder meisterhafter Polit-Circus?
Der 9. November ist in der Geschichte der Deutschen und dadurch – zwangsläufig – in der Geschichte Europas in seiner Anhäufung historisch bedeutsamer Momente ein einmaliges Datum. Er vereint (hier nicht erwähnt die Ermordung des Mitgliedes der demokratischen Paulskirchen-Versammlung, Bodo Blum, 1848 in Wien) Höhepunkte der deutschen Geschichte mit der Erinnerung an deren absoluten Tiefpunkt, dem 9. November 1938. Das war auch der Grund, warum die Vereinigung 17. Juni in Berlin bereits am Jahresende 1989 den Vorschlag unterbreitete, den (bisherigen freien Arbeits-Feiertag) „17. Juni“ gegen den „Nationalfeiertag 9. November“ auszutauschen. Der damalige Parlamentspräsident Jürgen Wohlrabe (CDU) begrüßte diesen Vorschlag vorbehaltlos, der Bündnis90/GRÜNE-Abgeordnete Werner Schulz griff im Deutschen Bundestag vor einigen Jahren diesen Vorschlag auf, bisher vergeblich.
17.Juni dient offenbar nur als Alibi
Dem Verein, der sich nach dem Volksaufstand als KOMITEE 17.JUNI zur Erinnerung an die Erhebung gegründet und am 3. Oktober(!) 1957 unter seinem jetzigen Namen in das Vereinsregister eingetragen worden war, war die Entscheidung pro 9. November seinerzeit nicht leicht gefallen. Der einstige Mauerdemonstrant und damals stv. Vorsitzende Carl-Wolfgang Holzapfel, seit 1963 Mitglied, konnte sich aber schließlich mit seiner Argumentation durchsetzen: Mit dem 9. November 1989 seien die Ziele der Aufständischen von 1953 wesentlich umgesetzt worden, das würde den Verzicht auf den bisherigen Feiertag auch unter dem Aspekt der anderen historischen Ereignisse an diesem November-Tag rechtfertigen.
Das der „geschichtslose, lediglich nach Aktenlage“ entschiedene 3. Oktober den 17. Juni als arbeitsfreien Tag ablösen würde, davon hatten die 17er bei ihrem Vorschlag zum damaligen Zeitpunkt keine Ahnung. Wenn jetzt Michael Müller diesen 17. Juni neben zwei anderen Vorschlägen ins Gespräch bringt, könne das nur als „Polit-Klamauk“ verstanden werden, so der Vorstand der Vereinigung in einer Stellungnahme. Müller umgehe „aus unbegreiflichen Gründen eine notwendige Diskussion um den 9. November“ oder verdränge dieses Datum absichtlich, um „mittels Nebelkerzen namens 8. Mai oder 27. Januar unerwünschtes Nachdenken“ auszuklammern. Dabei spiele der 17. Juni offenbar nur die Rolle eines Alibis, um dem Vorwurf möglicher Einseitigkeit zu entgehen: „Dies hat dieser bemerkenswerte Tag in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands nicht verdient,“ so der historische Verein. Müller solle auch wegen seiner Glaubwürdigkeit diesen Polit-Circus „schnellstens beenden“ und einen ernstgemeinten Vorschlag in die Debatte einbringen, deren Notwendigkeit überfällig ist, erklärte der Vorstand heute in Berlin: „Es ist nicht hinnehmbar, wenn die Geschichte durch derlei Vorschläge zum Spielball der Politik gemacht wird.“
V.i.S.d.P. / © 2018: Redaktion Hoheneck, Berlin – Tel.: 030-30207785 (1.376).
Von Carl-Wolfgang Holzapfel*
3.Oktober 2016 – An dieser Stelle haben wir bereits mehrfach auf das unselige Datum „3.Oktober“ – Gedenktag nach Aktenlage – hingewiesen. Dabei sind unsere Bedenken in den Jahren eher gewachsen. Bislang hat man uns nicht vom Gegenteil überzeugt. Daher nehmen wir den diesjährigen 3. Oktober zum Anlass, anstelle von (an diesem Tag) unangebrachten Feiern einen Rückblick zu wagen.
Ja, wir denken auch 27 Jahre nach jenem 9. November mit Freudenschauer an diese Nacht der Nächte zurück. Obwohl buchstäblich noch alles offen war, die DDR existierte ja noch, die Zukunft schien ungewiss, taumelten wir freudetrunken einander entgegen: Ost- und West-Volk. Dass dies vorwiegend in Berlin oder im nun (bevorstehend) einstigen Grenzgebiet geschah, wo die Teilung tagtäglich zu sehen und zu spüren war, geschenkt. Da, wo die Begegnung Mangels Masse und Nähe nicht stattfand, fieberte man zumindest am TV-Gerät oder am Radio mit. Das gequälte und geteilte Land gab sich der ungeteilten Freude hin, dem unausgesprochenen und doch lebendig empfundenen Gefühl der Auferstehung aus Ruinen (des Kalten Krieges) hin.
Und der Zukunft zugewandt
In dieser euphorischen Aufbruchstimmung wurden neue Gedanken geboren, mit Ideen zuhauf experimentiert. Der 9. November sollte zum Tag der Nation erhoben werden. Das Brandenburger Tor zu einer gemeinsamen, bisherige Grenzen überwindenden Denk- und Gedenkstätte der noch geteilten deutschen Staaten umgewidmet werden. Helmut Kohl legte handstreichartig sein Zehn-Punkte-Programm zur Einheit vor, und, und, und … Wir waren in diesen Tagen, Wochen und Monaten lebensbejahend der Zukunft zugewandt. Auch das in dieser Komplexivität einmalig in der deutschen Geschichte.
Laß uns dir zum Guten dienen
Laß uns dir zum Guten dienen: Wer wollte damals widersprechen? Die Ewig-Gestrigen? Die DDR-Nostalgiker gab es in dieser Zeit (noch) nicht. Jedenfalls waren sie im Freudentaumel noch nicht sichtbar. Heute wissen wir mehr. Dass sich die Verbrecher am Volk im Schatten des WIR-Taumels um die Rettung von (wirtschaftlichen) Positionen (und Konten) kümmerten, die Zukunft belasteter Funktionen durch funktionale Tricks durch die Waschmaschine des Einheits-Nebels jagten. So wurden zum Beispiel MfS-Angehörige in das MdI (Ministerium des Innern) umgruppiert (und konnten so in ordentliche Funktionen im später geeinten Deutschland übernommen werden), während die Reißwölfe heiß liefen, um soviel wie möglich belastendes Material zu vernichten. Es wiederholte sich, was nach dem Zusammenbruch 1945 geschah: Belastete Kader und eigentliche Verbrecher bemühten sich einst erfolgreich um die Integration in die Ordnung der Nachkriegs-Gebilde alliiert dominierter deutscher Staaten.
Deutschland, einig Vaterland
Heute, 27 Jahre nach dem 9. November 1989, wünscht man sich die Euphorie dieser Zeit wenigstens ansatzweise zurück: Deutschland, einig Vaterland. Und man wird sich gleichzeitig schmerzlich bewusst, dass es ja dieses Wesen des Urknalls, dieser spontanen Euphorie ist, dass diese einmalig ist, nicht auf Befehl und schon gar nicht zu einem willkürlich geschaffenen Datum abrufbar ist. Aber auch Erinnerung kann Emotionen frei setzen, uns punktuell an einstige Träume und einstige Taumel erinnern. Die Franzosen haben zum Beispiel ihren Tag des Sturms auf die Bastille am 14. Juli 1789(!), der die französische Revolution einleitete. Dieser Tag eint alle Franzosen, von links bis rechts. Und wir? Was haben wir aus diesem Vermächtnis gemacht?
Einigkeit und Recht und Freiheit
Was wir im bislang freien Teil Deutschlands vierzig Jahre lang besungen und nun auch auf den bislang unter einer Folge-Diktatur leidenden einstigen Mittelteil Deutschlands nach dem notariellen Vollzug der Zusammenschweißung ausgedehnt hatten, scheint uns nur noch marginal zu bewegen. Wir gehen derzeit den „17.Juni-Weg“: Aus bewegender und aufrüttelnder Erinnerung wird zunehmend ein Ritual mit verblassendem Inhalt. Der (arbeis-) freie Tag steht im Mittelpunkt, das rummelähnliche Angebot des freizeitlichen Vergnügens übertüncht die ritualen Reden, denen man hier und da anstandshalber – wenn überhaupt – zuhört oder zunehmend verbreitert noch nicht einmal zur Kenntnis nimmt.
Für das Deutsche Vaterland?
Statt den „Tag der deutschen Einheit“ für einen ernsthaften Diskurs um das deutsche Vaterland zu nutzen, wird die Gelegenheit mit Brot und Spielen nach altem römischen Rezept verplempert. Dabei hätten wir eine Bestandsaufnahme unserer Demokratie bitter nötig. Denn eine ursprüngliche andere Euphorie ist uns fast gänzlich abhanden gekommen: Die für Freiheit und Gerechtigkeit, für unser Vaterland. Die nach dem Weltkrieg einst jungen und jetzt im Rentenalter stehenden Deutschen im Westteil unseres Vaterlandes erinnern sich noch gut an den freiheitlichen Geist (und die freiheitlichen Geister), der uns im Schatten alliierter Vorbehalte befeuerte und letztlich voran brachte. Kritik wurde seinerzeit mit Engagement interpretiert. Heute findet Kritik vornehmlich (noch) im Internet statt, erreicht ernsthaft kaum noch den öffentlichen Diskurs. Kritik wird allenfalls nur noch dann wahrgenommen, wenn sich diese in den Mainstreaming einordnet, also „akzeptabel“ ist.
Die Bundestagsdebatten (vor meist spärlich besetzten Sesseln) sind, im Gegensatz zu den lebendigen und geistreichen Auseinandersetzungen der fünfziger, sechziger und sogar siebziger Jahren, die immerhin unser demokratisches Bewusstsein wesentlich beeinflusst haben, zu langweiligen Volkskammer-Attitüden verkommen. Man beklatscht sich selber und verneigt sich vor der akzeptierten DDR-Mittelmäßigkeit. Die einstigen Demokratie- und Freiheits-Transporteure, die Medien, haben sich inzwischen auf das breite Spektrum der DDR-Presse reduziert und sich dem verhängnisvollen Trend zur Demokratur angepasst. Das ist nicht zuletzt der aufgekommenen Angst um Position und Pöstchen zu verdanken. Zuviel eigene Gedanken „gegen den Strom“ gefährden die eigene Zukunft einer in der Umwälzung stehenden Medienlandschaft.
Danach lasst uns alle streben
Wir haben uns daran gewöhnt, (unerwünschte) Kritik grundsätzlich dem Extremismus zuzuordnen, wobei – der aufgekommenen bzw. übernommenen DDR-Ordnung entsprechend – dem Rechts-Extremismus eine wiederum extrem anmutende eigene Aufmerksamkeit durch die Verbalisierung „Neo-Nazi“ gewidmet wird, während der Extremismus von links mit verbalen und verharmlosenden Begriffen wie „Autonom“ verschleiert wird.
Schmerzlich vermisst wird hier die ursprüngliche Rolle der GRÜNEN, die sich ja einst aus den Resten der APO-Bewegung rekrutiert hatte. Ich war nie ein Freund der Steine-werfenden und Fahrzeug-zündelnden 68´Generation. Aber die zwingende Notwendigkeit, die Verwerfungen im nachkriegsdeutschen West-Deutschland durch die verharmlosende und nicht hinnehmbare Integration einstiger Nationalsozialisten in eine demokratische Ordnung und die damit einhergehende unterlassene Aufarbeitung anzuprangern, habe nicht nur ich als notwendig angesehen. Und heute? Jene 68´er haben sich etabliert, gehören heute zum wirtschaftlich und politisch besseren Teil unserer Ordnung, haben ihre Ursprünge, aufgepeppt durch die Vereinigung mit dem sich revolutionär gebenden BÜNDNIS 90 der 89´er und 90´er DDR, in den Orkus der Geschichte geworfen. Man gibt sich heute innerhalb einer neuen „Nationalen Front“ staatstragend, was sich offensichtlich nicht mit einer notwendigen Aufklärung über die realen Hinterlassenschaften der DDR verträgt.
Natürlich muß der revolutionäre Schein gewahrt werden. Also kloppt man beharrlich auf Kritiker oder Konkurrenten am (politischen) Futternapf ein, diffamiert grundsätzlich Kritiker als Neo-Nazis und erspart sich damit demokratische Auseinandersetzungen um Thesen und Programme. Mit dieser, ebenfalls von der DDR kritiklos übernommenen und von der Öffentlichkeit bis heute nicht wahrgenommenen Praxis übertüncht man bestens eigene Unzulänglichkeiten (wie die zuvor erwähnte und vergessene eigene Vergangenheit oder die linke Geburt) und missbraucht die – Gott sei Dank – vorhandene breite Ablehnung jedweden Gedankengutes der Nationalsozialisten zur eigenen Profilierung.
Brüderlich mit Herz und Hand?

Erinnerung an eine finstere Zeit: Der einst weltberühmte Grenzübergang Marienborn, hier 2015 – Foto: LyrAg
Im Ergebnis dieser zugegeben unfeierlichen Bestandsaufnahme lasst uns nicht nur über ein anderes Datum zum „Tag der deutschen Einheit“ nachdenken, sondern auch darüber, wie wir die alten Werte der einstigen (alten) Bundesrepublik im Hinblick auf demokratische Gepflogenheiten und ein Denken in Freiheit wieder beleben können. „Mehr Demokratie wagen!“ Dieser legendär gewordene Ausspruch Willy Brandts, mit dem er einst für die SPD sogar Wahlen gewann, sollte uns neuer Ansporn sein, nicht nur am Tag der deutschen Einheit über Inhalte von Freiheit und Demokratie zu debattieren, sondern diesen Diskurs zum (neuen und bestimmenden) Inhalt unserer Republik machen. Brüderlich mit Herz und Hand, also durchaus in idealistischer Euphorie (Herz) und Gedanken über reale Umsetzungsmöglichkeiten (Hand). Ein „Weiter so“ lähmt nicht nur unseren Staat, er gefährdet unsere bislang (noch) stabile Ordnung und befördert Extreme auf allen Seiten.
Und der 3.Oktober? Solange wir den bisherigen verhängnisvollen Kurs beibehalten, können wir das auch mit diesem Datum tun. Denn offensichtlich ist an diesem Tag die (alte) Bundesrepublik der DDR beigetreten (was einem Gedenktag nach Aktenlage durchaus entspricht). Es lebe die revolutionierte DDR? Nein, danke!
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* Der Autor ist überzeugter Demokrat und stolz auf seine politische Bildung im freiheitlichen Nachkriegsdeutschland, hier West-Berlin. Der 17. Juni 1953 und – ursprünglich stärker – der Aufstand in Ungarn (23. Oktober bis 4. November 1956) prägte seinen freiheitlichen Geist. Im Alter von 14 Jahren verfasste er so eine 60 Artikel umfassenden Plan zur Wiedervereinigung unter internationaler Beteiligung. Nach 1961 widmete der damals Siebzehnjährige sein Leben dem Kampf gegen die Berliner Mauer. Für seinen Einsatz für die politischen Gefangenen in der DDR wurde er 1965 am Checkpoint Charlie verhaftet und 1966 in Ost-Berlin zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Seit 2002 ist er Vorsitzender der Vereinigung 17. Juni 1953 e.V. in Berlin.
V.i.S.d.P.: Redaktion Hoheneck, Berlin – Tel.: 030-30207785 (1.157)
Berlin, 23.09.2015/cw – Uns erreichen immer wieder Anfragen zu Geschehnissen und Hintergründen historischer Ereignisse. Wir haben uns entschlossen, diese Anfragen, soweit diese von allgemeinem Interesse sein könnten, in loser Reihenfolge im Rahmen eines „aktuellen LEXIKON“ zu beantworten.
Frage: „Den 17. Juni kenne ich vom „Hören und Sagen“, da ich 1961 geboren bin…. .
Dass dieser Tag schon vor 1990 als „Tag der Deutschen Einheit“ bezeichnet wurde war mir neu. Ich habe dazu keine klaren Informationen gefunden.“ H.B., Dornburg
ANTWORT:
Der ursprüngliche „Tag der Deutschen Einheit“ geht auf den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in der einstige DDR zurück. Es handelte sich um den ersten Aufstand gegen ein kommunistisches Regime in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Folge waren Aufstände in Posen (Polen) im Sommer 1956, in Ungarn im Herbst 1956 und der Widerstand in der CSSR 1968. Auch die Bewegung der Solidarność in Polen war eine indirekte Folge.
Herbert Wehner (SPD), einst selbst Kommunist und in Moskau im Exil, beantragte 1953 zur Erinnerung an den Aufstand ein Gedenktag an den Aufstand als „Tag der Deutschen Einheit“,
der so mit großer Zustimmung durch den Deutschen Bundestag beschlossen und 1954 erstmals als gesetzlicher Feiertag begangen wurde.
Infolge der eingeleiteten Politik des „Wandels durch Annäherung“ geriet auch dieser Feiertag in die Riege der politisch ungeliebten Erinnerungen. So wurden Mitte der sechziger Jahre die alljährlichen Kundgebungen vor dem Rathaus Schöneberg in West-Berlin abgesagt (Politische Begründung: Kein Interesse in der Bevölkerung), die übrigen Gedenkfeiern verkamen zunehmend zu einem Ritual mit abnehmender innerer Beteiligung der jeweiligen Akteure.
Nach dem Mauerfall hatte unsere Vereinigung 17. Juni 1953 e.V. bereits im Dezember 1989 angeregt, den 9. November zum „Nationalen Gedenktag“ zu machen, da sich in diesem Datum eine unglaubliche Kette wichtiger historischer, freudevoller wie trauriger Ereignisse wiederspiegelte:
1848 die Ermordung des Mitgliedes der Paulskirchen-Versammlung, Bodo Blum in Wien; 1918 die (gleich zweimalige) Ausrufung der Republik (Liebknecht und Scheidemann); 1923 die erfolgreiche Niederschlagung des Hitler-Putsches in München; 1938 die berüchtigte „Reichskristallnacht“ und ein Tag zuvor das missglückte Attentat auf Hitler (Bürgerbräukeller in München); 1989 schließlich der Fall der Mauer.
Wir wären bereit gewesen, zugunsten dieses einmaligen Datums auf „unseren“ 17. Juni als arbeitsfreien Gedenktag zu verzichten. Leider entschloss sich die damalige Politik, den 17. Juni durch den 3. Oktober zu ersetzen. Einzige Grundlage: Das Inkrafttreten des Vertrages über den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik.
Seither vertreten wir die Auffassung, das einem „Gedenktag nach Aktenlage“ die notwendige innere Beteiligung, also eine Identifikation des Volkes abgeht. Der 9. November hingegen hätte alle Kriterien, ein Gedenktag „aller Deutschen “ zu werden. Hier können sich LINKS und RECHTS (im Sinne von konservativ) und die MITTE wiederfinden, eine grundsätzliche Voraussetzung für einen Nationalen Gedenktag (siehe Frankreich „Sturm auf die Bastille“ oder auch die USA mit ihrem „4.Juli“, um die bekanntesten Beispiele anzuführen).
Natürlich bleibt für uns der 17. Juni der herausragende Gedenktag an den ersten Aufstand im Nachkriegseuropa. Das tangiert keineswegs die überragende Bedeutung des 9. November in der deutschen Geschichte. Daher setzen wir uns weiterhin für diesen Gedenktag am 9. November und die Revidierung des „Gedenktages nach Aktenlage“ am 3. Oktober ein.
Einen ersten Erfolg sehen wir in der Verwendung dieses Begriffes („…nach Aktenlage“) vor ca. drei Jahren im Deutschen Bundestag durch den GRÜNEN-Abgeordneten Schulz, der sich in seinem Beitrag ebenfalls für den 9. November als Gedenktag einsetzte. Eine gute Idee braucht Zeit, um sich durchzusetzen. Unterzeichneter hat 28 Jahre aktiv gegen die Mauer gekämpft und den 9. November 1989 erleben dürfen… (1.033)
V.i.S.d.P.: Redaktion Hoheneck, Berlin, Tel.: 030-30207785
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