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München /Berlin, 25.02.2017/cw – Am 22. Februar stand wieder einmal eine hochinteressante Doku auf dem Programm des bayerischen ARD-Ablegers: „Deutsche Justiz – Wie gefährdet ist unser Recht?“, 22:00 Uhr, BR Fernsehen, 44 Min. Thomas Hauswald und Claudia Erl gehen der Frage nach, warum auch in Deutschland immer wieder Unschuldige oft lebenslang im Gefängnis sitzen und wie so etwas in einem Rechtssystem wie dem unseren heute überhaupt noch passieren kann?

„In der Paragraphenwelt der Justiz spielt der menschliche Faktor eine Rolle. Doch wie groß ist er? Und wie sehr bemüht sich die Politik, diesen möglichst klein zu halten?“ fragen die Autoren. Akribisch und in dieser Zusammenfassung beeindruckend werden die unterschiedlichsten Faktoren nicht nur aufgezählt, sondern auch aktuell durch prominente Interviewpartner begründet.

Unabhängige Gerichtsmedizin?

Einen wichtigen Faktor zum Beispiel bei der Beurteilung ungeklärter Todesfälle stellt die Gerichtsmedizin dar. Doch ist diese unabhängig bei der Erstellung von Gutachten? Immerhin sind deren Hauptauftraggeber für Obduktionen Gerichte und Staatsanwälte. Eine Studie der LMU München kommt zu dem Ergebnis, dass die Hälfte der Gutachter existenziell von diesen Aufträgen abhängt und immerhin rund ein viertel dieser Gutachter schon vorab Hinweise bekommt, welche Ergebnisse „erwünscht“ sind. (Anmerkung: Opfer der Zweiten Deutschen Diktatur ist diese Praxis bei der Begutachtung möglicher Haftfolgeschäden nur zu gut bekannt.)

Gerichte in Deutschland: Mit der angestrebten Gerechtigkeit überfordert? Bild: Das OLG Brandenburg - Foto: LyrAg

Gerichte in Deutschland: Mit der angestrebten Gerechtigkeit überfordert? Bild: Das OLG Brandenburg – Foto: LyrAg

Zwar wird einem Verdächtigen in unserem Rechtsstaat die Möglichkeit eingeräumt, sich jeweils ausführlich – zum Beispiel in den polizeilichen Vernehmungen – zu vorgehaltenen Vorwürfen zu äußern, doch beim Verhör durch die Polizei werden keine Tonaufnahmen gemacht. Nur das polizeiliche Protokoll, verfasst von den vernehmenden Beamten, ist die Basis für die Arbeit der Haftrichter. Die fehlende Tonbandaufnahme von Vernehmungen sei nach jetziger Rechtslage „eine einzige Katastrophe“, sagt dazu der Strafverteidiger Ulrich Sommer:

Die Tonaufnahme von Zeugenprotokollen bei der Polizei würde ein ganz entscheidender Schritt sein, um eine gedankliche Disziplinierung bei den Verfahrensbeteiligten zu fördern. Wenn ich … als Polizeibeamter in meinem Zimmerchen … schreiben kann, was ich will…, der Polizeibeamte selber überlegt, was von den Antworten er in sein Protokoll mitaufnimmt. … er eigentlich machen kann, was er will …. Und … diese Freiheit möglicherweise nutzt, … um sein Vorverständnis vielleicht in besonderer Form in dieses Protokoll einfließen zu lassen, liegt (das) doch auf der Hand. Das würde jeder von uns machen.

Sind die Richter unabhängig?

Für den Richter bedeutet die Grundvoraussetzung „In dubio pro reo“ („Im Zweifel für den Angeklagten.“) im Strafprozess, beim jeweiligen Angeklagten „von Null“ auszugehen, um die Wahrheit aufzuspüren. Dazu Sommer:

„ … Mehr und mehr können wir aber heute davon ausgehen, dass in unserer Praxis das genaue Gegenteil davon existiert. Es ist nicht so, dass ein Richter, wenn er einen Angeklagten vor sich sieht, gedanklich davon ausgeht, ich beginne mal bei Null und versuche, die Wahrheit herauszufinden. Gehen Sie davon aus, dass in den allermeisten Fällen der Richter von ganz anderen Dingen ausgeht. Nach dem Motto: Da sitzt jemand, der wird schon der Richtige sein und der Prozess dann nur noch dazu dient, ihn endgültig mit den Mitteln der Justiz zu überführen…“

Eine weitere menschliche Hürde auf dem Weg zum objektiven Urteil sehen die Autoren der Doku in der Tatsache, dass es sich bei den für die Vorinformationen verantwortlichen Staatsanwälten häufig um „Kollegen“ des Richters handelt. Das liege daran, das Juristen in ihrer Laufbahn zwischen Richteramt und Staatsanwaltsamt wechseln, was in Bayern sogar Voraussetzung für einen Beruf in der Justiz ist. Die (vermutliche) Begründung: Es sei eben gut, wenn Staatsanwälte auch die Sicht der Richter kennen und umgekehrt. Man kennt sich also, ist teilweise sogar befreundet. Dabei ist der Strafverteidiger natürlich außen vor.

Oft verhelfen nur breite Proteste empörter Bürger (wie hier im Fall Mollath in Nürnberg) dem Rechtsstaat Geltung - Foto: LyrAg

Oft verschaffen nur breite Proteste empörter Bürger (wie hier im Fall Mollath in Nürnberg) dem Rechtsstaat Geltung – Foto: LyrAg

Gewaltenteilung?                

Aber kann so die Gewaltenteilung funktionieren? Auch der Frage, wie man Richter wird, gehen die Autoren nach: Der Justizminister, der die entscheidende Aufsicht und damit entscheidenden Einfluss hat, ernennt und befördert Richter, auch die Staatsanwälte. Faktisch sind diese Juristen der Politik unterstellt. Das widerspreche jedoch dem Prinzip der Gewaltenteilung. Diese besagt, dass die Staatsgewalten strukturell voneinander getrennt sind. Um die Justiz von diesen politischen Einflüssen zu trennen, empfiehlt der Europarat Deutschland deshalb die Einführung eines unabhängigen Richterrates.

Dr. Udo Hochschild, ehemaliger Richter und Verfasser der Dissertation „Gewaltenteilung als Verfassungsprinzip“ sagt dazu:

Wenn wir in wirtschaftlich oder politisch schwere Zeiten steuern, dann halte ich dieses System für ausgesprochen gefährlich. Und dieses System, das letztlich aus den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts stammt und nie im Prinzip verändert worden ist – das birgt Gefahren. Ich möchte diese Machtfülle nicht in den Händen von unverantwortlichen Politikern sehen.“

Und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), ehemalige Bundesjustizministerin:

Ich bin ausdrücklich dafür, dass jede Form von Einzelanweisung an die Staatsanwaltschaft, die im Gerichtsverfassungsgesetz vorgesehen ist, gestrichen wird. Die Realität ist so, dass davon nur ganz ganz selten Gebrauch gemacht wird. Aber das ist nicht das Entscheidende. Entscheidend ist, wie ist die Stellung des Staatsanwaltes. Und er könnte eben einer Einzelanweisung unterworfen sein. Ich denke, das ist fehl am Platz.“

Fehlende Aufzeichnung, keine Aktenkenntnis

Kritisch wird weiter angemerkt, dass ähnlich wie beim Polizeiverhör auch bei einem Verfahren vor einem Landgericht kein Protokoll geführt werde. Daher könne in einem möglichen Revisionsverfahren ein Urteil nur auf Rechtsfehler überprüft werden – andere mögliche Fehler in der Verhandlung könnten nicht nachvollzogen werden.

Dazu käme die kritikwürdige, weil gängige Praxis in Revisionsverfahren: Dort würden fünf Richter gemeinsam entscheiden, wobei der Vorsitzende die Akten kennt und ein anderer Richter aus der Gruppe sich mit dem Fall genau auseinandergesetzt hat. Dieser „Berichterstatter“ fasst den Fall für seine Kollegen mündlich zusammen. Danach wird das Urteil gefällt. Drei der Richter urteilen also, ohne die Akte jemals selbst angeschaut zu haben. Laut Bundesverfassungsgericht sei das rechtens: Ohne diese Arbeitsteilung wäre das große Arbeitsaufkommen nicht zu bewältigen.

Thomas Fischer, Vorsitzender des 2. Strafsenats vom Bundesgerichtshof in Karlsruhe, dazu:

Jeder weiß, dass man Vorträge ja so und so gestalten kann. Zwar nicht bewusst, sondern im Wesentlichen unbewusst so und so gestalten. Wenn man eine bestimmte Vorstellung davon hat, was am Ende dabei rauskommt, wird man den ganzen Vortrag in der Regel relativ im Hinblick auf dieses Endergebnis hin gestalten. Man wird Sachen weglassen, die dem entgegenstehen. Man wird nicht zwingend jetzt mögliche Probleme aufspießen und Dinge ansprechen, die Zweifel daran aufkommen lassen könnten. Alles das sind psychologische Vorgänge, die man bewusst gar nicht steuern kann.“

Es fehlen: Zeit, Geld und Richter

Die Schlüsselworte sind nach der Doku: Vertrauen, Zeitdruck, Spardruck. Daher würden die ohne Verfahren geschlossenen Vergleiche ansteigen. Das erspare den Gerichten die aufwändige Beweisaufnahme. Und Geld. „Und der Angeklagte spart Strafe“, betont Bundesgerichtshofrichter Thomas Fischer.

Die Gerechtigkeit? Die bleibe dabei häufig auf der Strecke, nicht zuletzt, weil der Nebenkläger – zum Beispiel ein Tatopfer – bei einem Vergleich gar nicht mitreden dürfe. Auch würden Richter, die sich mehr Zeit für die Fälle nähmen, schon mal aus der Chefetage gerügt.

Seit den 80er Jahren stagniert die Anzahl der Richter in Deutschland, obwohl die Zahlen der Verfahren seither steigen. Thomas Fischer:

Wir machen mit denselben Richtern, die 1985 für 60 Millionen zuständig waren,  jetzt die Revisionssachen für 80 Millionen Menschen.“

Wer sich für diese brisante Rechtsmaterie interessiert: Unter http://www.br.de/mediathek/video/deutsche-justiz-wie-gefaehrdet-ist-unser-recht-100.html kann diese gut recherchierte Doku nachträglich angeschaut werden.

V.i.S.d.P.: redaktion.hoheneck@gmail.com – Berlin, Tel.: 030-30207785 (1.226).

 

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