You are currently browsing the monthly archive for Dezember 2022.
Berlin, 19.12.2022/cw – Am heutigen Tag ehrte die Vereinigung 17. Juni 1953 am Ehrengrab auf dem Friedhof Seestraße ihren einstigen Vorsitzenden Manfred Plöckinger, der vor 20 Jahren, am 19.12.2002 nach langer schwerer Krankheit, eine Folge seiner DDR-Haft, in Bayern verstorben war. Die Urne Plöckingers war nach Bemühungen des Vorstandes 2005 von Bayern überführt und auf einer Erweiterung der Ehrenfeld-Anlage beigesetzt worden.

Plöckinger, zur Zeit des Aufstandes vom 17. Juni 1953 Bauarbeiter an der Stalin-Allee, gehörte nach seiner DDR-Haft zu den Gründern der Vereinigung, die als Nachfolgerin des unmittelbar nach dem Aufstand gegründeteen Kommitees „17.Juni“ am 3. Oktober(!) 1957 in das Vereinsregister eingetragen wurde. Von 1982 bis zu seinem Tod war Plöckinger als Nachfolger von Friedrich Schorn (Aufstandsführer in den Leuna-Werken bei Merseburg) Vorsitzender.
Zum Gedenken an ihn hatte die Vereinigung a l l e Fraktionen im Berliner Abgeordnetenhaus eingeladen. Der amtierende Vorsitzende Carl-Wolfgang Holzapfel hatte bereits seit Jahrzehnten im Vorstand durchgesetzt, keine in demokratischen Wahlen gewählte Partei im Parlament als mögliche Ansprechpartner auszuschließen. In früheren Jahrzehnten war es durchaus zu Konflikten gekommen, weil die seinerzeitigen Vorstände in ihrer Arbeit „unliebsame“ Parteien von ihren Kontakten ausgeschlossen hatten.

Lediglich eine Fraktion, die AfD, folgte der in allen Schreiben gleichlautenden Einladung und beteiligte sich an der Ehrung mit einer Kranzniederlegung. Die anderen Parteien, CDU, SPD, FDP und Bündnis90/GRÜNE reagierten überhaupt nicht, während sich die Fraktionsvorsitzenden der LINKEn immerhin wegen „anderweitiger Termine“ entschuldigen ließen.
In einer kurzen Ansprache am Grab Plöckingers sprach der Nachfolger im Vorstand sein „Bedauern über die seit Jahrzehnten in Gang gesetzte Vernachlässigung des 17. Juni 1953 als historischen ersten Aufstand nach dem Krieg im kommunistischen Machtbereich.“ Man könne hier durchaus eine politische Linienführung erkennen, die darauf abziele, „den Volksaufstand an den Rand der Geschichte zu schieben.“ Es würden sich immer mehr „politisch einseitig orientierte“ sogen. Historiker aus dem ehem. Umfeld der SED-DDR-Geschichte oder der entsprechenden politischen Orientierung dafür einsetzen, die ursprüngliche Charakterisierung bzw. Verleumdung des Aufstandes im Sinne der einstigen SED als „vom Westen bezahlten Putsch von Halbstarken und Kriminellen“ zu übernehmen. Dazu gehörte die nicht erst heute praktizierte Verleumdung von Menschen, die sich für eine Bewahrung der ehrenvollen und für Europa bedeutenden Historie des Aufstandes einsetzten.

Manfred Plöckinger auf einer Demonstration zum 10. Jahrestag des Mauerbaus 1971 in Berlin
Holzapfel führte zwei Beispiele an: So hätte das Magazin DER SPIEGEL 1986 im Zusammenhang mit einer Affäre um den damaligen Innensenator Heinrich Lummer Manfred Plöckinger als Dieb und Halbkriminellen bezeichnet. Nachdem Plöckinger in einem Leserbrief diese Behauptungen als nachweisliche, durch ein Gericht überprüfte Verleumdungen zurückgewiesen hatte, kommentierte die Redaktion: „Manfred Plöckinger hat Recht.“
Als zweites Beispiel führte der Redner das 2003 vorgelegte Standardwerk zum Volksaufstand „Die verdrängte Revolution“ (Edition TEMMEN, 848 Seiten) an, die maßgeblich von dem belannten Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk (neben Bernd Eisenfeld und Ehrhart Neubert) bearbeitet worden war. Die darin enthaltenen Lügen z.B. über Carl-Wolfgang Holzapfel, der danach „Mitglied der NPD“gewesen sei, mussten durch eine vereinbarte Errata, die jeder Auslieferung beigefügt werden muß, richtig gestellt werden. Kowalczuk, selbst bis zum Ende der DDR systemimmanent beschäftigt, begründete gegenüber Holzapfel diese „Unrichtigkeiten“ damit, dass die Autoren „aufgrund der Schwierigkeiten um den Verlegungstermin keine Zeit mehr gehabt hätten, die zugänglichen Unterlagen (Akten) der Staatssicherheit auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen.“ Man habe „die dort aufgespürten Aktenvermerke ungeprüft“ übernommen.
Geforderte Berichtigungen zur Person Manfred Plöckingers wurden von den Autoren wie der BStU (!) mit der Begründung abgelehnt, dieser sei verstorben, der Vorstand habe „keine Rechte, Berichtigungen anstelle des Verstorbenen“ zu verlangen.“
V.i.S.d.P.: Vereinigung 17. Juni 1953 e.V., C.W. Holzapfel – Berlin, Mobil: 0176-48061953 (1.714)
Berlin, 14. Dezember 2022/cw – Vor 20 Jahren, am 19. Dezember 2002, erreichte uns die traurige Nachricht von seinem Tod: Manfred Plöckinger, der einstige Bauarbeiter von der Stalinallee und jahrzehntelanger Vorsitzender der Vereinigung 17. Juni hatte uns genau einen Monat vor seinem 71. Geburtstag für immer verlassen. Dabei hatte er bis wenige Tage zuvor gehofft, noch an den Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag des Volksaufstandes teilnehmen zu können. Danach wollte er den Stab des Vorsitzes an mich weitergeben. Es kam anders.
Zum 20. Todestag, am kommenden Montag, dem 19.12., wollen wir an seinem Ehrengrab auf dem Friedhof Seestraße im Berliner Bezirk Wedding um 10:00 Uhr seiner gedenken. Aus diesem Anlass geben wir nachfolgend auszugsweise einen Artikel von Johannes Reck wieder. Der seinerzeitige Beitrag ist in unserer Schrift „Helden der Menschlichkeit“ zum 50. Jahrestag des 17. Juni vollständig nachzulesen. Vereinigung (AK) 17. Juni 1953 e.V.

Manfred Plöckinger
Der Ursprung / Vergleiche des Totalitarismus
Von Johannes Reck **
Manfred Plöckinger wurde am 19. Januar 1945 13 Jahre alt. Er befand sich zu diesem Zeitpunkt in einem Oberschul-Hitlerjugend-Lager im Warthegau. Der Lagermannschafts-führer hieß Schabowski, Günter Schabowski.* Damals ahnte dieser Junge mit dem gutmütigen Gesicht noch nicht, das dieser knapp 45 Jahre später in das Rampenlicht der Geschichte rücken würde, indem er in der berühmten Pressekonferenz die Mauer für quasi geöffnet erklärte.
„Die Merkmale des roten Regimes waren am Anfang zwar noch nicht so totalitär, doch im Grunde hat das rote Regime das Braune abgelöst, das kann man so formulieren“, sagt mir Plöckinger am Telefon. Es entsteht eine Stille. „Kann man aus heutiger Sicht den Diktator

* Hinweis der Redaktion: Günter Schabowski hat in einem Gespräch (Foto Schabowski und Holzapfel) dieser Darstellung widersprochen. Er habe sich „nie“ in einem solchen Lager aufgehalten.
Ulbricht mit dem Diktator Hitler vergleichen?“ frage ich leise. „Wissen Sie, es sind verschiedene Arten von Diktaturen gewesen und ich war noch sehr jung, als Hitler an der Macht war, doch das Ergebnis war, glaube ich, in beiden Fällen vergleichbar. Ich bin 70 Jahre alt und habe die Vertreter des Kommunismus im Kampf um Berlin gesehen. Da gab es mehr als nur grausige Geschichten.“
Plöckinger erinnert sich, dass sehr früh Verhaftung und Bespitzelungen durch die Volkspolizei einsetzten. Man traute sich nicht mehr, in der Öffentlichkeit seine Meinung zu sagen. Ein Zustand, der in nicht allzu ferner Vergangenheit vorherrschte. Vorerst nahmen die Menschen den Kommunismus nicht so ernst, da er sich ja als human und arbeiterklassenfreundlich darstellte.
Die Vorläufer des 17. Juni
„Natürlich gab es Gespräche auf den Baustellen, wegen der Normen und wegen der schlechten Verhältnisse. Wir hatten eine Mangelwirtschaft. Dass das Regime von Einzelnen angegriffen wurde, das war damals nicht so. Durch diese Normenfrage haben sich am 16. Juni (1953) so 150-200 Arbeiter, zu denen ich gehörte, zusammengefunden und demonstriert“, so Plöckinger.
Die SED hatte nach Kürzungen im sozialen Bereich und einer Preiserhöhung von Lebensmitteln die Normen um 10% erhöht. Die Arbeitergruppe rund um den Bauarbeiter Manfred Plöckinger lehnte die vom Politbüro geforderte Anhebung der Produktivität zu Gunsten der Bevölkerung des Landes ab. Sie sahen, dass der Westberliner sich gut kleiden konnte und wohlriechende amerikanische Zigarette rauchte, während der Ostberliner in seinen zerknitterten Sonntagshosen meistens in den Ostberliner Tanzlokalen mit weniger Erfolg auftrat. Am Prenzlauer Berg beispielsweise, Plöckingers Wohnort, bildeten sich Subkulturen, die ihren Unmut lauter äußerten. Man brandmarkte sie als Provokateure.
Am 16. Juni fragte ihn ein Kollege von der Baustelle: „Manfred, du kommst doch auch mit?“ Mit einem „Ja klar!“ stürzte er sich hinein in den breiten Enthusiasmus der kleinen Revolte. Zwischen 16.00 und 17.00 Uhr befand er sich auf der Friedrichstrasse in einem Meer von aufgebrachten und schimpfenden Mitbürgern, die sich alle lauthals immer wieder die selbe Frage stellten: „Warum müssen wir anders leben als die im Westen? Wir haben doch alle den Krieg verloren!“
Die SED hatte einen Gegendemonstrationszug organisiert. Laut Plöckinger zählte dieser aber nur noch ein Drittel seiner anfänglichen Stärke, nachdem er „Unter den Linden“ den Zug der Demonstranten kreuzte. Viele beobachtende Volkspolizisten warfen ihre Jacken demonstrativ weg und schlossen sich unter großem Applaus der Masse an. Gegen Abend hörte Plöckinger das erstemal von einem Treffen am nächsten Tag um fünf auf dem Strausberger Platz in Verbindung mit dem Wort „Generalstreik“. Von einem unbekannten Glücksgefühl beseelt, ging er durch leere Straßen nach Hause. Der jetzt Volljährige spürte etwas Großes kommen.
Popstars und Träume
In der Tat verbreitete sich die Nachricht vom geplanten Generalstreik, wie sich heute die Kunde nach dem Kommen eines Popstars verbreitet. Die Nachricht ging wie ein Lauffeuer um. Was träumten die Menschen in Ostdeutschland in der Nacht vom 16. auf den 17. Juni?
Mit der Wetterlage entsprechenden gemischten Gefühlen zog Plöckinger mit seinen Arbeitskollegen vom Alexanderplatz in Richtung Regierungsviertel. Mannschaftswagen fuhren durch die Menge. Die Atmosphäre der Gewalt, die von den allmählich auftretenden Sicherheitskräften der Regierung ausging, sprang auf die Reihen der Demonstranten über.
Das Phänomen der Masse kam vollends zum Tragen. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde vom Tod eines jungen Mannes, der bei der Humboldt Universität unter die Ketten eines Russenpanzers geraten war. Plöckinger selbst war noch beim Alexanderplatz, als er schon davon hört.
Plöckinger: „Wissen Sie, das ist so: Der Kopf kocht und dann kommt dieses kleine bisschen dazu, und dann kocht er über. Genauso hat es sich entwickelt. Bis 1953 hat sich niemand groß getraut, den Mund aufzumachen. Dann sagten alle auf einmal: ‚Mensch, da tut sich doch was.’“
Emotionen in der Masse
Der Alltagsfrust über die wachsende Kluft zwischen West- und Ostberlin brauchte ein Ventil. Manfred Plöckinger, der übrigens die Version von Erich Loest zurückweist, die besagt, dass westliche Spitzel die Masse aufputschten, lief an diesem Tag auch mit beschwingtem Glücksgefühl die „Straße unseres nationalen Schicksals“, Unter den Linden, hinunter. Das Gefühl der Unsicherheit vom Vorabend hatte sich gelöst und in einen gesteigerten extrovertierten Freudentaumel gewandelt. Er und seine Kollegen von der Stalinallee ließen sich mitreißen von der Menge, die Fahne der Bundesrepublik schwingend und die Nationalhymne singend. Doch sie sangen immer nur die erste Strophe, weil noch keiner die Dritte auswendig konnte.
Der Kommunismus verstummt
„Wir fordern freie und geheime Wahlen!“ schrie einer und es hallte aus allen Mündern wieder. Auch nicht die von den Seitenstraßen her kommenden Panzer der Roten Armee konnten die nun tobende Masse von ihrem wilden Tanz für die Wiedervereinigung von Ost und West und dem ausdrücklichen Wunsch auf ein schnelles Ende des kommunistischen Terrors abhalten. Zu tief saß unter anderem auch der Eindruck des getöteten jungen Mannes bei der Humboldt Universität, an dem auch Plöckinger vorbeischritt. Die Blutlache des Jugendlichen war nur notdürftig mit Sand bedeckt.
„Ich hatte gegen die Leute in den Uniformen nichts einzuwenden. Nur das System habe ich kennen gelernt, als Berlin von der Roten Armee eingenommen worden ist,“ wiederholt Plöckinger mir gegenüber eindringlich.
Natürlich war die Propaganda der scheinbar reumütigen Regierung Hohn angesichts des von Panzern überrollten Jungen bei der Humboldt Universität. In diesem Falle nahm die Heuchelei aber ein sehr schnelles Ende. Ein Kollege von Manfred Plöckinger, der neben ihm stand, fragte ihn, ob er bereit wäre, die an die Masten verknoteten Lautsprecher abzulösen. Jeder der beiden übernahm einen Mast. Der Mann schien einige Kenntnis von Technik zu haben, denn im Augenblick, in dem sie die Schleifen der Verknotung der Lautsprecher an den Masten lösten, verstummte die propagandistische Stimme. Die Aufständischen zogen weiter!
Das Foto
Das Motorengeheule der Panzer intensivierte sich, und in zügigem Tempo wurden die Demonstranten in Richtung Brandenburger Tor getrieben. Diese Zickzack fahrenden Bolliden, die mitten in die Menge hineinfuhren, lösten eine große Panik aus. Den Menschen blieb keine andere Möglichkeit mehr, als die der symbolischen Flucht durch das Wahrzeichen Berlins in den Westen.

Manfred Plöckinger auf dem historischen Foto (Kreis)
Genau in diesem Moment, da sie fahnenschwenkend, singend und tanzend hindurch kamen, wurde auf den Auslöser gedrückt und das Foto gemacht, das wohl das bedeutendste im Zusammenhang mit dem 17. Juni werden sollte. Das besondere an dieser Momentaufnahme ist, dass man kein einziges russisches Militärfahrzeug sieht. Eine Analogie zum 9. November 1989. Ich glaube, dies ist auch der Grund, warum der 17. Juni 1953 bis heute noch ein so markantes Datum ist und warum er als einer der großen Auslösungsfaktoren für den weiteren Widerstand gegen den Kommunismus stalinistischer Prägung gilt.
Die Rote Fahne fällt
Auf der anderen Seite des Tores bewunderte die Spitze des Zuges, zu der Manfred Plöckinger gehörte, wie der 23jährige LKW-Fahrer Horst Ballenthin unter Beschuss auf das Tor kletterte, die Rote Fahne herunterholte und unter tosendem Applaus in die Menge warf . Unten zerriss man sie mit großer Genugtuung und feierte Ballenthin als Helden des Tages.
In Westberlin gelangten Plöckinger und viele andere Demonstranten in ein Auffanglager in einer Hinterhoffabrik in der Spänerstraße in Moabit. Dort mussten sie auf Strohsäcken schlafen, auch die sanitären Anlagen waren notdürftigst. Doch an diesem Ort war es, dass ein Mitstreiter ihm die Zeitung in die Hand drückte, auf der jenes große Titelfoto der Helden des 17. Juni abgedruckt war, die gerade durch das Brandenburger Tor marschierten. Zwar war Plöckinger nur im Hintergrund auf diesem Foto zu sehen, doch immer noch erkennbar.
Das Foto sollte ein zentrales Bild zum 17. Juni werden und mehr noch, ein Symbol für den Freiheitskampf des deutschen Volkes. Immer wieder wurde es das Leitbild zu Zeitungsartikeln. Manfred Plöckinger bezahlte allerdings seine Präsenz auf dem Bild sehr bitter.
Er kam nach 10 Tagen zurück an den Prenzlauer Berg, um wieder auf einer richtigen Matratze schlafen zu können. Plöckinger lebte sich wieder in seinen Alltag ein. Ulbricht und Genossen versuchten zu besänftigen, während die Emigrationszahlen aus den östliche Sektoren stiegen.
Jeden Mittwoch ging Plöckinger zu einem Schachabend, an dem er lange Partien gegen einen Freund spielte. Diesem Freund zeigte er auch mit ein wenig Stolz das Foto vom 17. Juni unter dem Brandenburger Tor. Dies war der Anfang der Katastrophe, denn wenig später stand sein Schachrivale mit seinen Arbeitskollegen von der Stasi vor Plöckingers Tür. Sie verhafteten ihn und brachten ihn zum Polizeipräsidium, wo man ihn bis zum Prozess, der in einem Eilverfahren ablief, festhielt.
Gefangen
Über die folgende Geschichte spricht Plöckinger nicht gerne. Vom April 1954 bis zum April 1956 verbüßte Plöckinger eine Haftstrafe wegen der Beteiligung am Arbeiteraufstand des 17. Juni. Als der Zug für ihn einfuhr, um ihn in ein Arbeitslager zu transportieren, zeigte keine gelbe Digitaltafel an, wohin es denn gehe. Und das Einzige, was er durch das Fenster seiner Waggonzelle erkennen konnte, war ein Bahnhofsschild: „Vogelsang“.
Gegen Ende September 1955 wurde er zusammen mit anderen Gefangenen in den „Grotewohl Express“ gesteckt. Den Namen bekam der Zug vom Portrait des damaligen DDR- Ministerpräsidenten, das am Ende eines jeden Waggonflures hing. Die Provokateure und Staatsfeinde wurden in Hundezwingergroße Kabinen geworfen. Man gab ihnen zwei Scheiben Brot mit Fett und etwas Wurst. Durch schmale Luftritzen schimmerte hinein, was vom Tageslicht übrig blieb.
Übernachten mussten die Häftlinge im Gefängnis Frankfurt/Oder. Plöckinger: „Unwürdig“. Der ganze Transport erinnert wohl nicht umsonst an die Beschreibungen der Züge nach Dachau, Bergen-Belsen, Auschwitz und wie die Orte des Schreckens noch alle hießen.
Die Resozialisierung/ Häftlingslager ‚Vogelsang’
Die Reise endete vor ein paar Baracken. Sie mussten sich in Reih und Glied aufstellen, noch einmal wurden ihre Namen aufgerufen. Dann führte man sie durch das Tor, und Manfred Plöckinger erblickte ein viereckiges Areal, das mit Stacheldraht umzäunt war und das durch einen Mittelgang in zwei Teile unterteilt war. An den vier Ecken des Geländes standen Wachtürme, im Zentrum des Mittelganges erhöht ein kleiner Steinbau, den man nur über einige Stufen erreichen konnte: Das Offiziers- und Wachtmeisterbüro. Auf beiden Seiten dieses Steingebildes standen Baracken. Wenn man sich das Bild vor Augen führt, wird einem schlecht. Nicht zuletzt deswegen, weil dieser Aufbau so haargenau dem eines KZs gleicht.
Die Häftlinge trugen alte gestreifte Uniformen, zu denen eine Mütze ohne Schirm gehörte, die Plöckinger als lächerlich beschreibt. Die Aufsicht in den Baracken hatte jeweils ein Häftling ‚mit Schirm’ und Armbinde, der ‚Barackenälteste’. Dieser besaß das Recht, die Zigaretten zu deponieren, die sich die Häftlinge verdienten. Ferner wurde Geld verdient, mit dem man sich Zusatznahrung und sechs Zigaretten pro Tag kaufen konnte. Plöckingers Barackenältester Mallagoudera und weitere Funktionäre betraten des öfteren die engen Stuben, in denen jeweils sechs Häftlinge in drei Hochbetten untergebracht waren. Sie rissen willkürlich die kleinen Metallspinde auf und warfen die Habe der Häftlinge mit der Bemerkung: „Schlamperei“ zu Boden. Plöckinger widersetzte sich und warnte Mallagoudera, nicht das selbe mit seinen Sachen zu machen. Es sollte nicht das letzte unfriedsame Aufeinandertreffen der beiden gewesen sein. Eines Tages, nach einem Konflikt, rief man Plöckinger in den Steinbau zum wachhabenden Offizier. Da er mit einem „Guten Abend“ und mit der Frage „Sie wollen mich sprechen?“ den Raum betrat, ohne vorher anzuklopfen und ohne Meldung zu machen, empfing ihn nur wütendes Geschrei. Drei Männer wurden gerufen, die ihn gewaltsam hundert Meter in Richtung Bahnhof Vogelsang zerrten, wo eine gerade fertiggestellte, umzäunte Zweizellenhütte stand. Man zwang ihn, sich zu entkleiden und sperrte ihn in eine der beiden Hütten. Es war bereits Oktober, die Wände waren feucht.
„Es war entwürdigend bis zum Letzten. Wenn man sich ein wenig die Würde behielt, sei es auch nur durch Gestik, wurde man gleich in Dunkelarrest gesperrt“, sagt mir Plöckinger. Über seine gesamte Haftzeit zusammengerechnet war er ca. drei Monate in Dunkelarrest.
Am nächsten Morgen um 6 Uhr betraten drei Offiziere die Zelle und forderten ihn auf, sich endlich als sozialistischer Mitbürger zu resozialisieren. Plöckinger forderte jedoch nur einen Arzt und einen Staatsanwalt. Er wurde zu einem sogenannten Arzt geführt. Dieser befand, dass der Häftling gutes Essen brauche und schickte ihn zurück in die Zelle. Immerhin durfte Plöckinger nun 20 bis 30 Minuten am Tag unter Bewachung eines Volkspolizisten ‚Gassi gehen’. Als am 20. April 1956 seine Haft regulär endete, war ihm der Hafttag durch Normerfüllung nicht vergütet worden.
„Der erste Hochofen in Stalinstadt und die ersten Infrastrukturen dort sind von Häftlingen, auch von politischen Häftlingen, zwangserrichtet worden. Der Zwang ergab sich aus dem Versprechen von Haftverkürzungen und besserer Verpflegung, aus entwürdigender Disziplinierung wie Gleichschritt, Strammstehen, totaler Unterordnung und der Befehlsgewalt von Häftlingsfunktionären“, so resümiert Plöckinger heute.
Mit Tbc und Zuckerkrank in der Freiheit
Nach dem Ende seiner Haft war Manfred Plöckinger ein gezeichneter Mann. Er hatte eine offene Tuberkulose, zu der später eine schwere Diabetes hinzukam. Mit letzter Kraft schleppte er sich in den westlichen Sektor von Berlin. Jahrelang durfte er dort wegen der Tbc nicht offiziell arbeiten. Um sich trotzdem über dem Existenzminimum zu halten, jobbte er als LKW-Fahrer. Seinen kritischen Geist behielt er aber und griff (nach dem Mauerbau am 13.08.1961) jedes Mal den Berliner Senat an, wenn es zu Ermordungen von Flüchtlingen an der Mauer kam.
Als es einen erschossenen Flüchtling am Teltow Kanal gab, ohne dass die Westberliner Polizei eingriff, warf er dem damaligen Westberliner Bürgermeister Albertz Versagen vor. Man entzog ihm in der Folge „plötzlich“ mit der Begründung den LKW Führerschein, seine Diabetes würde es ihm nicht erlauben, zu fahren. Wie Plöckinger mir berichtete, tat er es trotzdem und setzte sogar die Polizei davon in Kenntnis. Man schwieg dazu. Ebenso plötzlich erhielt Plöckinger die Fahrerlaubnis nach zehn Jahren ohne nähere Begründung zurück.
Anfang der siebziger Jahre wurde Plöckinger nach dem Besuch einer Fachschule Versicherungsfachwirt und später sogar Versicherungsdirektor. Er heiratete und seine Frau gebar ihm zwei Kindern. Als die Versicherung, für die er arbeitete, aufgekauft wurde, lehnte man eine Übernahme mit Bezug auf seine Diabeteserkrankung ab. Er stand auf der Straße.
Roman Herzog: Verfassungsbeschwerde berechtigt, aber…
Seitdem prozessiert er erfolglos um die Anerkennung der Diabetes als Folge eines Haftschadens. Ihm ist bis zu seinem Tod jede Entschädigung versagt geblieben. Einmal fällten sie im Bundessozialgericht ein Urteil, ohne ihn vorher anzuhören. Plöckinger klagte daraufhin beim Bundesverfassungsgericht sein Grundrecht auf rechtliches Gehör ein. Sein Freund Carl-Wolfgang Holzapfel erzählte mir, dass Roman Herzog als eine seiner letzten Amtshandlungen folgende Entscheidung unterschrieb:
„Ihre Verfassungsbeschwerde ist berechtigt. Sie kann gleichwohl nicht zur Entscheidung angenommen werden, weil Sie es versäumt haben, in ihrer Verfassungsbeschwerde deutlich zu machen was sie denn vorgetragen hätten, wenn man ihnen rechtliches Gehör eingeräumt hätte.“
Plöckinger wurde verbittert, zeichnete sich der Kampf gegen die Bürokratie des westlichen Staates, den er sich in den langen Nächten im Dunkelarrest als so paradiesisch vorgestellt hatte, als ein Kampf gegen Windmühlen ab.
Die Vereinigung 17. Juni 1953
Plöckinger begründete mit einigen Weggefährten die Vereinigung 17. Juni 1953, die am 3. Oktober 1957 als Verein eingetragen wurde. „In Anbetracht der Tatsache, dass der 3. Oktober faktisch den 17. Juni abgelöst hat, schreibt das Leben doch immer wieder die besten Geschichten“, sagt mir Carl-Wolfgang Holzapfel, Pressesprecher und seinerzeit 2. Vorsitzender der Vereinigung. Die Vereinigung, deren jahrzehntelanger 1. Vorsitzender Manfred Plöckinger war, hatte noch lange politische Brisanz, denn sie wirkte sehr aktiv an der kritischen Bewegung gegen die DDR in Westberlin mit und setzte oft die Westberliner Regierung unter Druck. Aus den Stasi-Dokumenten, die der Vereinigung später aus dem Archiv zugänglich wurden, geht sogar hervor, dass es konkrete Überlegungen gab, die Stammkneipe, in der sich die Mitglieder regelmäßig trafen, in die Luft zu sprengen. Wegen ihrer eindeutigen Position gerieten sie oftmals zwischen die Fronten. Noch nach der Deutschen Einheit stellte es sich heraus, dass es in der Vereinigung Doppelagenten gab, die für die westliche und die östliche Seite spionierten. Einer von ihnen war ein Plöckinger-Biograph, der sogar schon ein komplettes Buchskript verfasst hatte, als seine wahre Identität ans Tageslicht kam.
Die Ziele der ‚Vereinigung 17. Juni 1953’ heute sind, die Ereignisse des 16. und 17. Juni 1953 im öffentlichen Bewusstsein zu halten, sie als ein herausragendes geschichtliches Datum zu etablieren und die dafür zuständigen Institutionen dahin zu bewegen, den 17. Juni wieder als nationalen Gedenktag anzuerkennen. Ebenso steht die immerwährende Ehrung der Opfer des 17. Juni, auf sowjetischer und deutscher Seite im Vordergrund, wie die Erhellung noch unbekannter Schicksale.
Das Erbe Manfred Plöckingers
Weihnachten 1989 verbrachte Manfred Plöckinger, seit vielen Jahren in Bayern wohnhaft, in Berlin. Erstmals konnte er wieder die Strassen seiner Kindheit entlanggehen. „Davon hatte ich Jahrzehnte lang geträumt“, berichtet er.
Hartnäckig kritisierte er, hinterfragte er. In der DDR hatte er sich nicht den Mund verbieten lassen, er tat es auch in Westdeutschland nicht. Man kann ihm vorwerfen, ein Don Quijote gewesen zu sein. Doch konnte man nicht genauso diesen Kritikern vorwerfen, den Traum von Einigkeit, Recht und Freiheit nicht geträumt zu haben?
Zu schnell vergessen wir den großen Kampf, der 1953 angefangen hat und dessen Träume 1990 Wirklichkeit wurden. Zu schnell wenden wir uns von den Idealisten ab, um über sinnlosen Streitereien und politischem Kalkül die große Traglast unseres gesamtdeutschen Erbes zu verdecken.
Wir dürfen es nicht zulassen, dass Manfred Plöckinger auch nur eine Minute umsonst in seinem dunklen Verlies frieren musste. Wir sind ‚ein Volk’ und müssen begreifen, dass jetzt die Zeit gekommen ist, um ein neues Kapitel in der deutschen Geschichte aufzuschlagen. Die Zeit der totalitären Herrschaft ist vorbei, und wir haben gelernt. Die heutige Generation darf nicht mehr mit den Erbschulden gebrandmarkt werden. Dank Manfred Plöckinger kann man uns nicht generalisieren. Das muss uns Luft zum Atmen geben.
Luft, die wir brauchen, um auf dem erwähnten Grundstein ein Haus zu bauen. Ein Haus, in dem eine neue Generation von Deutschen wohnt, die nicht den Krieg und die Unterdrückung erlebt hat und trotzdem das Gut der Freiheit zu schätzen weiß und die Kämpfer für jene Freiheit würdigt.
Wir dürfen es nicht dazu kommen lassen, dass diese Menschen, die für die Freiheit unseres Vaterlandes aufgestanden sind, verbittern. Vielmehr sollten wir uns für sie einsetzen und ihnen nicht nur am 17. Juni aufrichtig und ehrlich dankbar sein.
Nachwort
Knapp drei Wochen nach unserem zweiten ausgiebigen Telefonat im November erlitt Manfred Plöckinger einen weiteren schweren Herzinfarkt. Erst als ich aus meinen Weihnachtsferien mit geschriebener Arbeit wiederkehrte, erfuhr ich von seinem Tode am 19. Dezember 2002. Er wurde vorerst in Bayern beigesetzt.
Ich wollte an dieser Stelle Manfred Plöckinger, der niemals materiell für seinen Kampf entschädigt worden ist, für das Bundesverdienstkreuz vorschlagen, um ihm eine staatliche Würdigung zuteil werden zu lassen. Leider kann ihm diese Anerkennung nicht mehr in dieser Form gewährt werden. Ich bin trotzdem zuversichtlich, dass Manfred Plöckinger seine Gerechtigkeit, die ihm zeitlebens nicht vergönnt war, bekommen wird. Indem wir uns als junge Generation mit ihren Schicksalen auseinandersetzen, geraten Manfred Plöckinger und seine Mitstreiter nicht in Vergessenheit.
Es ist unsere Verantwortung ihnen ein Denkmal zu setzten. Carola Plöckinger sagte mir, dass ihr Mann vielleicht eines Tages vom Himmel herunterschaut und von dort oben sehen könnte, dass langsam die alten Narben des deutschen Volkes verheilen und wir mit der Geschichte Auge in Auge treten können. Ich denke, ihm würde diese Entwicklung mehr bedeuten als jedes Verdienstkreuz.
Durch diese Arbeit, an die ich mehr aus Zufall als durch wissenschaftliches Kalkül geraten bin, habe ich einen tiefen Einblick in diesen Abschnitt der Geschichte unseres Landes bekommen. Viele Menschen haben mich positiv unterstützt und in schwierigen Phasen motiviert, besonders hervorheben möchte ich Manfred Plöckinger, Carl-Wolfgang Holzapfel, Carola Plöckinger, Frau Bomhoss vom Ullstein Bilderservice, meine Eltern, sowie meine Großmutter Dr. Grete Schmidt. Ich bin nicht nur einer spannenden Biografie, sondern auch meiner Identität als Deutscher ein Stück näher gekommen.
Speziell in Erinnerung an Manfred Plöckinger möchte ich diesem den vorliegenden Text aus Wilhelm Tell von Friedrich Schiller widmen:
„Eine Grenze hat Tyrannenmacht:
Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,
wenn unerträglich wird die Last,
greift er hinauf getrosten Mutes in den Himmel
und holt herunter seine ew’gen Rechte,
die dort droben hangen unveräußerlich
und unzerbrechlich wie die Sterne selbst.“
** Johannes Reck beteiligte sich am Schul-Wettbewerb der Körber-Stiftung, der 2003 den „17.Juni 1953“ zum Thema hatte. Reck stellte seine Arbeit der Vereinigung 17. Juni zur Veröffentlichung für die Schrift zum 50. Jahrestag „Den Helden der Menschlichkeit“ zur Verfügung.
V.i.S.d.P.: Vereinigung 17. Juni 1953 e.V., Berlin – Mobil: 0176-48061953 (1.713)
Letzte Kommentare