Berlin, 01.08.2019/cw – Im Zusammenhang mit der Aktion zum 30.Jahrestag der „Lebendigen Brücke“ am Checkpoint Charlie (12.08.2019, 11:00 Uhr) erreichten mich zahlreiche Anfragen über meinen Weg zum gewaltlosen Widerstand gegen die Mauer. Bis zum 12. August werde ich an dieser Stelle Stationen auf diesem Weg und aus dem Kampf gegen die Berliner Mauer schildern. (4 – Teil 3 siehe 31.07.2019).

Von Carl-Wolfgang Holzapfel

Im Frühjahr 1962 hatte ich mich aus den insgesamt zwölf Jahre andauernden Heimaufenthalten freigeschwommen. Nach meinem durch den Mauerbau in Berlin verursachten überstürzten Aufbruch von Hamburg nach Berlin war ich „zur Strafe“ vom Jugendamt in einen „Jugendhof“ eingeliefert worden. Man könne nicht einfach aus einem vom Staat bezahlten Lehrlingsheim ausbrechen, hatte mir eine Dame im Landesjugendamt empört vermittelt. In einem vergitterten Transportauto wurde ich einem Schwerverbrecher gleich in eine Unterkunft gefahren. Dort stand am Ausgang nicht nur ein Pförtner, ich wurde auch für die nächsten Wochen in einer vergitterten Baracke untergebracht. Das bezogene spartanische Zimmer wurde sorgsam abgeschlossen. Heimknast pur.

Positiv vermerkte ich jedoch, das ich ab Ende Oktober Vormittags die heimeigene Berufsschule besuchen konnte, was mir letztlich eine Mittelschul-Abschluss ermöglichte. Am Nachmittag durfte ich nach einer Übergangszeit in der Großküche Kessel putzen. Nach einer Bewährungszeit wurde ich in eine offene Baracke verlegt. Hier waren die Zimmer und das Haus nicht abgeschlossen, und am Wochenende durfte ich ab November das Heim sogar verlassen, wenn auch nicht über Nacht. Dadurch war mir die bereits geschilderte Teilnahme an der Demonstration „Jugend demonstriert gegen die Mauer“ möglich.

Als sich im Frühjahr 1962 der Berufsschulabschluss abzeichnete stand natürlich ein möglicher Berufswunsch im Raum. Durch die 1958 geknüpften Kontakte zum Telegraf, der Herausgeber Arno Scholz hatte beabsichtigt, mein 60 Thesen umfassendes Deutschlandpapier zu veröffentlichen, bewarb ich mich dort erfolgreich als Volontär, weil ich gerne Journalist werden wollte, um auf diesem Weg den 17 Millionen Ostdeutschen eine Stimme leihen und mich den Ungerechtigkeiten auf der Welt widmen zu können.

Mit achtzehn Jahren ein freier Mensch

Meine Mutter gab mir auf einem meiner Wochenendbesuche zu bedenken, daß ich in diesem Fall noch bis zum 21. Lebensjahr, also noch drei Jahre, in dem „Jugendhof“ verbringen müsste. Die Volljährigkeit wurde damals im Westen erst mit 21 Jahren erreicht. Meine Mutter hatte in der Berliner Morgenpost eine Anzeige gefunden. Dort suchte ein Landwirt aus Wuhlsbüttel (zwischen Bremen und Bremerhafen) zwei landwirtschaftliche Lehrlinge. Und meine Mutter meinte, ich hätte doch bereits entsprechende Kenntnisse, die ich während meines Aufenthaltes in einer kirchlichen Heimeinrichtung (mit vierzehnstündiger täglicher Arbeit) erworben hätte. Der Vorteil lag klar auf der Hand: Fern von Berlin, fern von jeder amtlichen Aufsicht und Bevormundung wäre ich vorzeitig (vor dem 21. Lebensjahr) ein freier Mensch. So fand ich mich nach dem 1. April 1962 auf einem Bauernhof wieder.

T.N. Zutshi 1963. Bis heute hat die Stadt Berlin dem Inder kein Denkmal gesetzt – Foto: LyrAg

Allerdings hatte ich in einem ersten Gespräch mit dem Landwirtschaftsmeister vorgetragen, dass ich alljährlich zum 13. August in Berlin sein müsse, was er akzeptierte. So begegnete ich in der zweiten Augustwoche 1962 im Studentenhaus am Steinplatz dem Inder T.N. Zutshi. Auf einer Veranstaltung, die der Publizist und ehem. KgU-Chef Rainer Hildebrandt organisiert hatte, sprach der Ingenieur aus Indien über den Gewaltlosen Kampf nach Mahatma Gandhi und dass dieser Kampf auch ein Weg sei, um die Berliner Mauer und die Teilung Europas zu überwinden. Er wolle, um dies zu demonstrieren, am 2. Oktober, dem Geburtstag von Gandhi, die Mauer vor der Versöhnungskirche in der Bernauer Straße symbolisch mit Hammer und Meißel einreißen.

„Legt Eure Furcht ab und sprecht die Wahrheit“

Zutshi hatte bereits 1960 am Alexanderplatz mit einem Schild demonstriert: „Menschen hinter dem Eisernen Vorhang: Der erste Weg zur Freiheit – Legt Eure Furcht ab und sprecht die Wahrheit.“ Dieser Zutshi-Ausspruch wurde für mich zur Leitlinie und wurde unendliche Male durch die Realität bestätigt, letztens auch am 9. November 1989. Der „mutige Inder“, so der indische Ministerpräsident in Delhi zur Verhaftung über Zutshi, wurde zunächst von DDR-Organen festgenommen. Weil die Sowjets aber sehr darum bemüht waren, Ihre Beziehungen zu Indien auszubauen, zogen sie den Vorgang an sich und entließen den Inder bereits wenige Tage nach der Festnahme.

Prophetische Forderung:
Zutshi 1960 auf dem Alexanderplatz in Ostberlin – Foto: Archiv

Natürlich mußte ich zu dem im Studentenhaus angekündigten Ereignis in Berlin sein. Um meinen neuen Chef nicht zu verärgern, brach ich den Urlaub schon einige Tage vorher ab, damit ich im Oktober wieder nach Berlin fahren konnte. Allerdings blieben mir durch diesen vorzeitigen Aufbruch die kritischen Tage nach dem Mord an Peter Fechter am 17.August 1962 nahe dem Checkpoint Charlie erspart, wenngleich mich auch dieser Mord auch aus der Ferne emotional tief berührte und aufwühlte.

Am 2. Oktober fanden sich etwa zweitausend Menschen vor der Versöhnungskirche ein, um T.N. Zutshi bei seiner angekündigte Demonstration zuzuschauen. Die Lage war angespannt. Auf dem Turm der (1985 gesprengten) Kirche hatten DDR-Posten gut sichtbar ein Maschinengewehr aufgestellt. Schließlich kam der Inder, um den anwesenden Medien und den zahlreichen Menschen mitzuteilen, dass er die angekündigte Demonstration nicht durchführen würde. Der Innensenator hätte ihm, „auf Weisung der Alliierten“ eine Durchführung untersagt, anderenfalls würde er als „unerwünschter Ausländer“ abgeschoben werden. Dies wolle er vermeiden, weil er nach wie vor die Menschen in Berlin von einem Gewaltlosen Kampf gegen die Mauer überzeugen wolle.

Die ersten Erfahrungen: Gewaltloser Widerstand

Nachdem ich die Unschlüssig- und Ratlosigkeit der Vielen bemerkte, erfasste mich ein nicht gekannter Zorn. Kam denn Niemand auf die Idee, den Gedanken des Inders aufzugreifen, von unserer (betroffenen) Seite aus ein Zeichen zu setzen?

Werbung für den Gewaltlosen Kampf – Zutshi-Schrift von 1962. Das Bild zeigt seinen Marsch an die Brücke von Andau nach dem Ungarn-Aufstand von 1956 –            Foto: Archiv

Nach kurzer Überlegung setzte ich mich spontan unter das Straßenschild „Hussitenstraße“ gegenüber der Versöhnungskirche und verkündete einen „72-stündigen Sitz- und Hungerstreik.“ Bar jeder Vorstellung und Erfahrung verließ ich mich jugendlich darauf, das nicht schlecht sein könne, was Gandhi erfolgreich angewandt hätte.

Kurz darauf ein Polizist: „Was machen Sie hier?“
„Ich führe einen dreitägigen Sitz- und Hungerstreik aus Protest gegen die Mauer durch.“
„Das dürfen Sie hier nicht. Stehe Sie auf!“
„Entschuldigung, sind wir hier schon in Ost-Berlin?“
„Natürlich nicht. Aber Sie dürfen sich hier nicht einfach hinsetzen.“

Nachdem ich mich beharrlich geweigert hatte, meinen Demonstrations-Platz zu verlassen, fuhr wenig später ein Einsatzwagen der Polizei vor: „Steigen Sie ein!“
„Sie verwechseln hier etwas. Ich will hier nicht weg. Sie wollen mich weghaben.“

Daraufhin wurde ich gepackt und in den Mannschaftswagen verbracht. Vor dem Revier angekommen, wurde ich aufgefordert, den Wagen zu verlassen.
„Sie haben mich hier hinein gesetzt, Sie müssen mich auch wieder hinaustragen.“

Erneut wurde ich ergriffen und in eine Arrestzelle getragen, wo man mich in der Mitte der Zelle absetzte. Ich blieb im Schneidersitz so sitzen, wie man mich an der Ecke Hussitenstraße aufgegriffen hatte. Zugegeben, ich war mit mir über diese ersten, immerhin völlig unerfahrenen Schritte im Gewaltlosen Kampf zufrieden.

Zirka eineinhalb oder zwei Stunden später erschien der Reviervorsteher in der Zelle:
„Was machen wir denn jetzt mit Ihnen?“
„Das weiß ich nicht. Sie haben mich ja hierher verbracht,“ erwiderte ich.

Der freundliche Beamte klärte mich nun über die tatsächlichen, realen Gegebenheiten auf. Danach hätten die Alliierten jegliche Demonstration in der Bernauer Straße untersagt. Die Polizei sei lediglich Befehlsempfänger der Alliierten und könne daher nicht selbständig Entscheidungen treffen. Schließlich fragte er mich, ob ich den Gedenkstein für den ersten erschossenen Flüchtling Günter Litfin (*19.02.1937 † 24.08.1961) kennen würde (Lehrter Bahnhof, heute: Hauptbahnhof). Nachdem ich verneint hatte, weil ich nur von dem Mord gehört, aber sonst keine örtlichen Kenntnisse hatte, empfahl er mir diesen Gedenkstein zur Fortführung meines Sitz- und Hungerstreikes.

„Dann kommen Ihre Kollegen und räumen mich weg,“ gab ich zu bedenken. Der Reviervorsteher verneinte und sagte, er würde mir garantieren, dass ich dort demonstrieren könne, weil zwischen der eigentlichen Mauer und dem Gedenkstein der breite Humboldthafen läge. Es beständen somit keine Sicherheits-Bedenken.

Die Freiheit darf hier nicht enden

1963 Wolliner Straße: C.W. Holzapfel, Rainer Hildebrandt mit Freundin, T.N. Zutshi, die ehem. Hoheneckerin Anneliese Kirks und ein Begleiter (von links nach rechts) – Foto: Lyrag

So fand ich mich am Abend gegen 22:00 Uhr an der früheren Entlastungsstraße gegenüber dem S-Bhf. Lehrter Straße ein, um meinen begonnenen Sitz- und Hungerstreik fortzusetzen. Dieser erste eigenverantwortliche Einsatz gegen die Mauer hatte für mich außer den dort gesammelten wichtigen ersten Erfahrungen über mögliche Formen des Gewaltlosen Widerstandes weitgehende Folgen. T.N. Zutshi besuchte mich mehrfach und es erwuchs bis zu seiner Abreise nach Indien 1964 eine tiefe Verständnis-Freundschaft.

Fortsetzung des Hungerstreiks vom 2.10.1962 am Mahnmal für Günter Litfin – Foto: Berliner CDU-Schrift Mai 1966 /  Archiv

Auch Rainer Hildebrandt besuchte mich und fragte gegen Ende des Hungerstreiks, ob ich Interesse an der Leitung seiner im Aufbau befindlichen Mauerausstellung in der Bernauer-/Ecke Wolliner Straße hätte? Nach Klärung der Bedingungen, er könne mich bis auf weiteres nicht bezahlen und als vorläufigen Schlafplatz könne er mir nur einen Prospektraum in der Ausstellung anbieten, sagte ich ohne lange Überlegung zu. Diese Aufgabe faszinierte mich. So fuhr ich nach Wuhlsbüttel zurück, um meinem enttäuschten Chef zu erklären, dass ich ab 1. Dezember in Berlin die Leitung einer Ausstellung übernehmen würde.

Die Ausstellung „Die Freiheit darf hier nicht enden“ war der Vorläufer des 1963 eröffneten weltbekannten und heute nicht mehr wegzudenkenden Mauer-Museums am Checkpoint Charlie.

-Wird fortgesetzt-

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