Die Schriftstellerin Monika Maron erinnert sich in der Neuen Zürcher Zeitung vom 7.11.2019 an den Mauerfall: Jeder, der sprechen wollte, konnte nun sprechen, wer für oder gegen etwas kämpfen wollte, konnte das öffentlich und ungefährdet tun. Und heute? Da wird Menschen wegen unerwünschter Meinungen die Existenz wieder erschwert oder sogar zerstört.
Von Monika Maron*
Es gab nicht viel, was ich vermisst habe, nachdem die DDR im Orkus der Geschichte versunken war. Und was ich hätte vermissen können, den Bautzener Senf zum Beispiel, gibt es ja heute noch. Nur eins schien mir für immer verloren zu sein, weil es einem an diesen Ort und diese Zeit gebundenen, unentrinnbaren und demütigenden Gefühl der Ohnmacht entsprungen war: unser galliges Gelächter. …
Dieses Gelächter war eine Form des Widerstands, es einte uns und zog eine Wand zum Rest der kleinen, für uns bestimmten Welt. Dann öffnete sich die Welt und damit verstummte auch dieses Gelächter. Jeder, der sprechen wollte, konnte nun sprechen, wer schreiben wollte, konnte schreiben, und wer für oder gegen etwas kämpfen wollte, konnte das öffentlich und ungefährdet tun. Die Erinnerung an unser galliges Gelächter habe ich bewahrt wie die Erinnerung an alles, das schön war in dieser Zeit: die Jugend, Liebe, Freundschaft.
Aber seit einigen Jahren höre ich es wieder, ein böses, hilfloses Lachen, von mir und von anderen, von Ostdeutschen und von Westdeutschen auch. …
Ich habe nicht für möglich gehalten, dass mir das noch einmal passiert. Als ich 1988 aus Ostberlin nach Hamburg gezogen bin und bei Zarrentin zum ersten Mal über die Grenze fuhr und das Schild mit dem Bundesadler sah, breitete sich in mir das Wort Freiheit zu einem Glücksgefühl aus. Und so war es auch. Ich war frei; frei zu schreiben, zu sprechen, zu leben. Und als ich binnen kürzester Zeit mit den Hamburger Grünen und Feministinnen zusammenprallte, war das eine lehrreiche Erfahrung, mehr nicht. Ich ahnte nur, dass das keine wunderbare Freundschaft werden könnte. Aber sie waren nicht das Land, nicht die Zeitungen, nicht der Rundfunk, auch wenn sie da gewiss saßen, aber sie beherrschten sie nicht. …
Als ich 2010 begann, mich für den Islam zu interessieren, ging es mir weniger um den Islam als um den Umgang mit seinen Kritikern, in dem ich ein Muster wiederzuerkennen glaubte. Islamkritiker wie Necla Kelek wurden plötzlich als «heilige Krieger» und «Hassprediger» beschimpft, als stünde es ihnen nicht zu, sich mit ihrer eigenen Herkunft und Kultur auseinanderzusetzen. Sie wurden ihrer eigenen Konflikte beraubt, die nun von der westdeutschen Linken als deren eigene Angelegenheit übernommen wurden, so wie auch die Ostdeutschen von ihren Konflikten enteignet wurden, indem jedes Problem, das sie miteinander hatten, in das Konfliktpotenzial westdeutscher Parteien integriert wurde und fortan als Ost-West-Konflikt galt, als wären die Ostdeutschen vierzig Jahre lang eine homogene Masse gewesen.
In den Jahren 2014, als die Pegida zum ersten Mal auf die Dresdener Strassen ging, und 2015, als eine Million Flüchtlinge und Einwanderer unkontrolliert die deutschen Grenzen passierten, verwandelten sich diese Konfliktfelder in Kampfzonen, in denen die Begriffe links und rechts endgültig bedeutungslos wurden. Wer die bis dahin selbstverständlichen Forderungen der Linken wie die Aufklärung, den säkularen Staat und die Frauenrechte verteidigte, fand sich plötzlich auf dem rechten Kampffeld wieder; und meine linken, grünen Feministinnen aus Hamburg verteidigten vermutlich leidenschaftlich das islamische Kopftuch und forderten Verständnis auch für die hartgesottensten muslimischen Frauenverächter, was für mich bedeutet: Sie waren zu Reaktionärinnen mutiert, also rechts.
Der Osten avancierte in den Jahren danach von der Mitleids- und Witzfigur der Medien zu ihrer Hassfigur. Die dummen Ostdeutschen, die eben keine Fremden kannten, obwohl sie seit einem Vierteljahrhundert selbst durch die Welt reisten, auch in Dresden ARD und ZDF sehen konnten und die seit 1990 Hunderttausende Spätaussiedler aus Russland und Kasachstan aufgenommen hatten. Sie hatten erlebt, wie ihre gut ausgebildeten Kinder in den Westen abwanderten, weil sie im Osten keine Arbeit fanden, und ließen sich nun erzählen, dass schlecht ausgebildete, fremde junge Männer als Arbeitskräfte gebraucht würden.
Seit 1990 sind fünf Millionen Ostdeutsche in den Westen gezogen. Die Jugend, die dem Osten fehlt, lebt im Westen. Auch danach hätte man fragen können, ehe man ganz Sachsen zum Nazisumpf erklärt und, wie eine Journalistin kürzlich stolz verkündete, keinen sächsischen Apfelsaft mehr kauft. Man hätte fragen können, was die Menschen plötzlich auf die Strasse treibt, bevor man sie als «besorgte Bürger» lächerlich macht, als «Abgehängte» diffamiert und über den Umweg rechtsradikal und rechtsextrem als Nazis über eine Grenze schiebt, die sie vielleicht nie hatten übertreten wollen.
Aber Rechte fragt man nicht, mit Rechten redet man nicht, Bücher von Rechten liest man nicht, Rechten darf man ihre Stände auf Buchmessen verwüsten, Rechten hört man nicht zu und antwortet ihnen nicht – und wer oder was rechts ist, entscheidet jeder, der sich für links hält. Schon die Frage, ob der Klimawandel wirklich nur menschengemacht ist oder wie viel Einwanderung eine Gesellschaft verträgt, ohne schwerwiegenden Schaden zu nehmen, oder ob dieses Genderkauderwelsch wirklich den Frauen nutzt, kann ausreichen, um rechter Gesinnungsart verdächtigt zu werden.
Wie es scheint, hat die grün-linke Seite, verstärkt durch eine gewandelte CDU, den Kampf um die Deutungshoheit gewonnen um den Preis, dass die AfD zu einer konstanten politischen Kraft geworden ist. Was für ein Sieg!
Kürzlich erzählte ich einem Freund, ich fühlte mich beim Schreiben zuweilen wie früher, als ich mein erstes Buch «Flugasche» geschrieben habe, wieder gedrängt ins Politische, weil es mich jeden Tag umtreibt, und bedrängt von dem Gedanken, was ich mir wohl einbrocke, wenn ich einen Protagonisten meines Buches diesen oder jenen Satz sagen lasse. Der Freund war empört: Wie ich die Bundesrepublik mit der DDR vergleichen könne und ob ich noch ganz bei Verstand sei. Es liegt mir fern, die Bundesrepublik mit der DDR zu vergleichen. Weder fürchte ich, mein Buch könnte wie in der DDR verboten werden, noch halte ich für möglich, dass ich juristisch belangt werden könnte.
Und trotzdem habe ich dieses Gefühl.
Natürlich, Deutschland ist ein Rechtsstaat; darum werden Bücher nicht verboten und Schriftsteller nicht verhaftet. Aber es gibt auch in einem Rechtsstaat Möglichkeiten, Menschen wegen unerwünschter Meinungen die Existenz zu erschweren oder sogar zu zerstören. Wenn Zweifel schon verdächtig sind, wenn Fragen als Provokationen wahrgenommen werden, wenn Bedenken als reaktionär gelten, wenn im Streit nur eine Partei immer recht hat, können einen alte Gefühle eben überkommen. Und dann kann man darüber verzweifeln, vor Wut toben oder darüber lachen, unser schönes galliges Gelächter.
* Von der Schriftstellerin Monika Maron ist zuletzt der Roman «Munin oder Chaos im Kopf» im S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main, 2018, erschienen.
Der vollständige, ungekürzte Text unter: https://www.nzz.ch/feuilleton/monika-maron-es-liegt-mir-fern-die-bundesrepublik-mit-der-ddr-zu-vergleich-ld.1519713
2 Kommentare
10. November 2019 um 17:48
text030
Der Roman „Flugasche“ war einer der ersten wichtige „Widerstandsakte“ gegen die Umweltzerstörung in der DDR. Ich habe das Buch sehr geschätzt und teile auch viele Sichten von Frau Maron zur aktuellen politischen Entwicklung.
Stimmen wie ihre sind einst wie heute wichtig, denn Mut zum Klartext haben immer noch zu wenige.
10. November 2019 um 16:41
Felix Heinz Holtschke
Eine realistische, vor allem aber deprimierende Einschätzung des politischen Klimas im wiedervereinten Deutschland 30 Jahre danach ! Schlimmer noch die nachfolgende Bildergalerie „Die lange Nacht des Mauerfalls“. Bild 6 zeigt einen von der BStU amtlich festgestellten IBM mit dem Decknamen „Falke“ aus Berlin-Pankow. Habe die NZZ aufgefordert, das Bild zu entfernen oder mit einer erklärenden Bildunterschrift zu versehen, wie z.B. „Auch Stasi-IM zieht es in den Westen“ ….