Von Carl-Wolfgang Holzapfel
Stuttgart/Berlin, 14.12.2014/cw – Heute vor 100 Jahren wurde Rainer Hildebrandt in Stuttgart geboren. Der am 9. Januar 2004 in Berlin verstorbene Publizist, Museumsgründer, Agenten-Chef, Widerständler und Lebemann war stets umstritten, den Respekt vor seinem Lebenswerk konnte ihm hingegen Freund und Feind nicht versagen.

Keine Blume zum 100. Geburtstag: Der Museumsgründer in der nachgebauten Allierten Baracke – Foto: LyrAg
Hildebrandt wurde als Sohn der Malerin Lily Hildebrandt, einer engen Freundin von Marc Chagall (1887-1985) und des Kunsthistorikers Hans Hildebrandt in der schwäbischen Landeshauptstadt geboren. Sein lebenslanges Faible für die Kunst und seine vielfältige Verbundenheit zu Künstlern war ihm geradezu in die Wiege gelegt worden. Durch die historischen Geschehnisse verlief sein Leben jedoch anders, als vermutlich geplant. Dabei war die Freundschaft der Familien Wolff und Hildebrandt, dieser spielte mit dem späteren Chef der MfS-Auslandsaufklärung, Markus Wolff, im Sandkasten, wohl erst später von – vielleicht – hintergründiger Bedeutung. Stark geprägt und beeinflusst wurde der junge Student (zunächst Physik, später Philosophie und Soziologie) durch Albrecht Haushofer, dessen sogen. Haushofer-Kreis den Attentätern auf Hitler zugeordnet wurde. Hildebrandt wurde nach eigener Darstellung selbst 17 Monate inhaftiert (Wehrkraftzersetzung): In dieser Zeit „habe ich gelernt, gegen das Unrecht zu kämpfen,“ sagte er später über diese Zeit.
Seine Promotion bei Franz Rupp über „ein arbeitspsychologisches Thema“ war lange Zeit umstritten, weil nicht mehr auffindbar. Anlässlich einer gerichtlichen Auseinandersetzung um einen Zeitungsartikel („Die seltsamen Wege des Rainer Hildebrandt“ von Manfred Plöckinger und Carl-Wolfg. Holzapfel, Deutsche Wochenzeitung, Sommer 1963) konnte Hildebrandt dem Gericht eine Bestätigung der Freien Universität Berlin vorlegen, nach der er berechtigt sei, einen akademischen Titel zu führen.

Das Museum am 14.12. in Lichterglanz getaucht –
Vom 100. Geburtstag des Museumsgründers dagegen keine Spur – Foto: LyrAg
CIA und KgU
In den Wirren der Nachkriegszeit kam es zur Kontaktaufnahme Rainer Hildebrandts mit dem US-Geheimdient CIA, in deren Folge die „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU)“ gegründet wurde, deren Chef Hildebrandt wurde. Über die Umstände dieser Gründung und die Hintergründe seiner engen Zusammenarbeit mit der CIA hat sich Hildebrandt nie konkret ausgelassen. Anregungen, mehrfach auch durch den Autor dieser Erinnerung, seine Biografie über den Widerstand zu schreiben („Das würde John Le Carré in den Schatten stellen!“) kommentierte er mit seinem unnachahmlichen „Ja, meinst du?“

1963 mit Weggefährten in der Wolliner Straße: Holzapfel, Hildebrandt, eine Freundin, Zutshi, A.Kirks (v.li.) – Foto: LyrAg
Über die Geschicke der KgU gibt es seither die unterschiedlichsten Darstellungen. Hildebrandts Einlassungen, nachdem er sich mit dem Nachfolger Tillich über die Formen des Widerstandes zerstritten habe, weil er den „gewaltlosen Kampf“ favorisierte, ist mit Fragezeichen zu versehen. Nachweislich, also unwidersprochen, hat sich Hildebrandt Anfang der sechziger Jahre, nicht zuletzt stark beeinflusst durch den Inder T.N. Zutshi, dieser Form des Widerstandes nach dem Vorbild Gandhis angeschlossen bzw. verpflichtet gefühlt.
Auch die Wirkungen Hildebrandts auf Ereignisse um den 16. und 17. Juni 1953 sind nebulös, er hat sich selbst auch dazu nie nachvollziehbar erklärt. Seine Verdienste um die Erinnerung an den ersten Volksaufstand gegen den Kommunismus in Europa nach dem zweiten Weltkrieg sind hingegen unbestritten, legendär sein Buch „Als die Fesseln fielen“ (Arani Verlag, Berlin 1956) eine erste konkrete Schilderung der Ereignisse durch Akteure des Aufstandes.
Bis zum Mauerbau am 13. August 1961 schlug sich der Publizist mit Beiträgen und Kommentaren (z.B. DER TAGESSPIEGEL) zu aktuellen Themen der deutschen Teilung und durch den Betrieb einer Kaffeestube nahe einem S-Bhf. durch. Diese Boheme-haft anmutende Lebensweise änderte sich schlagartig nach dem Bau der Mauer. Beharrlich sammelte der gelernte „Kalte Krieger“ von Beginn an Dokumente dieses „verbrecherischen Aktes gegen die Menschlichkeit.“ Im Spätsommer 1962 mietete Hildebrandt eine kleine Wohnung an der Bernauer-/Ecke Wolliner Straße im ersten Stock und baute dort seine erste Ausstellung „Es geschah an der Mauer“ auf. Durch einen vorgelagerten Austritt konnten die Ausstellungsbesucher einen weiten Blick in den zugemauerten Teil Ost-Berlins werfen.
Frauen begleiteten den lebenslangen Charmeur

1963: Der erste Ausstellungs-Leiter C.W. Holzapfel beim Ausblick auf die Bernauer Straße – Foto: LyrAg
In der Akquirierung geeigneter Menschen für seine Projekte war und blieb er zeitlebens unschlagbar. Mit seiner ihm eigenen Überzeugungskraft und seinem unwiderstehlichen Charme, der besonders auf viele seiner Frauen wirkte, die den lebenslangen Charmeur durch sein quirliges Leben begleiteten, wurde er zum Menschenfischer. So sprach er den Autor während dessen ersten Hungerstreik am Mahnmal des erschossenen Maueropfers Günter Litfin an und warb ihn als ersten Leiter der vor der Eröffnung stehenden Ausstellung an. Natürlich zu typisch Hildebrandtschen „ideellen Bedingungen“: Ohne Bezahlung. Die setzte erst im März 1963 ein (mtl. 380 DM), als es Hildebrandt endlich und erstmals gelang, Fördergelder aus Mitteln der Deutschen Klassenlotterie zu erhalten: „Wir sind gerettet,“ so sein glücklicher Kommentar damals.
Bereits im Frühjahr 1963 gelang es der neuerlichen Hass-Figur der DDR, unmittelbar am Checkpoint Charlie Räume anzumieten, um an dieser weltberühmten Nahtstelle des Ost-West-Konfliktes seine zweite Ausstellung zu eröffnen (Wenig später wurde die Ausstellung in der Bernauer Straße aus Kostengründen geschlossen). Diese Neueröffnung fand im Beisein Berliner Prominenz, u.a. dem Berlin-Beauftragten Ernst Lemmer statt und stellte für Hildebrandt einen Durchbruch dar. Zwischenzeitlich hatte er die „Arbeitsgemeinschaft 13. August“ gegründet, nachdem die Existenz der „Berliner Häftlingskreise“ – unter deren Namen die Ausstellung in der Bernauer Straße eröffnet worden war – u.a. in dem besagten Zeitungsartikel bezweifelt worden war. Somit wurden die seinerzeitigen Kritiker zum Geburtshelfer des Vereins, dessen Erfolgsgeschichte seinesgleichen sucht. Aus den (allerdings kurzfristigen) Kontrahenten wurden übrigens lebenslange Freunde.

Als einziger Freund einen Tag vor der Aktion am 13.08.1989 von CWH eingeweiht: Rainer Hildebrandt (üb. „08“ mit PE in der Hand) – Foto: LyrAg
Sein Lebensstil blieb stets bescheiden
Rainer Hildebrandt wurde häufig sein „laxer Umgang“ mit Finanzen vorgeworfen. Immerhin wurde die Ausstellung „Haus am Checkpoint Charlie“ im Laufe der Zeit zu einem Millionenunternehmen, was das Ehepaar Hildebrandt veranlasste, Anfang dieses Jahrhunderts auf die Gemeinnützigkeit zu verzichten. Dennoch ging dieser hartnäckige Vorwurf fehl. Der Museumsgründer war nie auf Gewinnmaximierung aus, blieb zeitlebens ein Idealist. Der Kampf gegen das Unrecht war sein Lebensinhalt, die Förderung vieler Flüchtlinge und Widerständler sah er als selbstverständlich an. Sein persönlicher Lebensstil blieb stets bescheiden. Sein „Geiz“ gegenüber Beschäftigten war ebenso legendär wie seine mentale Großzügigkeit gegenüber Freunden.
War dieser Mann ein Vorbild? Unter dem Strich kann diese Frage bejaht werden. Trotz vielfacher Fragezeichen, die seine Vita besonders im sogen. Kalten Krieg kennzeichneten (was wohl im engen Zusammenhang mit seinem hartnäckigen Schweigen besonders über die Tätigkeiten der KgU unter seiner Ägide steht) hat Hildebrandt in außergewöhnlicher Weise und beispielhaft dazu beigetragen, das Unrecht des Mauerbaus („Die Mauer ist Unrecht – Fluchthilfe ist die Wiederherstellung eines Rechts“ war eine seiner markanten und vielfach propagierten Aussagen) vor aller Welt zu dokumentieren und das Bewusstsein über dieses Unrecht lebendig zu halten.
Nach 11 Jahren noch immer keine Ruhestätte zum Trauern
Ohne diesen Mann und seinen festen Glauben an die Werte der Freiheit, ohne seine Beharrlichkeit, von Beginn an unschätzbare Dokumente und Materialien aus dieser Zeit zu sammeln, gäbe es heute keine fast lückenlose Dokumentation über die Geschehnisse während der Existenz der Mauer von 1961 – 1989. Berühmte Politiker und Zeitgenossen, Präsidenten und Monarchen haben ihm dafür ihre Aufwartung gemacht, diesem eindrucksvollen Mann der Widersprüche gedankt – zu Recht.
Trotzdem bleibt zu seinem 100. Geburtstag Wehmut. Seine sterblichen Überreste harren seit fast elf Jahren nach wie vor im Krematorium Ruhleben in einem Regal der Beisetzung. Seine streitbewehrte Witwe Alexandra weigert sich nach wie vor, seine Urne beizusetzen. Sie besteht auf einem Ruheplatz neben Albrecht Haushofer, dem einstigen väterlichen Freund und Nazi-Opfer. Das Grab Haushofers liegt auf einem bereits Jahre vor Hildebrandts Ableben geschlossenen Friedhof in Berlin-Moabit. Eine naheliegende Beisetzung auf dem Ehrenfeld der Opfer vom 17. Juni 1953, für die der Senat bereits vor vielen Jahren sein Einverständnis erklärt hatte, lehnt die jetzige Direktorin des Museums ab.
Freunde, unter ihnen nicht wenige einstige Fluchthelfer, Flüchtlinge und Weggefährten, können also auch anlässlich seines 100. Geburtstages keinen Blumengruß an einer Grabstätte niederlegen. Auch die Stadt Berlin steht recht hilflos vor der Situation, keine sichtbare Ehrung vornehmen zu können.
So bleibt nur auf diesem Weg der Dank an einen verdienten Bürger Berlins und nicht zuletzt an einen jahrzehntelangen Freund: Wir werden Rainer Hildebrandt, diesen umstrittenen aber aufrechten Freiheitskämpfer nicht vergessen. (906)
Siehe auch: http://www.bz-berlin.de/berlin/friedrichshain-kreuzberg/erfuellt-doch-bitte-seinen-letzten-wunsch#
V.i.S.d.P.: Redaktion Hoheneck, Berlin, Tel.: 030-30207785
1 Kommentar
15. Dezember 2014 um 12:14
Wolfgang Mayer
MEINE ERSTE BEGEGNUNG MIT RAINER HILDEBRANDT
Mittwoch, 5. Juli 1989
Auf Einladung der FDP-nahen Otto-Benecke-Stiftung weilen meine Frau und ich in Berlin (west). Ab Hannover mußten wir fliegen, weil nach Lesart der Stasi (in Form des DDR-Innenministeriums) die ganze Familie Mayer „entsprechend der Festlegung der VVS I 0556612 Pkt. 02“ in die „Transit-Einreisesperre einzulegen“ war.
Das einwöchige Seminar ist für im Westen gestrandete DDR-Akademiker gedacht. Es bleibt genügend Freizeit, um endlich einmal die andere, die bunte Seite des „Antifaschistischen Schutzwalls“ zu besichtigen. Keine Zweifel: Wir stehen vor einem gigantischen Kunstwerk deutscher Geschichte! Logisch, daß erst mal zehn der ulkigsten Mauer-Ansichtskarten in die alte Heimat verschickt wurden.
Im Museum am Checkpoint Charlie treffen wir einen alten Bekannten. Über etliche Jahre hatte D. der Stasi in Ilmenau und Eilenburg erbitterte Kämpfe geliefert. Auch heute tut er das noch, obwohl gemunkelt wird, daß er auch mal für die Gegenseite tätig gewesen sei. Politische Verfolgung, Knast und Ausweisung haben ihn, den totalen Individualisten, kaum verändert. Spitzbärtchen wie Ho Chi Minh, schmaler Seitenzopf und langer, bunter Nagel am kleinen Finger der linken Hand lassen ihn in die Nähe eines Punks rücken. Verschmitzt sitzt er uns gegenüber, erzählt von „seiner“ Mahnwache Anfang 1988 an der Mauer, die die Stasi in Flammen aufgehen ließ , aber ihn nicht hinderte, sein Zelt sofort wieder aufzuschlagen; an gleicher Stelle mit gleicher, öffentlicher Wirkung.
Er macht uns bekannt mit dem kanadischen Mauerläufer und Veteran John RUNNINGS, einem Original der besonderen Art, mit Freya KLIER und – mit Rainer HILDEBRANDT, dem Leiter des Museums, zu dessen Ausstellungsstücken die skurrilsten Fluchtapparate seit Bestehen der Berliner Mauer zählen. Gleich im Foyer hängen die ausgehöhlten Surfbretter eines Ilmenauers, der, selbst aus der DDR geflüchtet, bei einer Nacht- und Nebelaktion unerkannt zurück über die Grenze gegangen war, um seine Freundin über die tschechisch-österreichische Grenze zu nachzuholen. Der Fluchtballon der beiden sächsischen Familien fehlt ebenso wenig wie der exklusiv für die Illustrierte „Quick“ geflogene Flugapparat des Berliner Brüdertrios BETHKE. Ein Monitor zu dieser Wahnsinnsflucht läuft rund um die Uhr, um Museumsbesucher aus aller Welt für dieses deutsche Thema zu sensibilisieren.
Rainer HILDEBRANDT sieht gut aus mit seinen 75 Jahren. An Ort und Stelle beraumt er eine Pressekonferenz mit uns für Nachmittag 15 Uhr an. Und tatsächlich – es erscheinen einige Korrespondenten, unter anderem ein Journalist der „BZ“. Der Reporter des beliebten Berliner Senders 100,6 interviewt uns live mindestens 20 Minuten lang. Die seltene Gelegenheit wird genutzt, um auf Methoden des MfS sowie die faulen Tricks des Stasimannes Rechtsanwalt Wolfgang VOGEL aufmerksam zu machen. Doch will man lieber Stasi-Schikanierungen vermelden, wie Veröffentlichungen am nächsten Tag zeigen.
BZ, 6. Juli 1989
Bevor wir gehen, sitzen wir noch eine gute Stunde in der Cafeteria, um mit Cappuccino zu entspannen. Auf das Treffen mit Rainer HILDEBRANDT bin ich gut vorbereitet, nachdem ich mir im Vorfeld seinen ausgezeichnet illustrierten Band „Von Gandhi bis Walesa. Walesa“ – 1987 erschienen – besorgt hatte. So diskutieren wir eine Weile über seine von ihm bereits 1948 gegründete „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ (KgU) ebenso wie über den gewaltfreien Widerstand heute. Bemerkenswert dabei seine Passagen „… den Konflikt nicht nur aus der Sicht eigener Betroffenheit sehen, sondern auch aus der Sicht des Opponenten“. In der Sprache des gewaltfreien Kampfes gebe es keinen „Feind“; der Kampf werde auch „nicht gegen Menschen geführt, sondern gegen das System. Jeder Opponent von heute könne prinzipiell der Verbündete von morgen sein“ etc.
Plötzlich macht Rainer HILDEBRANDT eine kaum auffällige Kopfbewegung von der Seite leicht nach hinten, woraufhin sich D. in einen Nebenraum begibt, um mit ein paar Geldscheinen zurückzukommen. „Tolle Sache, die Pressekonferenz“, meint der Museumsdirektor, und überreicht uns je 400 D-Mark. Ich traue meinen Augen kaum: Soviel (West-)Geld hatte ich noch nie geschenkt bekommen! Wir brauchen es dringend für die Einrichtung unserer Wohnung …
Das Seminar der Benecke-Stiftung war ein voller Erfolg gewesen. Im Flieger der Air Berlin zurück nach Hannover gibt es jedoch ein nur ein Thema:
RAINER HILDEBRANDT und sein HAUS AM CHECKPOINT CHARLIE.
Wolfgang Mayer