Von Carl-Wolfgang Holzapfel*

Berlin, 23.Mai 2019 – Mein Vater, stets zu Scherzen aufgelegt, pflegte des Öfteren vom „Grunzgesetz“ zu sprechen, wenn wir über die Verfassung unserer (damaligen) Rumpfrepublik sprachen. Befragt, ob dieser so wirkenden Gleichsetzung mit einer Schweinerei, erläuterte er dem politisch interessierten Sohnemann: Wir verstehen das Grunzen der Schweine auch nicht. Die haben eine ihnen eigene „Sprache“ entwickelt. So gehe es ihm mit dem Grundgesetz, das zwar vielfach klar didaktisch formuliert sei, dennoch aber in seiner Anwendung in der politischen Praxis der jeweiligen politischen Strömung ausgeliefert sei, also recht willkürlich interpretiert werde. Grund- und Grunzgesetz passe ihm überdies phonetisch gut zusammen. Mein Vater war Dichter und hinterließ über 10.000 lyrische Werke.

Mein Vater, in den Sturm- und Drangjahren ausgerechnet im Dritten Reich aufgewachsen, wo ihm aufgrund seiner (bis ins hohe Alter) gepflegten Widerspruchsneigung im Ergebnis 1940 die Fortsetzung seines Germanistik- und Zeitungswissenschaftsstudiums (Prof. Dr. Emil Dovifat, 1890–1969) verboten wurde, wurde einer meiner wichtigsten Lehrväter in Sachen Demokratie und der ihr innewohnenden Grundeigen-schaft kritischer Distanz.

Der Bundestag dient „DEM DEUTSCHEN VOLKE“, warum keine Volksabstimmung über die Verfassung? – Foto: LyrAg/RH

Krönung der Einheit: Annahme der Verfassung

So konnte er zwar nachvollziehen, dass in den Wirren der Nachkriegsjahre ein Grundgesetz verabschiedet wurde, dass den Charakter einer Verordnung trug. Was er und ich – besonders nach 1989 bzw. der Vereinigung der Sektorenstaaten zu einem Deutschland nicht verstand: Warum wurde dieses Grundgesetz nicht gewissermaßen als „Krönung der Einheit“ dem nunmehr geeinten Volk zur Abstimmung über eine gemeinsame Verfassung vorgelegt? Hat das Misstrauen gegen das Volk, entstanden nach dem Urknall von 1933, noch immer seinen Platz in den Gedanken der für dieses Deutschland verantwortlichen Politiker und Parteien? Warum dann aber der allgemeine Lobgesang auf die „Quasi-Verfassung“, die dem Volk alle Rechte garantiere? Ist darum also eine Volksabstimmung, besser eine Annahme der Verfassung, durch das Volk überflüssig?

Bleibt eine wichtige von vielen Fragen, warum wir dann überhaupt noch Wahlen durchführen? Ist das heutige Deutschland nicht der beste und freieste Staat, den wir Deutschen je in unserer abwechslungsreichen Geschichte hatten? Warum sollen wir uns dann noch die ständig wiederkehrende Qual der Wahl antun? Genau damit wird doch die bisher fehlende Abstimmung über die eigene Verfassung begründet: Das Grundgesetz ist so gut und darum von allen akzeptiert, dass es keiner gesonderten Abstimmung mehr bedarf. Basta, würde der einstige Bundeskanzler Gerhard Schröder anfügen.

Misstrauen gegen das eigene Volk?

Vielleicht liegt das offensichtliche Misstrauen gegen das eigene Volk, das so gar nicht zu unserem hochgelobten Grundgesetz passt, aber in ganz anderen Sorgen begründet? Greifen wir ein Beispiel heraus, weil hier nicht der richtige Ort und auch nicht der notwendige Zeilenplatz zur Verfügung steht, das ganze Grundgesetz inhaltlich zu sezieren:
In seinen herausragenden Grundrechtsartikeln, die so kompakt ihresgleichen in der Verfassungswirklich-keit anderer Nationen nicht zu finden sein dürften, heißt es in Artikel 3 klar und unmissverständlich:

„(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“

Kreuze nahe dem Bundestag mahnen an vergangenes Unrecht. Sie sind Auftrag und Verpflichtung im Sinne des Grundgesetzes – Foto: LyrAg/RH

Greifen wir uns anschaulich einen Satz aus dem Absatz 3 heraus: „Niemand darf wegen … seiner … politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Die Wirklichkeit in unserem „freiesten Staat, den wir je hatten“ sieht allerdings anders aus. Im politischen Alltag wird die (nicht mehr ganz) neue Partei „Alternative für Deutschland (AfD)“ in einem demokratisch nicht mehr akzeptablen Ausmaß ausgegrenzt, verleumdet und diffamiert. Auf Einzelheiten kann hier verzichtet werden. Von der Gleichsetzung mit den größten Verbechern in der Deutschen Geschichte („Nazis“ etc.) bis hin zur Verweigerung eines Vizepräsidentenpostens im Deutschen Bundestag reicht die Phalanx politischer Diskreditierung. Mit dem Artikel 3 des heute zum 70. Jahrestag gefeierten Grundgesetzes vereinbar?

Unruhe stiftende Unterscheidung

Die Sonne geht jeden Tag auf, auch wenn wir die Dunkelheit beschwören. Diese Gewissheit sollte uns stärken und nicht schwächen – Foto: LyrAg

Die Einbindung der ehemaligen SED als nunmehr DIE LINKE im demokratischen Gemeinwesen wird dagegen, nur dreißig Jahre nach dem Ende der SED-Diktatur, als demokratisch legitim akzeptiert. Zugegeben, ich habe bereits mit 17 Jahren in nächtlichen Diskursen mit Kommunisten (z.B. auf dem Kurfürstendamm) die Meinung vertreten, wenn diese demokratisch legitimiert, also durch freie Wahlen in die Parlamente gelangen würden, müssten wir dies als Demokraten akzeptieren. Dazu stehe ich auch heute, obwohl selbst einst Opfer der Diktatur. Was mich stört, ist die Unruhe stiftende Unterscheidung: Kommunisten, Ex-Kommunisten oder eben auch nur LINKE werden im demokratischen Spektrum akzeptiert, man setzt sich mit diesen allenfalls (und notwendig) auf der politischen Ebene in demokratisch gebotener Einhaltung von Umgangsregeln auseinander. Bei der AfD, die nach altem parlamentarischen Brauch (ehedem Sitzordnung im Reichstag) „rechts“ eingeordnet wird, wobei die heutige Sprachregelung dies grundsätzlich mit „Nazis“ oder „Neo-Nazis“ gleichsetzt, werden diese demokratischen Grundgesetzregeln (Art.3) Außerkraft gesetzt.

Das verstehe ich nicht, das akzeptiere ich nicht. Genauso wenig, wie ich blinden Hass gegen Politiker der LINKEN akzeptiere, nur weil diese einer Partei angehören, die im Ursprung für die zweite deutsche Diktatur verantwortlich zeichnet. Denn wir haben – Gott sei Dank! – ein Grundgesetz für unser demokratisches Gemeinwesen. Auch wenn dieses so seine Macken hat, wie die noch immer fehlende Abstimmung durch das Volk. Aber Demokratie ist eben das einzige Instrument, um mit Kritik, Debatten und einer Portion Veränderungswillen und Veränderungsbereitschaft auch das zu ändern.
Diese Veränderung werde ich (75) noch erleben, davon bin ich überzeugt. Genauso wie ich von der Korrektur des unseligen 3. Oktober als Feiertag zugunsten eines 9. November als Nationalen Gedenktag überzeugt bin. Das Grundgesetz erlaubt mir diese Gedanken. Und darum teile ich trotz einiger Wenn und Aber die heutige Feierstimmung.

Das Grundgesetz – einst unsere durch das Volk angenommene Verfassung – es lebe hoch! DANK den Müttern und Vätern unserer Demokratie.

* Der Autor war gewaltloser Kämpfer gegen die Berliner Mauer und versteht sich als Bürgerrechtler.

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