Ostern 2014/cw – Das Verhältnis verschiebt sich langsam. Unaufhaltsam? Immer weniger Menschen erinnern sich Ostern an die Wurzeln unserer christlichen Kultur, sehen so in Ostern den übergroßen Osterhasen, meist aus Schokolade. Suchen nach vorher versteckten Eiern, in Natura bemalt oder aus köstlichen Süßstoffen hergestellt.
Die Leidens- und Sterbegeschichte des seinerzeit in einem Stall bei Bethlehem geborenen Jesus, die Mär von seiner großartigen Auferstehung,  sie wird allenfalls noch als musikalisches Ereignis (Johann Sebastian Bach) wahrgenommen. Man geht, wenn man etwas auf sich hält, Ostern nicht in die Oper, sondern in die Konzerthalle. Sofern Rudimente aus der Kindheit vorhanden sind, auch in die Kirche (wenn sie denn vor Ort in der Lage ist, ein Oratorium anzubieten).

Historiker kennen den Begriff der Verschattung von Erinnerung. Sie meinen damit die nachlassende Konzentration auf wirkliches Geschehen, das in der Vergangenheitsform entweder Weglassungen oder Zufügungen aus anderen Lebensbereichen erfährt. Manchmal werden der eigenen Erinnerung dann auch Geschichten angefügt, die irgendwann beim Lesen, Hören oder Sehen innere Bewegung ausgelöst haben und unmerklich zu einem Teil der eigenen Vita werden oder geworden sind.
Auch Ostern – wie andere christliche Feste – leidet zunehmend unter der Verschattung der Erinnerung. Was in der Kindheit noch gläubig zum Innehalten Anlass gab, verschwindet im Orkus täglicher Stresserfahrung und hat sich unmerklich aber real in das allgemeine Erlebnis- und Konsumverhalten eingefügt. Ostern, das sind erste Ferientage, Feier- und Brückentage, Osterschmaus und Frühlingserwachen. Die Kirchenglocken gehören einfach dazu, machen alles irgendwie festlicher.

Aber hat uns das Geschehen vor über zweitausend Jahren wirklich nichts mehr zu sagen? Da wurde aus einem unter ärmlichsten Verhältnissen geborenen Kind hebräisch der wahrhafte Messias, im Griechischen der Gesalbte, dort als Begriff nur verwandt für Könige und Hohepriester. Dieser Jesus von Nazareth tritt gegen die Verharschung der jüdischen Religion an, will diese als prophezeiter Erlöser in eine neue Zeit führen. Bis heute betörend seine auf der Liebe gegründete absolute Gewaltlosigkeit, die selbst sein Zornesausbruch im Tempelhof gegen die Geschäftemacher nicht negiert. Er geht diesen Weg konsequent, bis an das Kreuz, bis in den Tod. Mich faszinieren ungebrochen seine Worte am Kreuz: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ und „Vater, in deine Hände gebe ich meinen Geist.“ Hier die tiefe, schier überwältigende Verzweiflung an seinem bisherigen Leben, das so direkt nach Golgatha führte, und dort die Versöhnung, die Ergebung in den Willen Gottes, den er als seinen einzigen Vater erkannte. Die Botschaft? Wenn selbst Jesus zweifelte, dürfen auch wir zweifeln. Wenn Jesus diese tiefe Verzweiflung überwand und sein Schicksal in die Hände Gottes legte, dürfen auch wir Hoffnung auf die Überwindung des Zweifels und die Hinwendung zu einer höheren Macht haben.

Die Kirche als Institution habe ich persönlich in allen Schattierungen erlebt. Neben dem vermittelten Glauben hat sie mir auch den Zweifel überbracht. Als vierjähriges Kind wurde ich unter Drohungen eine tiefe lange Nacht in einen dunklen Heizungskeller gesperrt. Als vierzehnjähriger mußte ich bis zu vierzehn Stunden in der Landwirtschaft malochen, ein schwerer Unfall und seine Folgen erinnern mich bis heute an diese Zeit. In meinen letzten Berufsjahren lernte ich die kirchliche Verwaltung von innen her kennen und verachten.
Trotzdem habe ich mich nie in einen Hass auf die Institution Kirche verrannt, wusste und weiß ich doch um die unendlich wichtigen sozialen Aufgaben, die diese Institution trotz aller Fehler erbrachte und erbringt. Warum sollte die Kirche als Institution heiliger sein als der Mensch selbst? Auch die Institution wird von Menschen getragen, geführt. Dennoch distanzierte ich mich und stürzte zuweilen auch in eine Glaubens- und Vertrauenskrise.

Und dann kommt da im fernen Rom ein Mensch in die konstitutionelle Verantwortung, der den Menschen über die Institution stellt, der den Glauben nicht nur verkünden, sondern leben und vorleben möchte, ihn auch tatsächlich vorlebt. Dem die Institution allenfalls notwendiges Gerüst, aber nicht allein selig machende Körperschaft bedeutet. Er tritt aus Überzeugung in die Fußstapfen des Begründers seiner Religion, eifert diesem nach, ohne als Eiferer aufzutreten. Er kommt in überzeugender Demut daher, verzichtet durch seine tägliche Präsenz auf den Anspruch der Unfehlbarkeit, die Diffamierung Andersgläubiger. Franziskus geht auf die Menschen zu, wird wie Jesus augenscheinlich zum Menschenfischer. Durch Verzicht auf Drangsalierung oder geistige Vergewaltigung, durch sein beieindruckendes Zugehen auf den Menschen. Unabhängig davon, ob ihm dieser als Präsident, König oder Obdachloser gegenüber steht.
Franziskus missioniert durch Beispiel und gibt erst dadurch seinen demutsvollen Worten Gewicht. Er grenzt nicht aus, er umarmt die Menschen in ihrer geistigen und kommerziellen Not.

Gibt es eigentlich eine schönere Botschaft zu Ostern 2014, als diesen Menschen, der offenbar aufgebrochen ist, seine Kirche wieder an die Wurzeln ihres Gründers und Namenspatrons zurück zu führen? Meine Frau, durch ihre Geburt in der DDR und dort erlittenen Leiden bekennende Atheistin, ist ebenfalls tief berührt von diesem bescheiden auftretenden „Stellvertreter auf Erden.“ Ist das nicht beeindruckend? Sollte so nicht Auferstehung im ursächlichen Sinn aussehen?
Lasst uns die kurzen Ferientage genießen. Lasst uns Ostereier suchen und vieles mehr an liebgewordenen Gewohnheiten pflegen. Aber lasst uns auch einen Moment innehalten, uns für einen Moment erinnern an jenen großartigen Menschen im fernen Jerusalem, der uns in seiner Todespein nach seiner zugelassenen Verzweiflung die Hingabe in sein Schicksal,   uns die Auferstehung aus tiefer Not, aus Tod und Endlichkeit vermittelte. Jesus von Nazareth zeigte uns das Licht, den Aufbruch aus der immerwährenden Sehnsucht in die Erlösung. Er sollte auch nach zweitausend Jahren weiterhin unsere Kultur im besten Sinne prägen.

Der Mann in Rom lebt uns das vor, jeden Tag. Nutzen wir sein Beispiel, lösen wir uns aus der Verschattung der Erinnerung, solange zumindest, wie uns dieser bescheidene Franziskus diesen Weg vorleben kann.

In diesem Sinn wünschen wir allen Lesern, Freunden und nicht zuletzt Kritikern eine frohe und gesegnete Ostern.

V.i.S.d.P.: Redaktion Hoheneck, Berlin, Tel.: 030-30207785