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Berlin, 31.07.2019/cw – Im Zusammenhang mit der Aktion zum 30.Jahrestag der „Lebendigen Brücke“ : „WIR“ statt „IHR“ am Checkpoint Charlie (12.08.2019, 11:00 Uhr) erreichten mich zahlreiche Anfragen über meinen Weg zum gewaltlosen Widerstand gegen die Mauer. Bis zum 12. August werde ich an dieser Stelle Stationen auf diesem Weg und aus dem Kampf gegen die Berliner Mauer schildern. (3 – Teil 2 siehe 30.07.2019).
Von Carl-Wolfgang Holzapfel
In den Abendstunden des 9.Dezember 1961 ereignete sich an der Grenze zur DDR in Staaken ein besonders grausamer Mord, als der gerade zwanzigjährige Student Dieter Wohlfahrt (* 05.1941 † 09.12.1961) in eine Falle gelockt und durch DDR-Grenzer erschossen wurde. Der Fluchthelfer wollte ein „letztes Mal Menschen bei ihrer Flucht helfen“, so an dem Abend zu seiner Tante Annemarie Klein, bei der er wohnte. Diesmal sollte die Mutter einer jugendlichen Bekannten durch den Stacheldraht in den Westen geholt werden. Was Wohlfahrt nicht wußte: Die „Mutter“ war ein Spitzel, also Mittel zum Zweck, um den engagierten Studenten in eine Falle zu locken.
Wohlfahrt wuchs bei seiner Mutter in der DDR auf. Durch den Vater besaß er die österreichische Staatsbürgerschaft und konnte so auch nach dem Bau der Mauer jederzeit die Grenze passieren. Als die Mauer gebaut wurde, lebte er bereits bei der Schwester seiner Mutter, Annemarie Klein, die als Oberstudienrätin in West-Berlin wohnte, um ab 1961 an der TU Chemie studieren zu können.

Er fühlte sich einfach der Menschlichkeit verpflichtet: Fluchthelfer Dieter Wohlfahrt – Foto: Archiv LyrAg
An jenem schwarzen Sonntag, dem 13. August 1961, urlaubte der Student mit einem Freund in Spanien. Für ihn stand der Abbruch der Urlaubsidylle ohne Wenn und Aber fest, als er über die Medien vom Bau der Mauer erfuhr. Wohlfahrt stieg sofort in die aktive Fluchthilfe ein, zunächst über die Kanalisation. Als dies durch zusätzliche Maßnahmen der DDR unmöglich wurde, schnitt er an geeigneten Orten der Zonengrenze, also am Rand von Berlin, den dortige Stacheldraht auf, um Menschen in die Freiheit zu verhelfen.
Am Abend des 9. Dezember versprach er seiner besorgten Tante, er würde bald wieder zurück sein und es wäre seine letzte Aktion. In Staaken in der Bergstraße angekommen, war die Situation am Fluchtpunkt vergleichsweise übersichtlich. Eine Nylonschnur markierte den tatsächlichen im Rechteck verlaufenen Grenzverlauf, während der Stacheldraht aus wahrscheinlich rationellen Gründen einige Meter dahinter in schräger Linie zur tatsächliche Grenze gezogen worden war.
Nachdem der mutige Student ein vereinbartes Zeichen wahrgenommen hatte, robbte er sich unter der Nylonschnur an den Stacheldraht heran, um diesen aufzuschneiden. Im Hinterhalt liegende Grenzposten eröffneten das Feuer. Wohlfahrt brach zusammen und blieb am Stacheldraht liegen. Aber er lebte.
Kurze Zeit später fuhr die alarmierte Britische Militär-Polizei, begleitet von Westberliner Polizisten, am Tatort auf. Aber statt Erste Hilfe zu leisten, was die Briten aufgrund alliierter Vereinbarungen ohne weiteres hätten tun können, bauten diese Scheinwerfer auf, um die Szenerie auszuleuchten. So sahen sie im Schweinwerferkegel zu, wie der Zwanzigjährige in der folgenden Stunde verblutete. Erst nachdem die DDR-Grenzposten kein Eingreifen der Briten bemerken konnten, zogen sie den inzwischen verbluteten Fluchthelfer durch den Stacheldraht auf DDR-Gebiet.
Der Mord an der Mauer
Der weltbekannte Publizist Sebastian Haffner nahm das Sterben dieses jungen Menschen zum Anlass, über diesen „schrecklichen Mord“ in „CHRIST UND WELT“ die dramatischste Anklage zu schreiben, die je zu diesem Thema geschrieben wurde („Der Mord an der Mauer“, 15.12.1961). Haffner beschrieb die kaltherzige Untätigkeit der angerückten britischen MP, die sich einzig darauf kapriziert hatte, die Szenerie des sterbenden Fluchthelfers mit aufgestellten Scheinwerfern auszuleuchten: „Sie haben ihn verrecken lassen.“

Ein schlichtes Kreuz erinnert in der Bergstraße in Staaken an den Tod des einstigen TU-Studenten und selbstlosen Fluchthelfer – Foto: LyrAg
Wohlfahrts Tod war besonders tragisch, weil im Gegensatz zu dem am 17. August 1962 nahe dem Checkpoint Charlie erschossenen Peter Fechter dort in Staaken keine Mauer eine unüberwindlich erscheinende Barriere darstellte. Nur eine Nylonschnur war zwischen den möglichen Helfern und dem verblutenden Dieter Wohlfahrt gespannt. Bis heute wird diesem bis dahin beispiellosen und rüden Mord an einem ausschließlich humanistisch denkenden jungen Menschen und seinem offenbar sinnlosen, weil durch Hilfeverweigerung verursachten Sterben die Aufmerksamkeit verwehrt, die zu Recht bis heute Peter Fechter gewidmet wurde und wird.
Dieter Wohlfahrt war der erste Peter Fechter. Dass seinem dramatischen Tod im Vergleich zu dem des Peter Fechter damals nicht die Aufmerksamkeit zukam, war dem Umstand zu verdanken, das seine Mutter und seine Schwester noch in der DDR lebten. Der österreichische Konsul in Berlin hatte die Medien daher dringend gebeten, sich in der Berichterstattung zurückzuhalten, um die Angehörigen zu schützen.
Damals 17jährig erinnere ich mich noch heute lebhaft an dieses brutale und schockierende Ereignis. Von 1962 bis zu meiner Verhaftung durch DDR-Grenzposten 1965 organisierte ich am vor Ort errichteten Holzkreuz zum jeweiligen Todestag ein Gedenken an den „durch nichts entschuldbaren Mord“, wie es Sebastian Haffner in seinem anklagenden Artikel treffend formuliert hatte. Wir hielten in den dunklen Abendstunden unweit des Stacheldrahtes mit Fackeln jeweils für mehrere Stunden eine Mahnwache.
-Wird fortgesetzt-
V.i.S.d.P.: Redaktion Hoheneck, Berlin – Mobil: 0176-48061953 (1.445)
Weil der Stadt/Berlin, 30.07.2019/cw – Heut erreichte uns die traurige Nachricht von ihrem Ableben: Rosel Werl, *1951 † 25.07.2019. Auch sie hat den Kampf mit dem tückischen Krebs verloren.
Bis zuletzt stand die Aufrechte an der Seite ihrer Kameradinnen aus dem berüchtigten DDR-Frauenzuchthaus Hoheneck, in dem auch sie nach vergeblichen Ausreiseanträgen einen Teil ihres Lebens verbringen mußte. Noch Februar d.J. wohnte sie trotz ihrer Krankheit der maßgeblich von ihr betriebenen Einweihungsfeier für eine Gedenktafel auf dem Friedhof in Chemnitz bei. Die Namenstafel erinnert an die 136 Menschen, die zwischen 1950 und 1954 in den DDR-Haftanstalten Waldheim und Hoheneck verstarben und anschließend anonym beigesetzt wurden. Nach dem Ende der DDR waren auf dem Boden der Kapelle Urnen mit sterbliche Überresten von Frauen aus Hoheneck gefunden worden, denen das DDR-Regime eine letzte Ruhe verweigert hatte.
Der Liebe wegen wollte sie die DDR verlassen
Die in Altersbach/Thüringen geborene Rosel Werl machte nach dem Besuch der zehntklassigen gen Polytechnischen Oberschule (1957 – 1967) eine Ausbildung zur Industriekauffrau und war danach als Materialsachbearbeiterin tätig. Während eines Urlaubs in Ungarn lernte die Thüringerin 1978 einen Mann aus Westdeutschland kennen und verliebte sich in ihn. Mehrere Ausreiseanträge, die sie ab 1981 stellte, um den geliebten Mann heiraten zu können, wurden abgelehnt. Auch Hilferufe in Form von Schreiben an die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin, das Ministerium für Innerdeutsche Beziehungen in Bonn, den bekannten Ost-West-Vermittler und Rechtsanwalt Wolfgang Vogel sowie den damaligen Innenminister der DDR blieben ohne Ergebnis.
Wegen des Vorwurfs „landesverräterischer Nachrichtenübermittlung“ wurde die jetzt Verstorbene schließlich im Juni 1982 verhaftet und zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. Nach dem Urteil wurde sie nach Hoheneck transportiert. Im August 1983 konnte sie bereits von der Bundesrepublik freigekauft werden. Rosel Werl wählte als neue Heimat Baden-Württemberg, wo sie 1984 endlich heiraten konnte. 1985 brachte sie ihren Sohn zur Welt und war danach bis zu ihrem Ruhestand (2016) in vielen Bereiche als Sekretärin tätig.

Im Buch „Der dunkle Ort“ wurde auch die Haft von Rosel Werl (Auf dem Cover unten, von re. an zweiter Stelle) beschrieben.
Nachdem Werl bereits 1987 dem seinerzeit größte und ältesten Opferverband, der Vereinigung der Opfer des Stalinismus (VOS) beigetreten war, zögerte sie nicht, 1996 dem gegründeten Frauenkreis der ehemaligen Hoheneckerinnen beizutreten. Hier war sie bis zum unerwarteten Zerwürfnis der Frauen im Vorstand tätig und bis zuletzt bemüht, die geschrumpfte Anzahl einstiger engagierter Mitglieder zusammenzuhalten.
Mit Rosel Werl verliert die Opfer-Szene der DDR/SED-Diktatur einen weiteren wichtigen Menschen in dem noch nicht beendeten Kampf um Anerkennung und Rehabilitierung erlittener Leiden. Mit ihr hat uns eine Unentwegte verlassen, die nie an ihrer persönlichen Verantwortung für Jene gezweifelt hat, die auf die Vertretung ihrer Interessen gegenüber den Institutionen mangels eigener Möglichkeiten angewiesen waren.
Wir haben Rosel Werl um 2008 als eine engagierte, wenn auch stets bescheiden auftretende Frau kennen und schätzen gelernt. Wir werden sie nicht vergessen.
V.i.S.d.P.: Redaktion Hoheneck, Berlin – Mobil: 176-48061953 (1.444)
Berlin, 30.07.2019/cw – Im Zusammenhang mit der Aktion zum 30.Jahrestag der „Lebendigen Brücke“ am Checkpoint Charlie (12.08.2019, 11:00 Uhr) erreichten mich zahlreiche Anfragen über meinen Weg zum gewaltlosen Widerstand gegen die Mauer. Bis zum 12. August werde ich an dieser Stelle Stationen auf diesem Weg und aus dem Kampf gegen die Berliner Mauer schildern. (2 – Teil 1 siehe 29.07.2019).
Von Carl-Wolfgang Holzapfel
Die JUNGE UNION Berlin hatte zu einem Protestmarsch gegen die Berliner Mauer aufgerufen. Es war die erste Demonstration gegen die Mauer, an der ich teilnahm. Ich war in Hamburg Mitglied der JU geworden und freute mich, dass die JUNGE UNION in Berlin Flagge zeigen wollte.
Wir sammelten uns in den Abendstunden des – nach meiner Erinnerung – 22.November 1961 am Ernst-Reuter-Platz. Es waren erstaunlich viele junge Menschen erschienen. Pünktlich setzte sich der Zug in Bewegung. Erstaunlicherweise aber nicht zum Brandenburger Tor sondern in Richtung Theodor-Heuss-Platz. Schon bald fing ich an, gegen diese Zielrichtung laut zu mosern: „Wir demonstrieren gegen die Mauer – warum marschieren wir dann nicht an die Mauer?“
Protest: „Halten Sie den Mund!“
Einem Ordner wurde das wohl zu viel. Er herrschte mich ziemlich rüde an, ich solle meinen Mund halten. Frage zurück: „Sind wir schon in Ost-Berlin? Ich dachte, hier könnten wir unsere Meinung kund tun?“ Nachdem Zustimmung laut wurde, bat mich der Ordner, wenigstes etwas leiser zu sein.
Am Theodor-Heuss-Platz, dem früheren Reichskanzlerplatz angekommen, begann an der „Flamme der Einheit“ die Kundgebung. Dort war nach dem 17. Juni 1953 ein Block mit der Inschrift „Einigkeit, Recht, Freiheit“ aufgestellt worden. Aus einer Schale loderte eine Flamme, die so lange brennen sollte, bis die Einheit in Frieden und Freiheit wiederhergestellt sein würde.
Nach dem Vorsitzenden der Jungen Union sprach der Sonderbeauftragte des Bundeskanzlers in Berlin und frühere Minister für Gesamtdeutsche Fragen, der hoch angesehen Ernst Lemmer, mit aufrüttelnden Worten zu den ca. 2.000 Anwesenden. Doch nach dem Absingen der Nationalhymne und dem offiziellen Ende der Demonstration blieben die Demonstranten stehen, als warteten sie auf etwas.
Wir gerieten in unserem Kreis in eine kurze Diskussion, wobei ich wieder monierte, dass diese Kundgebung in der Bernauer Straße oder vor dem Brandenburger Tot hätte stattfinden sollen. Ein junges Mädchen, später stellte sich heraus, dass diese eine frühere Schulkameradin von mir in der Droste-Hülshoff-Schule in Zehlendorf war, erklärte uns, wir müssten etwas tun, sonst würde niemand reagieren. „Was denn?“ fragte ich. „Na, wir könnten rufen: An die Mauer!“ erwiderte sie. An den Familiennamen kann ich mich heute noch erinnern, Schwennicke, leider nicht mehr an ihren Vornamen. Franziska?
„An die Mauer! Die Mauer!“
Also riefen wir im zunächst kleinen Chor: „An die Mauer – an die Mauer!“ Gleich einer Welle pflanzte sich der Ruf fort. Zweitausend Menschen riefen: „An die Mauer!“, aber keiner bewegte sich. „Wenn wir nicht losgehen, tut sich nichts,“ sagte Franziska. So machten wir uns auf den Weg zurück in Richtung Ernst-Reuter-Platz. Und tatsächlich folgten die meisten Teilnehmer. Es war mit 17 Jahren meine erste Lehrstunde in Sachen Gruppendynamik.
Wir waren erst wenige hundert Meter gelaufen, als die ersten blauen Lichter von Polizeifahrzeugen auftauchten. Lautsprecher tönten: „Diese Kundegebung ist nicht erlaubt. Bitte, gehen Sie nach Hause. Lösen Sie diese Demonstration sofort auf!“ Natürlich taten wir das nicht. Nur vereinzelt bemerkten wir Jugendliche, die die Fahrbahn verließen.

Wer über die Mauer wollte, riskierte sein Leben oder wurde zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt. Auf dem Foto das berüchtigte DDR-Frauenzuchthaus Hoheneck – Foto: LyrAg
Am Ernst-Reuter-Platz angekommen, wurden wir von einem Aufgebot der Polizei empfangen. Die Straße des 17. Juni war offensichtlich mit Polizeifahrzeugen abgesperrt. Spontan ließen wir uns auf der Fahrbahn rund um den Platz nieder: Sitzstreik! Wir skandierten: „Die Mauer muß weg“ und „Auf zur Mauer.“ Wieder erfolgten Lautsprecherdurchsagen, die „ungenehmigte Demonstration“ aufzulösen, was zunehmend auf höhnisches Gelächter stieß.
Nach etwa einer Stunde erfolgte die nicht nur mich tief erschütternde Antwort: „Knüppel frei!“ Erstmals schlugen Westberliner Polizeibeamte auf jugendliche Demonstranten ein, die mit einem Sitzstreik gegen die Berliner Mauer protestieren wollten. Wir sprangen auf, um der Knüppel-Orgie zu entgehen. Wenige riefen sich zu: „Bahnhof Zoo!“
Brutaler Knüppel-Einsatz
Als ich am Bahnhof Zoo ankam, bemerkte ich ein Pärchen in heftiger Diskussion. Hinter dem jungen Mann näherte sich ein Polizist. Kurz hinter diesem angekommen, holte der Polizist aus und schlug mit einem Gummi-Knüppel auf den Debattierenden ein, der sofort zu Boden ging. Erschrocken suchte ich das Weite, nachdem ich mich mit einigen Wenigen verständigt hatte, uns an der Kochstraße nahe dem Checkpoint Charlie, also an der Mauer, treffen zu wollen.
Gerade hatte ich die U-Bahn an der Kochstraße verlassen, hatten wir kaum Zeit, uns zum Zwecke einer Demonstration zu verabreden. Mit aufheulendem Motor nahten mehrere HANOMAG-Mannschaftswagen der Polizei. Diese bremsten ab, die Klappen fieln herunter und eine „wilde Meute“ Uniformierter sprang von den Ladeflächen und knüppelte auf vermeintliche oder tatsächliche Demonstranten ein.
Nachdem ich dieser Szenerie gegen Mauerdemonstranten entflohen war, setzte ich mich Tage später hin, um Anzeige gegen die beteiligten Beamten zu erstatten. Vor allem beschrieb ich auch die erlebte Szene am Bahnhof Zoo, die ich für völlig ungerechtfertigt hielt. Diese Anzeige gab ich auch der Presse zur Kenntnis, die teilweise darüber berichtete. Die um einige Monate verzögerte Amtsübergabe im Amt des Polizeipräsidenten führte ich auf die der Anzeige folgenden angekündigten Untersuchungen der Vorfälle zurück, denn der damalige Einsatzleiter Erich Duensing (* 1905 † 9.05.1982) sollte Nachfolger von Johannes Stumm (*1897 † 1978) werden.
Auch rückblickend blieb dieser brutale Einsatz gegen Protestler gegen die Mauer für mich schockierend. Erstmals registrierte ich real den Unterschied zwischen großen Worte der Politik und den tatsächlichen Gegebenheiten.
-Wird fortgesetzt-
V.i.S.d.P.: Redaktion Hoheneck, Berlin – Mobil: 0176-48061953 (1.443)
Berlin, 29.07.2019/cw – Im Zusammenhang mit der Aktion zum 30.Jahrestag der „Lebendigen Brücke“ am Checkpoint Charlie (12.08.2019, 11:00 Uhr) erreichten mich zahlreiche Anfragen über meinen Weg zum gewaltlosen Widerstand gegen die Mauer. Bis zum 12. August werde ich an dieser Stelle Stationen auf diesem Weg und aus dem Kampf gegen die Berliner Mauer schildern (1).
Von Carl-Wolfgang Holzapfel
Der 13. August 1961
Damals ging ich noch jeden Sonntag in die Kirche. Als ich nach dem Gottesdienst zurück in das Lehrlingsheim in Hamburg kam, berichteten mir meine zwei Zimmergenossen aufgeregt über Berichte im Radio, nach denen Berlin in der vergangenen Nacht abgeriegelt worden sei. In der Folge kam ich nicht mehr vom Radio weg. Halbstündlich wurde aus Berlin berichtet. Bewaffnete Organe des „Pankower Regimes“ hatten West-Berlin abgeriegelt, Straßen gesperrt, aufgerissen und mit Stacheldrahtrollen unpassierbar gemacht. S- und U-Bahnen waren auf den Strecken, die über Ost-Berlin führten, unterbrochen.
Natürlich war ich aufgewühlt: Meine Eltern, meine Geschwister waren in Berlin, wenn auch im Westteil der Stadt. Was aber, wenn ich diese auf unabsehbare Zeit nicht mehr wiedersehen könnte? Zugegeben, diese profanen Gedanken standen zunächst im Vordergrund aller Überlegungen eines Siebzehnjährigen, der gerade nach einem schweren Unfall zum 1. August seine Lehrstelle in Hamburg (Gebrüder I.B.Wulff) als Einzelhandelskaufmann angetreten hatte.

Auf dem „Kattendorfer Hof“ bei Kaltenkrichen mußten Jugendliche bis zu 14 Stunden am Tag arbeiten – Foto: LyrAg
Zuvor war ich in einer kirchlichen Heimeinrichtung auf dem Land untergebracht gewesen. Dort mussten wir bis zu 14 Stunden täglich in der Landwirtschaft arbeiten. Dafür erhielten wir monatlich 5 DM, wovon wir uns Zahnpasta und Seife selbst kaufen mussten. Aber das ist ein anderes Kapitel.
Genau an dem Tag, als ich endlich dieser Fron durch einen Lehrlingsvertrag entweichen konnte, rutschte ich bei meinem Abschiedsrundgang bei meinen bisherigen Heimgenossen im Pferdestall aus und erlitt einen komplizierten dreifachen Bruch im linken Fußgelenk. Ärztliche Nothilfe? Fachgerechte erste Behandlung? Das funktionierte nicht. In einem klapprigen VW-Käfer wurde ich, vor Schmerzen wimmernd auf dem Rücksitz liegend, eine halbe Stunde später in das ca. 30 km entfernte Kreiskrankenhaus gefahren. In einer sofortigen OP wurde mein Fußgelenk wieder eingerenkt und der Fuß bis zum Knie eingegipst. Nageln oder schrauben, das kannte man offensichtlich 1961 noch nicht, die Folgen spüre ich noch heute.
Der Lehrherr war äußerst sozial. Obwohl ich noch keinen Tag gearbeitet hatte, setzte er den Lehrvertrag fort und zahlte vom ersten Monat an mein Lehrgeld in Höhe von 80 DM. Drei Monate brachte ich im Krankenhaus zu, nach einem weiteren Monat wurde der Gips entfernt…
Ende August erhielt ich mein Lehrgeld. Statt am Abend in das Lehrlingsheim rückzukehren, fuhr ich zum Hamburger Hauptbahnhof und löste eine Fahrkarte nach Berlin. Inzwischen waren bereits mehrere Menschen bei dem Versuch, durch die Absperrungen nach West-Berlin zu gelangen, ums Leben gekommen. Die Lage spitzte sich aus meiner Sicht beunruhigend zu. An dieser Einschätzung konnte weder der spontan inszenierte Besuch des amerikanischen Vizepräsidenten Johnson wie die hilflos wirkenden Aktionen des von mir bis dahin tief verehrten Konrad Adenauers etwas ändern.
In Berlin angekommen, stieg ich am Bahnhof Zoo in ein Taxi: „Bernauer Straße“ sagte ich nur. Diese Straße im Norden Berlins, im sogen. Arbeiterbezirk Wedding, war inzwischen weltweit als „Straße der Tränen“ zu trauriger Berühmtheit gelangt. Das lag auch an der örtlichen Situation: Die Häuser entlang der Bernauer Straße lagen im Sowjetsektor, die davor liegende Straße befand sich im Französischen Sektor. Einige Bewohner nutzten diese Gegebenheit und sprangen aus den Fenstern ihrer Wohnungen buchstäblich in die Freiheit – oder in den Tod.
Vor der eingemauerten Versöhnungskirche
In der Bernauer Straße angekommen, stand ich alsbald fassungslos vor der inzwischen eingemauerten Versöhnungskirche. Die überlebensgroße Christusfigur über dem Eingang breitete wie Schlimmes ahnend ihre Arme segnend über den nunmehrigen Todesstreifen aus. Dieses eindrückliche Bild habe ich und werde ich nie vergessen. Weinend, hilf- und ratlos stand ich vor dieser Kirche. Was hatte man uns nach dem Krieg in den Schulen vermittelt? Mit dem Ende des Krieges und der nationalsozialistischen Diktatur wäre das Unrecht ausgerottet worden, gäbe es keine Menschenrechtsverstöße mehr, die Zeit des Friedens zwischen den einst verfeindeten Völkern wäre angebrochen.
Und jetzt zog man eine Mauer quer durch die ohnehin gequälte, weil geteilte Hauptstadt, bedrohte und tötete sogar Menschen, die von einem Teil der Stadt in den anderen wollten. Und die Welt schaute offensichtlich zu, nahm diese Ungeheuerlichkeit hin, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben?
Gedanken eines Jugendlichen, der noch vier Jahre von seiner Volljährigkeit entfernt war und sich ob seiner Situation – eigenmächtiges Verlassen einer Heimeinrichtung – selbst als hilflos empfand. Aber damals brandete ein ungeheurer Wille in mir auf und ich legte vor der Versöhnungskirche diesen Schwur ab: Nicht zu ruhen und zu rasten, bis dieses Schandwerk, die Deutschland zerreißende Mauer, gefallen oder mein Leben vorher beendet sein würde.
Wie und auf welchen Wegen dieser Kampf stattfinden sollte, wußte ich in diesem Augenblick in der Bernauer Straße nicht. Der Schwur in dieser Straße und in diesem Moment war mir wichtig, alles andere würde sich finden.
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V.i.S.d.P.: Redaktion Hoheneck, Berlin – Mobil: 0176-48061953 (1.442)
Petersburg/Berlin, 25.07.2019/cw – Erneut wurde in Russland eine Bürgerrechtlerin unter dubiosen Umständen tot aufgefunden. Jelena Grigorjewa war 41 Jahre alt und wohnte in Sankt Petersburg. Die Leiche wurde am vergangenen Sonntagabend in Büschen in dem Petersburger Viertel gefunden, in dem sie wohnte. Ihr Körper soll acht Stichwunden und Würgemale aufweisen.
Menschenrechtler beklagen brutale Übergriffe
Jelena Grigorjewa war 41 Jahre alt und wohnte in Sankt Petersburg. Die Aktivistin setzte sich besonders für benachteiligte oder verfolgte Menschengruppen ein, die es besonders im heutigen Russland schwer haben: für Homo-, Bi- und Transsexuelle (LGBT), aber auch für die Krimtataren, eine Minderheit auf der ukrainischen Halbinsel Krim, die von Moskau verfolgt wird. Ihre Fürsprache galt auch den Fernfahrern, die gegen eine Maut protestieren. Zuletzt setzte sie sich für die Schwestern Chatschaturjan ein, drei junge Moskauerinnen, die ihren Vater töteten, weil er sie missbraucht hatte.
Menschenrechtler beklagen schon länger brutale Übergriffe auf Homosexuelle in Russland, die oft folgenlos blieben. Positive Äußerungen über Homosexuelle in Anwesenheit von Minderjährigen stehen als „Propaganda“ unter Strafe. Internationalen Protest gab es nicht nur gegen diese Praxis sondern auch gegen eine Folter- und Mordkampagne in der Republik Tschetschenien gegen Homosexuelle. Zwei Tage vor ihrer Ermordung veröffentlichte Grigorjewa auf Facebook eine Anleitung dazu, wie man sich verhalten solle, wenn man ins Visier von „Säge gegen LGBT“ lande. Die anonyme Gruppe führt laut Medienberichten eine Liste und droht den Leuten auf dieser Liste mit „grausamen Geschenkchen“.
Grigorjewa galt demnach seit dem 1. Juli als Ziel. Jelena Grigorjewa blieb im Gegensatz zu vielen Betroffenen, die Zuflucht im Westen suchten, in Russland. Sie wollte „vor Ort“ protestieren und für die Rechte verfolgter Menschen protestieren.
Grigorjewa mit dem Tode bedroht
Der Rechtschützer Dinar Idrissow schrieb auf Facebook, Grigorjewa sei in jüngster Zeit „Opfer von Gewalt geworden, sie wurde mehrfach mit dem Tod bedroht“. Sie habe sich an die Rechtschutzstellen gewandt, „aber eine sichtbare Reaktion der Polizei gab es nicht“. Die Petersburger Innenbehörde teilte mit, Grigorjewa habe zwar über Drohungen informiert, diese hätten sich aber nicht gegen ihr Leben gerichtet.

Macht heute mit diesem selbstgefertigten Plakat auf Jelena aufmerksam: Ronald Wendling – Foto:
LyrAg/RoW
Demo vor Russischer Botschaft
„Fontanka.ru“ berichtet, man habe Grigorjewa kurz vor ihrem Tod in Gesellschaft ihrer Freundin und von vier Männern gesehen. Die Runde habe Alkohol auf einer Bank konsumiert. Ein 40 Jahre alter Mann, dessen Spur durch einen Polizeihund gefunden wurde, gelte zwar als Mitglied dieser Gruppe, wurde bisher aber nicht verdächtigt. Die Ermittlungen würden auch dadurch erschwert, dass die Leiche Grigorjewas erst zwölf bis 16 Stunden nach der Tat entdeckt wurde. Die Tat sei nach derzeitigem Ermittlungsstand am vergangenen Sonntag zwischen ein und fünf Uhr verübt worden.
Ronald Wendling, Berliner Menschenrechtsaktivist, wird heute (Donnerstag, 25.Juli) während seiner wöchentlichen Mahnwache für die politische Gefangenen in Russland vor der Russischen Botschaft (Unter den Linden) in Berlin besonders auf den ungeklärten Tod von Jelena Grigorjewa hinweisen (13:00 – 16:00 Uhr).
V.i.S.d.P.: Redaktion Hoheneck, Berlin – Mobil: 0176-48061953 (1.441).
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