Berlin, 3.Oktober 2020/cw – Segen oder Fluch? Einzig die ausgerufene Pandemie verhinderte ein opulentes Fest zum „Feiertag nach Aktenlage“ am heutigen 3. Oktober anno 2020. Stattdessen wurden Pandemie-freundliche Events wie die stadtweite Ausstellung in Potsdam, eine „Einheitsstunde“ im Deutschen Bundestag oder die Verlängerung der wunderschönen „Berlin leuchtet“-Veranstaltung durchgeführt. Deutschland entging so der Peinlichkeit, sich der Wahrheit zu stellen und schonungslos die noch immer vorhandenen und skandalösen Defizite näher zu beleuchten.
Natürlich haben wir gewichtige Gründe, auch eine ganze Generation später die Vereinigung der durch den 2. Weltkrieg verbliebenen Reste Deutschlands zu einem Staat zu bejubeln. Traurig, wenn wir das nicht täten. Aber müssen wir deswegen weiterhin lügen, Tatsachen verschweigen, uns geradezu euphemistisch einreden, dass wir „das große Glück“ mit Anstand, Bescheidenheit und Dankbarkeit gemeistert haben?
Geschichtliche Dimension des 9. November verschwiegen
Warum beschränken wir uns alljährlich am 9. November auf die zeitgeschichtliche Würdigung der Maueröffnung, ohne den 9. November als den Tag zu begehen, der uns die einmalige Chance vermittelt hat, einen überzeugenden „Nationalen Feiertag“ würdig zu begehen? Der 3. Oktober wurde doch nur aktenkundig, weil es offensichtlich in diesem Punkt überforderten Politikern nicht möglich erschien, den 9. November als d a s Datum der neuen Deutschen Einheit festzuschreiben. Man wollte wohl ein absolutes Wohlverhalten nach Außen zelebrieren, hatte wohl Befürchtungen, dem neuen Deutschen Staat stände ein solcher geschichtsträchtiger Feiertag nicht zu. Könnte doch ein selbstbewusster und in seiner geschichtlichen Duplizität einmaliger Feiertag bei unseren Nachbarn Stirnrunzeln, vielleicht sogar Irritationen auslösen? Waren wir nicht durch den 2. Weltkrieg zu immerwährender Bescheidenheit, zu Zurückhaltung verpflichtet?
Erstaunlich, wie es gelang, die geschichtliche Dimension des 9. November gegenüber dem eigenen Volk bereits über drei Jahrzehnte zu verschweigen, im künstlichen Jubel-Nebel des 3. Oktober verschwinden zu lassen. Auch in der bereits erwähnten Einheits-Stunde des Deutsche Bundestages kein Wort zu diesem Komplex. Selbst der beste Redner an diesem Tag, Ralph Brinkhaus, Fraktionschef der CDU/CSU, vermied dieses Thema wie der Teufel das Weihwasser. Dabei wäre es dreißig Jahre nach dem ersten „3.Oktober“ an der Zeit gewesen, auch zu diesem Thema Tacheles zu reden.
Hier noch einmal zur Erinnerung:
Am 9. November 1848 wurde bei Wien das Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung (Paulskirche) Robert Blum (* 10. 11.1807 in Köln; † 9. 11.1848), eine führende Persönlichkeit der liberalen und nationalkirchlichen Bewegung, hingerichtet. Blum setzte sich als einer der führenden Köpfe der Demokraten für eine republikanische Verfasstheit des deutschen Nationalstaates ein. Dabei war er auf Kompromisse mit dem linken Flügel der Liberalen ebenso bedacht wie auf einen strikt demokratischen Kurs. Während der zweiten Revolutionsphase nahm Blum während des Oktoberaufstandes auf der Seite der Revolutionäre an der Verteidigung Wiens gegen die kaiserlich-österreichischen Truppen teil. Nach der Niederschlagung des Aufstands war der Demokrat durch ein Standgericht zum Tode verurteilt worden.
Am 9. November 1918 wurde die Republik ausgerufen. Gleich zweimal: Durch Philipp Scheidemann (SPD) von einem Balkon des Reichstages aus und durch den Führer des kommunistischen Spartakusbundes, Karl Liebknecht, vom Balkon des Berliner Schlosses. Die Ausrufung der Republik beendete das Kaiserreich und wurde zur Geburtsstunde der „Weimarer Republik“.
Am 9. November 1923 scheiterte der Putsch Adolf Hitlers und Erich Ludendorffs gegen die parlamentarische Demokratie. Es war Hitlers erster Versuch, die verhasste Reichsregierung in Berlin zu stürzen. Ein damaliger Sieg der Demokratie, der jeder Erinnerung und Würdigung wert ist.
Am 9. November 1938 kam es zu den ersten und reichsweiten Pogromen gegen jüdische Mitbürger, bekannt geworden unter dem zu trauriger Berühmtheit gelangten berüchtigten Namen „Reichskristallnacht“. Es war der Auftakt zu einer der schrecklichsten staatlich veranlassten und geführten Mordmaschinerie gegen eine Minderheit im Deutschen Reich und nach Beginn des 2. Weltkrieges in ganz Europa. Ein „Nationaler Feiertag“ beinhaltet nicht nur Jubelstunden, er ist Anlass, auch der dunklen Stunden einer Nation zu gedenken.
Untrennbar verbunden mit dem „9. November“ ist auch der 8. November 1939. Seit 1933 versammelten sich Teilnehmer des Putschversuches von 1923 stets am 8. November im Bürgerbräukeller, von dem seinerzeit aus der Marsch zur Feldherrnhalle begonnen hatte. Hitler hielt vor seinen Gefolgsleuten jeweils eine Rede. Am 8. November 1939 entging er an diesem geschichtsträchtigen Ort nur knapp einem Attentat. Georg Elser, (* 04.01.1903 Hermaringen; † 09.04.1945 im KZ Dachau), ein Kunstschreiner und Widerstandskämpfer gegen die NS-Herrschaft, hatte in die Säule hinter dem Rednerpult eine Zeitbombe eingebaut. Hitler beendete an diesem Abend seine Rede vorzeitig. Als die Bombe nur 20 Minuten später explodierte, hatte der „Führer“ bereits den Bürgerbräukeller verlassen.
Am 9. November 1989 fiel nach 28 Jahren in Berlin die Mauer, wurde nach einer sensationellen Mitteilung durch den SED-Funktionär Günter Schabowski (* 04.01.1929 Anklam; † 1.11.2015 Berlin) die Ausreise von DDR-Bürgern „ab sofort, unverzüglich“ möglich. Dieser Tag war die Geburtsstunde der jetzigen Deutschen Einheit, daran ändern auch keine Aktenvermerke, wie die statische Festschreibung auf ein willkürliches Datum, nichts.
Ein Geschenk der Geschichte
Es bleibt erstaunlich, dass diese geschichtlichen Zusammenhänge, die jede andere Nation als „Geschenk der Geschichte“ behandeln und begehen würde, bei uns – übrigens auch in den Medien – stiefmütterlich behandelt, wenn nicht ganz unterschlagen wird.
Die Vereinigung 17. Juni (Berlin) hatte bereits im Dezember 1989 in einem Brief an den Präsidenten des Abgeordnetenhauses, Jürgen Wohlrabe (* 12.08.1936 Hanau; † 19.10.1995 Berlin) den Vorschlag unterbreitet und begründet, den „9. November“ zum Nationalen Feiertag zu bestimmen. Wir signalisierten seinerzeit unsere Bereitschaft, dafür auf den „17. Juni“ als arbeitsfreien Gedenktag zu verzichten, da wir in der aktuellen Entwicklung eine Umsetzung der Ziele des Aufstandes von 1953 sahen. Wohlrabe war begeistert und wollte das Schreiben mit entsprechender Befürwortung an den Präsidenten des Deutschen Bundestages weiterleiten. Von dort erhielt der Verein nie eine Reaktion. Zwar wurde der „17.Juni“ tatsächlich unter der Ägide des Einheitskanzlers Helmut Kohl (* 03.04.1930 Ludwigshafen am Rhein; † 16.06.2017 ebenda) als „arbeitsfreier“ Tag durch den „3.Oktober“ ersetzt, nachvollziehen können (nicht nur) wir diesen Verwaltungsakt auch nach 30 Jahren nicht.
Dies ist allerdings nur ein schwarzer Punkt in der Aufarbeitungsgeschichte. Ungeklärt harren noch viele wichtigen Punkte einer endlichen Klärung. So wurden in den gen. Bundestagsreden zum 3. Oktober zum Beispiel auch die „nach wie vor niedrigeren Renten in der ehemaligen DDR“ als Unrecht beklagt. Von dem nach wie vor andauernden Unrecht an den Flüchtlingen, die bis zur Maueröffnung oft unter Gefahr für Leib und Leben aus der Diktatur geflüchtet waren, war nicht einmal ansatzweise die Rede. Diesem Personenkreis war seinerzeit bei ihrer Ankunft im freien Teil Deutschlands zugesichert worden, die bis dato erbrachten Arbeitszeiten rentenrechtlich so zu behandeln, als wären diese in der (alten) Bundesrepublik erbracht worden. Nach der Wiedervereinigung wurde dieser Personenkreis handstreichartig rückwirkend wieder zu DDR-Bürgern erklärt. Dieser Rentenbetrug hatte bis heute Rückwirkung auf die Berechnung der Renten, die auf diese Weise um 100 bis 800,00 Euro gekürzt wurden. Auch dieses Unrecht steht neben anderen politischen Fehlhandlungen (Deutsche Treuhand!) immer noch ungeklärt, schlimmer, weil ignoriert, im Raum.
„Soziale Zuwendung“ und „Ehrenpension“
Ein weiteres Thema wären die sogen. Opferrenten, die Verfolgte bzw. aus politischen Gründen von der SED-Diktatur zu Haftstrafen Verurteilte unter der Bezeichnung „Soziale Zuwendung“ seit 2007 (!) erhalten. Im gleichen Jahr wurde für die letzten Minister einer DDR-Regierung, weil frei gewählt, eine „Ehrenpension“ beschlossen. Diese Minister kamen ihren staatsbürgerlichen Verpflichtungen für ein sicher nicht kleines Gehalt für längstes 5 Monate (!) nach. Dafür wurde diesen eine Ehrenpension in Höhe von 600 € monatlich zugesprochen, die mit den Bezügen der Bundesminister jeweils prozentual angehoben wird und auf hinterbliebene Ehepartner vererbt werden kann. Der letzte Ministerpräsident Lothar de Maiziere startete sogar mit einer anfänglichen Ehrenpension in Höhe von 800 €. Und dies, obwohl er lt. vorliegenden Stasiakten die Fluchtabsichten eines DDR-Bürgers übermittelte und nach weiteren hinlänglich bekannten Berichten in den Medien von der Stasi als „IM Czerny“ geführt wurde. Ein ehemaliger Politischer Häftling erhält als „Soziale Zuwendung“ inzwischen monatlich 330 € (nach 250 € ab 2007). Diese ist allerdings an Einkommensgrenzen gebunden, wird also in vielen Fällen erst nach der Verrentung gezahlt und ist im Vergleich zur angeführten Ehrenpension für die DDR-Minister nicht vererbbar, auch wenn der/die EhepartnerIn vielfach die Verfolgung mitge- oder ertragen hat.
Dass es auch 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs auch anders geht, hat in den letzten Wochen Polen gezeigt: Hier erhalten die einst politisch Verfolgten eine Ehrenrente in Höhe von 600 € monatlich.
Rückzahlungen von SED-Millionen werden im Haushalt vergraben
Last not least: Kürzlich hat das höchste Schweizer Gericht eine Schweizer Bank in letzter Instanz dazu verurteilt, über 100 Milliarden € illegal von der einstigen SED transferierten Vermögens an die Bundesrepublik zurückzuzahlen. Bei der vorhandenen fehlenden Empathie der meisten im Deutschen Bundestag sitzenden Politiker für die Belange der einstigen wirklichen Opfer der SED-DDR-Diktatur steht zu erwarten, dass diese Millionen nicht diesem Personenkreis zugeschrieben werden, sondern in „vereinigungsbedingte Strukturmaßnahmen der Ostdeutschen Länder“ fließen werden. So kann der Corona-gebeutelte Haushalt entlastet und auch Geschichte entsorgt werden.
Nein, den einstigen Lastenträgern der Zweiten Deutschen Diktatur bleibt der Jubel zum Aktendatum „3. Oktober“ nicht nur ob der nach wie vor gezeigten Ignoranz gegenüber den offenen Problemen durch die Politik im Halse stecken.
Ja, am 9. November werden diese Menschen sich trotzdem besonders freuen, weil ihr Kampf um die Freiheit, um die Einheit ihres Vaterlandes letztlich an diesem (weiteren) 9. Novembertag vor nunmehr 31 Jahren gekrönt wurde.
V.i.S.d.P.: Vereinigung (AK) 17. Juni 1953 e.V., Berlin – Tel.: 030-85607953 (1.564).
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