Eine Nachbetrachtung zum Evangelischen Kirchentag

von Margreet Krikowski*

BVB-Fans haben an einem einzigen Tag am Gedenkort hinter der Gedächtniskirche für die zwölf Opfer des islamistischen Anschlags vom 19. Dezember 2016 mehr Anteilnahme gezeigt als der gesamte Kirchentag an seinen vier Tagen in Berlin. Auf einem der vielen am Gedenkort abgelegten Fanschals steht der Titel der BVB Hymne „You’ll never walk alone“. Auch der Bund der muslimischen Pfadfinder und Pfadfinderinnen Deutschlands legte einen Kranz ab. Nur nach einem Kranz, Schal oder sonst irgendeinem Zeichen der öffentlichen Anteilnahme vom Kirchentag, der in diesem Jahr unter dem Motto „Du siehst mich“ stand, sucht man vergeblich.

Teilten die Trauer: BVB-Fans – Foto: Krikowski

Ich habe am Kirchentag nicht teilgenommen, habe somit auch keine Bibelauslegung zum Thema gehört, kann mir aber vorstellen, dass sie sehr tröstlich war. „Du siehst mich“. Der Beter sucht Gott und findet die Gewissheit, von Ihm gesehen zu werden. „Du siehst mich“ eröffnet je nach Betonung ganz unterschiedliche Seelenräume. In der Wüste weiß sich Hagar von Gott gesehen. Auf die heutige Zeit bezogen glaube ich, dass Gott – quasi über Bande – auch Raif Badawi, Oleg Senstov, Liu Xiaobo und Deniz Yücel sieht, die hier stellvertretend genannt sind für die unzähligen eingesperrten Widerstandskämpfer gegen Unfreiheit und Unrecht in vielen Teilen der Welt.

„Du siehst mich“. Groß prangt diese Schrift auf dem in Oranje gehüllten Glockenturm der Berliner Gedächtniskirche. Und so bekommt dieses Motto eine ganz eigentümliche Wendung. Plötzlich wirkt es kokett und selbstverliebt. Du – Berliner, Tourist, Kirchentagsbesucher, Fußballfan – siehst mich, die Kirche; du kannst nicht umhin, mich sehen zu müssen. Tatsächlich fällt der Turm zwischen all den anderen Hochhäusern auf. Von überall sieht man den Turm. Von überall? Nein. Im toten Winkel, an der Nordseite der Gedächtniskirche, sieht man den Turm nicht. Und die Kirche sieht wohl auch diese Gedenkstätte nicht. Oder wie sonst ist zu erklären, dass während der vier Kirchentage kein Vertreter des Deutschen Evangelischen Kirchentages, kein Vertreter der Evangelischen Kirche auf eine Gedenkminute vorbeigekommen ist. Vielleicht scheint Ihnen das Gedenken an die Opfer des ISLAMISTISCHEN Anschlags auch nicht opportun.

Selbstauferlegte Denkverbote?

Die Anschläge dschihadistischer oder salafistischer Muslime verbreiten zunehmend Angst und Schrecken in Deutschland, in Europa, weltweit. Obwohl Minister nach jedem Anschlag verkünden, dass wir uns nicht einschüchtern lassen, haben Journalisten, Polizei und Bevölkerung schon längst auf die Anschläge reagiert. Journalisten, indem sie Kritik am Islam tunlichst vermeiden. Die Polizei, indem sie mit extra Vorkehrungen und erhöhtem Polizeiaufgebot Großveranstaltungen, wie den Kirchentag, zu schützen versucht – dank massivem Polizeiaufgebot, Poller und strengen Taschenkontrollen ist auch der diesjährige Kirchentag ohne Anschläge geblieben. Die Bevölkerung, zumal die Frauen, indem sie ihre Kleidung anpassen und vermehrt den öffentlichen Raum meiden. Die selbstauferlegten Denkverbote, die Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit müssten jedem auffallen.

Hat der Anschlag am Breitscheidplatz, hat der Anschlag in Manchester, haben die vielen Anschläge auf die Kopten etwas mit dem Islam zu tun? Ja. All diese und unzählige andere Anschläge haben sehr wohl mit dem Islam zu tun. Aber offensichtlich möchte die Evangelische Kirche selbst im Lutherjahr doch nicht so genau hinsehen und die vielen terroristischen Strömungen im Islam, seien sie sunnitischer oder schiitischer Prägung, beim Namen nennen. Sie sieht eine Bedrohung für Demokratie und Freiheit vorwiegend von Rechtspopulisten ausgehen. Obwohl sie in christlicher Religionskritik geübt sind, sehen die Kirchenrepräsentanten weg, wenn es um die Gewaltfrage im Islam geht, der sowohl eine Religion als auch ein politisches, totalitäres Herrschaftssystem ist. Luther hatte Mut, die Missstände seiner Zeit anzuprangern. Die Evangelische Kirche dagegen schwimmt mit dem Mainstream und schimpft andere populistisch, die grundlegende (Religions-)Kritik am Islam üben. Manch einer kanzelt Kritik am Islam gar als psychische Erkrankung (Islamo-Phobie) ab.

Selbst der Bund muslimischer Pfadfinder sah die Opfer, der Kirchentag übte sich in Ignoranz –   Foto: Krikowski

Eine verkannte Gefahr kann nicht gebannt werden

Wenn die Gefahr islamistischer Gewalt aber nicht erkannt wird, kann sie auch nicht gebannt werden. Eine zentrale Gedenkminute für die vielen Opfer islamistischer Terroranschläge beim Kirchentag wäre auch deshalb angebracht gewesen, auch als Zeichen der Verbundenheit mit den verfolgten christlichen Glaubensbrüdern und -schwestern in der gesamten arabischen Welt.

Israel gedachte des neulich schweren Terroranschlags auf die koptischen Christen in Ägypten. Ein jüdischer Staat der täglich (!) islamistischem Terror ausgesetzt ist, findet die Kraft, sich mit koptischen Christen solidarisch zu erklären. Meine Kirchentagsleitung hat es nicht einmal für nötig befunden, einen Kranz oder ein anderes Zeichen der Anteilnahme für die 12 Opfer des islamistischen Terroranschlags an der Gedächtniskirche abzulegen.

Wenn die Repräsentanten am Gedenkort an der Gedächtniskirche gewesen wären, hätten sie die Namen der 12 Ermordeten auf  Kerzen lesen können.

Jörg Zink schreibt: „Der Name eines Geliebten, wenn ein Liebender ihn ausspricht, ist ja mehr als nur eben dieser Name, er ist wie eine Hand, in der der geliebte Mensch ruht, wie ein Schutz, in dem Liebe und Leid bewahrt sind. Ein Name wird ausgesprochen und der Verlaufene findet heim“. Eben – du siehst mich.

Erinnerung braucht Namen und Gesichter. Nur so können wir die Opfer dem Vergessen entreißen und ins nationale Gedächtnis rufen.

Und so benenne ich die Namen der Opfer des islamistischen Terroranschlags vom 19. Dezember 2016:

Łukasz Urban (37, Polen)

Fabrizia di Lorenzo  (31, Italien)

Angelika Klösters (65, Deutschland)

Sebastian Berlin (32, Deutschland)

Anna Bagratuni (44, Deutschland)

Gregoriy Bagratuni (44, Ukraine)

Naďa Čizmarová  (34, Tschechien)

Dalia Elyakim  (60, Israel)

Dorit Krebs (53, Deutschland)

Peter Volker (72, Deutschland)

Klaus Jacob (65, Deutschland)

Der Name des 12. Opfers (40, Deutschland) ist der Gedächtniskirche bekannt.

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* Die Autorin hat den vorstehenden Text als Offenen Brief an folgende Repräsentanten des Evangelischen Kirchentages gerichtet: Frau Professor Dr. Christina Aus der Au (*1966, Luzern), Präsidentin des Kirchentages; Herrn Professor Dr. Heinrich Bedford-Strohm (*1960 Memmingen), Landesbischof der Evangelischen Kirche Bayern und Ratsvorsitzender der EKD; Herrn Dr. Markus Dröge (*1954, Washington D.C.), Landesbischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und Herrn Martin Germer (*1956 Würzburg), Pfarrer an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Bis zum 4.Juni 2017 lagen der Autorin weder Antworten noch Stellungnahmen vor.

V.i.S.d.P.: Die Autorin und Redaktion Hoheneck, Berlin – Tel.: 030-30207785 (1.252).