Berlin, 11.08.2019/cw – Im Zusammenhang mit der Aktion zum 30.Jahrestag der „Lebendigen Brücke“ : „WIR“ statt „IHR“ am Checkpoint Charlie (12.08.2019, 11:00 Uhr) erreichten mich zahlreiche Anfragen über meinen Weg zum gewaltlosen Widerstand gegen die Mauer. Bis zum 12. August werde ich an dieser Stelle Stationen auf diesem Weg und aus dem Kampf gegen die Berliner Mauer schildern. (14 -Teil 13 siehe 10.08.2019).
Über den „Wanderer zwischen den Welten“, den Ostberliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel (* 30.10.1925; † 21.08.2008) ist Vieles geschrieben worden. Die Einen haben ihn als „geldgierigen Diabolus“ oder als „verkappten Stasi-Mitarbeiter“ von Honeckers Gnaden bezeichnet, die Anderen sahen in ihm einen „stillen Helden“, der im Dunkel des Unrechtsstaates ein „Licht der Hoffnung“ darstellte. Tatsache ist, dass Wolfgang Vogel den stets ungeliebten Part des Parlamentärs zwischen den Fronten des Kalten Krieges spielte. Dazu gehörte nun einmal die Notwendigkeit, Vertrauen auf beiden Seiten der Verhandlungspartner zu finden.
Vogel: Meine Arbeit beginnt erst nach dem Urteil
Wolfgang Vogel habe ich persönlich in guter Erinnerung. Das lag nicht nur an den metaphysischen Bindungen, von denen ich erst später erfuhr. Er war im selben Landkreis in Niederschlesien wie ich geboren worden, sein Todesdatum fiel in das Jahr des Todes meines Vaters und dazu noch in dessen Geburtsmonat. Und Vogel starb am bayerischen Schliersee, an dem ich während meiner Zeit in Bayern (1979-2008) auch wegen der Betreuung einer alten befreundeten Dame viel Zeit verbracht habe. Die gute Erinnerung allerdings bezog sich auf sein ehrliches und offenes Verhalten vor und während des Prozesses vor dem Stadtgericht in Ost-Berlin (05. – 07.04.1966).
Meinen Anwalt würde ich erst sprechen können, wenn die Vernehmungen abgeschlossen sein würden und die Entscheidung über eine Anklage gefallen wäre, hatte mir einer meiner zwei Stasi-Vernehmer auf die Frage nach einem Rechtsbeistand geantwortet. Tatsächlich sah ich Vogel das erste Mal unmittelbar vor dem Beginn der ersten Verhandlung.
Offen erklärte mir Vogel, dass er mir ja nichts zu erklären brauche, da ich ja über das Prozedere gut informiert sei. Seine Arbeit würde erst mit der Rechtskraft des Urteils beginnen. Während der Verhandlung könne er keinen wirklichen Part spielen, was ich ja wohl wüsste. Für diese Ehrlichkeit war ich Vogel sehr dankbar. Er hätte mir ja auch eine Rolle vorspiegeln können, von der ich wußte, dass diese eher einer Farce entspräche.
Gedankliche Brücke zwischen KZ und Mauer nachvollziehbar
So verlief denn auch die Verhandlung. Allerdings war ich über durchaus bemerkenswerte Nuancen erstaunt. So wurde ein psychologisches Gutachten verlesen, in dem der Gutachter attestierte, meine gedankliche Brücke zwischen den KZ´s im Dritten Reich und der Mauer in Berlin sei aus seiner Sicht „durchaus nachvollziehbar und entbehre nicht logischer Schlussfolgerungen“, auch wenn dies „natürlich falsch“ sei.
Am Ende der Verhandlung stand das Urteil. Vier Einzelstrafen über zehn Jahre wurden zu einer Gesamtstrafe von acht Jahren zusammengezogen. Aufgrund der Empfehlung von Wolfgang Vogel verzichtete ich auf „Rechtsmittel“, die ohnehin „bedeutungslos sind“ (Vogel), um diesem den Eintritt in die obligatorischen Freikauf-Verhandlungen mit der (alten) Bundesrepublik zu ermöglichen. Wesentlich später erfuhr ich, dass die Verhandlungen um meine Freilassung bereits unmittelbar nach meiner Festnahme eingeleitet worden waren. Ausnahmslos alle Parteien (CDU, SPD und FDP) beteiligten sich über ihre Kanäle daran, ein unerwartetes Engagement, für das ich noch heute dankbar bin.
Danach hätte ich eigentlich gar nicht mehr in den Strafvollzug kommen sollen. Weil aber irgendwelche Zusagen gegenüber der DDR nicht eingehalten worden waren, wollte der SED-Staat ein Exempel statuieren und transportierte mich etwa drei Monate nach dem Urteil nach Bautzen in den Strafvollzug.
Anspruch auf rechtstaatlichen Vollzug
Von diesen Hintergründen wußte ich natürlich nichts. Nur konnte ich, in Bautzen angekommen, aufgrund meiner Kenntnisse leicht ausmachen, dass ich mich offensichtlich in der berüchtigten Haftanstalt Bautzen I befand. Die zugewiesene Einzel-Zelle war dunkel, total verschmutzt, auch mit Fäkalien an den Wänden und auf der Liege. Ein Waschbecken? Ein Klosett? Fehlanzeige. Ein ebenso schmutziger und stinkender Kübel stand für meine Notdurft bereit.
Es war diese Zumutung, der dadurch wieder geweckte Wille, meinen Gewaltlosen Widerstand zu beleben, der mich nach kurzer Wahrnehmung heftig gegen die Zellentür trommeln ließ. Bald darauf erschien ein Wärter:
„Ich bin in einem von Ihnen behaupteten Rechtsstaat verurteilt worden und habe Anspruch auf einen rechtsstaatliche Vollzug,“ sagte ich diesem. „Die mir zugewiesene Unterbringung widerspricht in vollem Umfang diesen Prinzipien. Bitte richten Sie Ihren Vorgesetzten aus, dass ich eine sofortige Verlegung in einen menschwürdigen Strafvollzug verlange. Ansonsten werde ich ab sofort in einen unbefristeten Trink- und Hungerstreik eintreten. Sie können mich dann in drei Tagen tot aus dieser Zelle tragen.“
Der Wärter nahm diese Erklärung ohne erkennbare Regung auf und verschloss die Zellentür wieder. Etwa zwei als quälend empfundene Stunden später wurde ich aus der Zelle geholt und abtransportiert. Im anderen Domizil angekommen war ich mir sicher, nach Bautzen II verlegt worden zu sein. Das Treppenhaus musste kurze Zeit vorher frisch gestrichen worden sein. Auch die zugewiesene Zelle machte einen renovierten Eindruck. Das dortige Bett war mit Bettwäsche bezogen, in der Zelle befand sich ein Waschbecken und ein WC.
Arbeit mit einem Fluchthelfer und einem „Kriegsverbrecher“
Während in Bautzen I überwiegend wegen krimineller Delikte Verurteilte einsaßen, war Bautzen II vorwiegend für politische Gefangene, Geheimnisträger des SED-Staates, wie der seinerzeitige Außenminister der DDR, Georg Dertinger (*25.12.1902 ; †21. 01.1968), der 1953 verhaftet und zu 15 jahren Zuchthaus verurteilt worden war, sowie Personen vorgesehen, an denen aus unterschiedlichen Gründen ein besonderes Interesse der (alten) Bundesrepublik oder auch anderer Staaten bestand.
Über die Erlebnisse mit und bewegenden Kontakte zu strafgefangenen Kameraden ist sicherlich an anderer Stelle zu berichten. Hier will ich hier nur erwähnen, dass ich mit zwei Kameraden tagsüber in einer Arbeitszelle Kondensatoren zusammenschrauben mußte: Fritz Belger aus Winsen/Luhe war als LkW-Fahrer wegen Fluchthilfe verurteilt worden, auch sein Sohn saß deswegen hier in Bautzen ein. Der Andere, Willi Wehren, saß bereits seit zehn Jahren in Haft, was mit tief unter die Haut ging. Er war zunächst zum Tode verurteilt worden, weil er angeblich an der Erschießung von KZ-Insassen beteiligt gewesen war. Die Sowjets hatten aber Einspruch erhoben, weil ein Abkommen zwischen den Alliierten ein Bestrafungsverbot vorsah, wenn der Betroffene bereits vor einem anderen alliierten Gericht in gleicher Sache angeklagt worden war.
Willi Wehren war nach Kriegsende von einem französischen Militärgericht angeklagt und freigesprochen worden. Ehemalige KZ-Insassen hatten für ihn ausgesagt und bestätigt, dass Wehren unter Androhung der Erschießung gezwungen worden war, an einer Hinrichtung teilzunehmen. Dieser Freispruch hatte ihn dazu verleitet, in den fünfziger Jahren zu Besuchen in die Sowjetisch besetzte Zone zu fahren, mit fatalen Folgen. Nach Aussetzung der von einem DDR-Gericht verhängten Todesstrafe war das Urteil auf Weisung der Sowjets auf lebenslänglich abgeändert worden. Kurz vor unserer gemeinsamen Haft war diese Strafe erneut reduziert worden: Auf 15 Jahre.
Überraschende Rückkehr nach Berlin
Anfang Oktober 1966 wurde ich am Tage aus der Arbeitszelle geholt und aufgefordert, „meine Sachen zu packen“. Ohne jede Erklärung wurde ich in einen Gefangenentransport-LkW verladen und kam Stunden später auf dem Gelände des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin an. Erwartete mich ein neuer Prozess? War ich als Zeuge vorgesehen? Oder sollte ich gar entlassen werden?
Die mir bereits bekannte Prozedur von Bautzen I wiederholte sich. Ich wurde in eine noch engere Zelle als dort eingesperrt. In der Zelle befand sich kein Fenster und die Bewegungsmöglichkeit war wegen der dort vorhandene Pritsche auf ca. drei Quadratmeter beschränkt. Eine Fäkalientonne ergänzte das menschenfeindliche Interieur.
Erst als gegen Abend durch die Luke in der Zellentür ein Napf in die Zelle gereicht wurde, in dem nach meiner Erinnerung neben Brot Äpfel und Birnen lagen, kam erstmals die Vermutung auf, dass es um meine vorzeitige Entlassung gehen könnte. Es war nämlich üblich, dass die zur Entlassung oder zum Freikauf vorgesehenen Gefangenen eine besondere, von der Einheitsversorgung deutlich abweichende Kost erhielten. Es ging im Sprachjargon um das „Aufpäppeln“ der einstigen Delinquenten.
Ungenutzt ließ ich den Blechnapf wieder abholen. Nachdem ich ein zweites und drittes Mal die zugereichte Speisung ungenutzt wieder aus der Zelle gereicht hatte, fragte mich ein tatsächlich im Kampfanzug uniformierter Wächter, warum ich denn die Nahrung verweigere? Ich erklärte ihm, dass ich gesetzesmäßig verurteilt worden sei und einen Anspruch darauf hätte, zu erfahren, warum ich aus dem geregelten Strafvollzug hierher verlegt worden sei. Der Uniformierte blickte rasch den gang vor der Zelle hinunter und wandte sich dann mir zu: „Mensch, sei doch nicht blöd. Du sollst entlassen werden. Wenn Du nichts isst, verlängert sich doch nur Dein Aufenthalt!“ Mir blieb nur – fast sprachlos ob dieser direkten Auskunft – ein „Danke, Kamerad!“ übrig, um danach den Inhalt des Blechnapfes geradezu genussvoll zu leeren.
Mit Wolfgang Vogel in die Freiheit
Am nächsten Tag verlangte ich, mit „meinem Anwalt oder der Leitung dieser Einrichtung“ zu sprechen. Noch am selben Tag erschien ein Gesprächspartner in zivil, um sich meine Forderung anzuhören: Ich verlangte die umgehende Verlegung in eine menschenwürdige Zelle und eine erschöpfende Begründung für meine Verlegung nach Berlin. Noch am selben Tag wurde ich in eine Zweimannzelle mit WC und Waschbecken verlegt.
Drei Wochen später, am 29. Oktober 1966, wurde ich von Wolfgang Vogel in seinem bekannten goldfarbenen Mercedes über die Grenzübergangsstelle Invalidenstraße in die Freiheit gefahren.
-Schluss am 12.08.2019-
V.i.S.d.P.: Redaktion Hoheneck, Berlin – Mobil: 0176-48061953 (1.458)
1 Kommentar
15. August 2019 um 02:29
Klaus Helmut Dörfert
Es gibt nur einen aktiven oder passiven Widerstand. Wer da von einem Rechtsanwalt spricht, bei einem Vertreter einer Diktatur, der hat nix begriffen. Es gab systemtreue Unterhändler und mehr nicht, die sogenannten Wölfe im Schafspelz. Genau wegen dieser Ansicht der „besseren Stalinisten“ stehen wir da, wo wir heute stehen: Im Abseits. Und die Verbrecher zogen in den Bundestag ein.
Mit kameradschaftlichem Gruss
Dipl.Klaus Helmut Dörfert