Weihnachten 2016/cw – Montag, 19. Dezember. Auf dem Weg zu einer alten, 90jährigen Freundin. Wir kennen uns seit 53 Jahren. Meine längste Ehe dauerte 18 Jahre. Jetzt braucht sie meine Hilfe, meinen Rat.
Auf dem Weg zu ihr, fast vor der Haustür, wird mir übel. Alles fängt an, sich vor meinen Augen zu drehen. Das Problem: Ich sitze im Pkw, hinter dem Steuer. Mit Mühe gelingt mir das Parken am Straßenrand. Dann geht nichts mehr.
Panik
Vor einem guten Jahr starb mein Bruder. Einfach so. Im Urlaub. Wurde tot in seinem Hotel aufgefunden. Ist das jetzt auch bei mir so weit? Alles dreht sich, Autos, Häuser, Laternen drehen sich immer schneller. Ich fühle mich hundeelend. Panik ergreift mich.

Fünf Tage nach dem Anschlag verhindern Tränen den klaren Blick auf den Ort des Schreckens – Foto: LyrAg
Meine Frau macht alles richtig. Steigt aus, spricht einen Passanten an. Hat er ein Handy? Er ruft die Feuerwehr.
Eine halbe Stunde später bin ich im Krankenhaus. Erste Hilfe, werde gründlich untersucht. Erhalte Mittel gegen Übelkeit. Man spürt der oder den Ursachen nach. Das dauert. Schließlich Wartezone.
Dann strömen Pulks von Nicht-Kranken durch die Gänge. Es ist inzwischen nach 20 Uhr. Der Grund wabert sich langsam durch: Katastrophenalarm. Aber warum?
Entsetzen
21 Uhr. Weitere Hilfesuchende haben die Wartezone gefüllt. Erzählen von einem Terror-Anschlag in Berlin. Trotzdem mäkelt ein Mann ziemlich heftig über die langen Wartezeiten in der Notaufnahme, die für seine Mutter „unzumutbar“ seien. Quälend langsam sickern die Informationen: Viele Tote, noch mehr Verletzte. Wo? An der Gedächtniskirche. Weihnachtsmarkt. Wir versuchen, den Mann zu beruhigen, weisen auf die Notsituation hin, die den Ausnahmezustand erklären. Er wird ruhiger.
Gegen 22:00 Uhr erklärt ein Arzt, man habe entschieden, mich stationär aufzunehmen. Eine Wiederholung (des vermuteten Schlaganfalls) kann nicht ausgeschlossen werden. Meine Frau bietet an, das Personal zu entlasten, mich mit dem Rollstuhl auf die vorgesehene Station zu bringen.
Da beschäftigt mich schon lange nicht mehr meine Gesundheit. Ich denke an den Anschlag, an die Toten, die Verletzten, die Helfer im Noteinsatz. Mit Mühe unterdrücke ich immer wieder die aufkommenden Tränen. Entsetzen macht sich breit.
Demut
Gegen 22:30 Uhr liege ich im Bett. Angeschlossen am Monitor. Erschöpft. Aber meine Gedanken sind an der Gedächtniskirche. Ich weiß noch immer nicht, was passiert ist.
Am nächsten Tag kommt meine Frau mit einer gemeinsamen Freundin am Nachmittag zu Besuch. Sie besorgen mir eine Karte für den Fernseher. In Gedanken bin ich nicht mehr bei den möglichen Ursachen für meinen Notfall, lasse mir von den Frauen berichten, was passiert ist. Ein oder mehrere Terroristen haben einen Lkw in den Weihnachtsmarkt gesteuert. 12 Tote, 50 Verletzte.
Der Besuch ist fort. Ich informiere mich über die diversen TV-Sender bis in die späte Nacht. Am nächsten Tag. Die Einzelheiten sind fürchterlich. Kann mich der Tränen nicht erwehren, die über das Gesicht laufen.
Als ich am nächsten Tag, dem 22. Dezember, entlassen werde, habe ich eigentlich kaum noch Ohren für die Ermahnungen der freundlichen Ärztin. Nehme die Erläuterungen zu den aufgespürten Ursachen eigentlich kaum wahr. Sie interessieren mich nur noch am Rande, sind nicht mehr wichtig.
Meine Gedanken wandern zu den Familien der Todesopfer, der Verletzten und den Verletzten selbst. Zu dem polnischen Fahrer, der vermutlich seinen Versuch, Schlimmeres zu verhindern, mit dem Leben bezahlt hat. Nein, es gibt Wichtigeres, als so ein Unwohlsein hinter dem Steuer. Dankbarkeit stellt sich ein, dass es mir wieder gut geht. Und Demut.
Weihnachten? Wir werden Heiligabend an die Gedächtniskirche gehen, Kerzen aufstellen…
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2 Kommentare
25. Dezember 2016 um 21:53
Fritz Schüler
All das Wehklagen über eine verfehlte „Willkommenskultur“ hilft nicht, solange dem heuchlerisch abwegigen Kanzlerin-Slogan „Wir schaffen das!“
die lebenswichtige Solidarität „vor Ort“ fehlt.
Längst machen vor allem wir Deutschen uns bei den Nato-Partnern wegen mangelnder Entschlossenheit unbeliebt :“Die Deutschen haben den Verstand verloren.“ (Anthony Glees in einem Interview im Deutschlandfunk am 9. September 2015).
Besagter Frust der Briten hat ebenso im BREXIT seinen fatalen Ausdruck gefunden.
Auch die US-Kameraden sind zunehmend sauer auf uns; wollen nicht mehr allein an allen Brennpunkten dieser Welt die Kastanien aus dem Feuer holen.
Dass es auch anders geht, hat der entschlossene Einsatz von NATO und UNO in den 90ern im ehemaligen Jugoslawien bewiesen.
Dort konnten die Mörderbanden der Karasic, Milosevic, Mladic u.a. in erbitterten Kämpfen unschädlich gemacht, deren Anführer vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag abgeurteilt werden.
Wie lange noch will man mit ungebremstem Flüchtlingsstrom dem internationalen Terror gleich einem schleichenden Flächenbrand Vorschub leisten ? !
25. Dezember 2016 um 08:49
Bernd Stichler
Das Verbrechen von Berlin ist ohne Wenn und Aber eine der vielen Auswirkungen dieser selbstmörderischen Lichterketten-Mentalität.