Wolfgang Graetz stimmte die rund 200 Demonstranten vor dem Nahles-Ministerium ein - Foto: Lyrag

Wolfgang Graetz stimmte die rund 200 Demonstranten vor dem Nahles-Ministerium ein – Foto: Lyrag

Berlin, 14.03.2016/cw – Der Unmut war geradezu physisch zu spüren, als sich vor dem Ministerium für Arbeit und Soziales um die 200 ehemalige Flüchtlinge und Übersiedler aus der einstigen DDR einfanden, um mit einem Protestmarsch durch Berlins Mitte gegen den Rentenbetrug zu protestieren (siehe vorherige Berichte dazu auf dieser Seite).

Die damalige Kohl-Regierung hatte ohne Einschaltung des Parlamentes in einer Anweisung über das Sozialministerium an die Rentenversicherung festgelegt, dass Rentenüberleitungsgesetz (RÜG) vom 18. Mai 1990 auch auf alle ehemaligen DDR-Bürger anzuwenden, die vor dem Mauerfall in den Westteil Deutschlands geflüchtet oder übergesiedelt waren. Nach den Zusicherungen gegenüber diesem Personenkreis bei deren Eintreffen im freien Teil Deutschlands wurden deren Rentenansprüche nach dem Fremdrentengesetz (FRG) bewertet. Danach wurden alle Anwartschaften rentenrechtlich so behandelt, als ob diese im Freien Teil Deutschlands entstanden seien.

Kreativ: Fritz Schaarschmidt aus Bayern mit einer Karikatur - Foto. LyrAg

Kreativ: Fritz Schaarschmidt aus Bayern mit einer Karikatur – Foto. LyrAg

Rentenbetrug an den Lastenträgern der Spaltung

Gegen diesen Rentenbetrug an den eigentlichen Lastenträgern der deutschen Spaltung, der erstmals im Januar 2012 zu nächtlicher Stunde im Deutschen Bundestag debattiert wurde, wandte sich in einem engagierten Beitrag der verstorbene Sozialpolitiker der SPD, Ottmar Schreiner. Schreiner verlangte die Korrektur und kündigte an, diese Verordnung aufzuheben, wenn die SPD wieder in Regierungsverantwortung stehen würde. Doch das scheint Schnee von gestern zu sein. Denn jetzt will die SPD von Schreiners Ankündigungen nichts mehr wissen. In der Regierungsverantwortung angekommen, stimmte sie kürzlich gegen die ursprünglich eigene Vorlage. Den jüngsten Antrag hatte die gegenwärtige Opposition aus Bündnis90/GRÜNE und LINKE im Wortlaut vom SPD-Antrag von 2011/2012 übernommen, trotzdem stimmte die SPD diesmal dagegen. Peinlicher geht’s nicht.

Grußwort von Markus Kurth MdB, Bündnis90/GRÜNE

Auch Hubertus Knabe, Direktor der Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen, begleitete die Demonstranten - Foto: LyrAg

Auch Hubertus Knabe, Direktor der Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen, begleitete die Demonstranten – Foto: LyrAg

Der GRÜNE-Bundestagsabgeordnete Markus Kurth ging in seinem übermittelten Grußwort an die Demonstranten darauf ein, in dem er feststellte: „Die Grüne Bundestagsfraktion hat – gemeinsam mit den Linken – der SPD vor kurzem eine Steilvorlage geliefert, ihrem Versprechen nachzukommen. Wir haben den ursprünglichen SPD-Antrag aus der letzten Legislaturperiode erneut in den Bundestag eingebracht. Doch die Sozialdemokraten stellen sich quer.“ Kurth erinnerte daran, dass „ein gebrochenes Versprechen der Anfang des wirklich bewundernswerten Engagements vieler ehemaliger DDR-Übersiedler und –Flüchtlinge“ ist. „Den Altübersiedlern wurde damals zugesichert, dass ihre durch den Wohnortwechsel in die Bundesrepublik verloren gegangenen DDR-Rentenansprüche, über das Fremdrentengesetz kompensiert würden. … Darauf haben sie vertraut.“ Dieses Vertrauen, so der Bundestagsabgeordnete, sei erheblich verletzt worden: „Systematisch werden die ehemaligen Flüchtlinge wie DDR-Bürger behandelt.“ Dies sei nicht länger hinzunehmen, betonte Kurth und forderte namens seiner Fraktion, „dass die Rentenansprüche der DDR-Flüchtlinge und –Übersiedler künftig nach den Tabellenwerten des Fremdrentengesetzes zu bewerten sind.“ Bedauernd stellte der Abgeordnete und einstige rentenpolitische Sprecher seiner Fraktion fest, dass dies „die Sozialdemokraten bis vor wenigen Jahren noch sehr ähnlich“ sahen.

Auch am Freiheitsdenkmal erinnerten die Demonstranten an einstige Zusagen des Rechtstaates - Foto: Lyrag

Auch am Freiheitsdenkmal erinnerten die Demonstranten an einstige Zusagen des Rechtstaates – Foto: Lyrag

Demonstration wichtiger Baustein

Kurth: „Doch nun werden gerade die Menschen durch die Wiedervereinigung benachteiligt, die aus der DDR geflohen sind.“ Abschließend versicherte der Bundestagsabgeordnete in seinem Grußwort, das leider zu spät an die Veranstalter übermittelt wurde und daher nicht auf der Kundgebung verlesen werden konnte: „Die Grünen stehen weiterhin hinter den DDR-Übersiedlern und –Flüchtlingen. Lassen Sie uns den Druck auf die Bundesregierung aufrechterhalten. Diese Demonstration ist dabei ein wichtiger Baustein.“

Das sahen die teilweise weither aus Bayern, NRW,  Niedersachsen und weiteren Bundesländern angereisten Protestler wohl ähnlich. Mit geistreichen und kreativen Plakaten und Transparenten  zogen sie vom Nahles-Ministerium über Schäubles Finanzministerium und dem Potsdamer Platz am Brandenburger Tor vorbei zum Reichstag. Neben Sprüchen wie „Die Renten sind sicher – falls wir sie nicht nachträglich verändern“ oder „SbZ/DDR-Flüchtlinge: Vermerkelt und verschäubelt“ wurden auch massive Vorwürfe formuliert: “Wer hat uns verraten? – Ist mit Ottmar Schreiner Euer Gewissen gestorben?““ Vor dem Bundeskanzleramt endete der Protest nicht ohne laute BUH- und Betrüger-Rufe nach zwei Stunden um 16.00 Uhr.

"Dem deutsche Volke?" - Das Rentenrecht unterscheidet Bürger erster und zweiter Klasse - Foto: LyrAg

„Dem deutsche Volke?“ –
Das Rentenrecht unterscheidet Bürger erster und zweiter Klasse – Foto: LyrAg

An den jeweilige Haltepunkten kamen die Veranstalter, hier insbesondere Wolfgang Graetz als Initiator und Dr. Wolfgang Mayer (Speyer, Forum FLUCHT und AUSREISE) zu Wort. Letzterer hatte es sich trotz schwerer Erkrankung nicht nehmen lassen, eigens zur Demo aus Speyer anzureisen. Der Vorsitzende der Vereinigung 17. Juni hielt ebenfalls kurze Ansprachen, wie auch Teilnehmer persönlich zu Wort kamen. Ernst O. Schönemann hatte zu Beginn der Demo den Vorsitzenden der UOKG, Dieter Dombrowski, entschuldigt, der aus Krankheitsgründen verhindert war und betont, das der Dachverband diese Demonstration und das dahinter stehende Anliegen voll unterstütze.

Kommentar:

Außer Spesen nichts gewesen? Wenn man das Echo in den Medien einbezieht, könnte man diesen Eindruck haben. Nur der KURIER berichtete mit der Anführung persönlicher, durch den Rentenbetrug besonders betroffener Schicksale und zahlreichen Fotos über die Demo der sich als betrogen fühlenden ehemaligen DDR-Bürger. Andere Zeitungen, wie z.B. Berliner Zeitung oder TAGESSPIEGEL, berichteten zwar in großer Aufmachung über die neue „Rentenkrise“, der praktizierte Betrug an den einstigen Flüchtlingen war den Autoren ebenso keine Zeile wert wie der SPD ein Wort der Erklärung oder des Bedauerns über ihren rüden Wortbruch. Da verwundert es nicht, wenn solcherart Betrogene sich von den bisher etablierten Parteien abwenden und ihr Heil womöglich bei der AfD suchen.

Auch der Fluchthelfer Hartmut Richter demonstrierte (hier vor dem Kanzleramt) - Foto: LyrAg

Auch der Fluchthelfer Hartmut Richter demonstrierte (hier vor dem Kanzleramt) – Foto: LyrAg

Die Verbände allerdings sind an dieser Entwicklung nicht ganz unschuldig. Statt sich dieser Themen zu einer Zeit anzunehmen, als diese noch zahlenmäßig Kampagne-fähig und -willens waren, stürzten die sich lieber in Auseinandersetzungen untereinander, verwickelten sich in Skandale um fragwürdige Äußerungen und den dubiosen Umgang mit anvertrauten Geldern. Die VOS hatte wenigstens einen Bus für Gehbehinderte organisiert und zuvor in ihrem Vereinsblatt  für eine Teilnahme ihrer Mitglieder geworben.  Die behauptete Unterstützung z.B. durch den Dachverband stellte sich anders dar. Auf der UOKG-Seite wurde lediglich die Presseerklärung der Veranstalter eingestellt. Einen Aufruf zur Beteiligung an die über 30 Mitgliedsverbände suchte man vergebens. Unterstützung sieht anders aus.  Auf der Strecke ob solcher internen Unstimmigkeiten blieben (wieder einmal) die Anliegen der Betroffenen, die auf diese Art zweimal betrogen wurden: Von der Politik und ihren eigenen Funktionären.

Außer Spesen also nichts gewesen? Wer die Zustimmung durch vor allem junge Leute bemerkt hat, die den Demonstranten unverhohlen und offen vom Rande aus Beifall zollten, wer die Freude unter vielen Beteiligten registrierte, die diese Solidarität untereinander wie kurz vor dem Verdursten Stehende einsogen, der mochte den Eindruck mitnehmen, dass derartige demokratische Proteste gerade auch durch die einstigen Flüchtlinge wichtig, ja unverzichtbar sind. Solange sich Menschen für Anliegen gegen alle Widerstände engagieren, ist die Demokratie nicht verloren. Und damit auch nicht der Kampf gegen den Rentenbetrug.

V.i.S.d.P.: Redaktion Hoheneck, Tel.: 030-30207785 (1.102)