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Berlin, 27.09.2013/cw – Die Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG) hatte am Donnerstag zu einer Veranstaltung in das Besucherzentrum der Gedenkstätte Berliner Mauer eingeladen. Thema: Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953, Ursachen, Verlauf, Folgen. Lag es am späten Termin (drei Monate nach dem 60. Jahrestag), an der fehlenden Einladung an Veteranen des Volksaufstandes (die Vereinigung 17. Juni als Vereinsgründung einstiger Teilnehmer war zum Beispiel nicht eingeladen) oder am allgemeinen mangelnden Interesse an diesem Thema, jedenfalls hatten sich abzüglich der Podiumsteilnehmer und der Vertreter der UOKG selbst weniger als 20 Interessenten zu der Veranstaltung eingefunden.
Das war schade, denn besonders die beiden Professoren, Werner Gumpel aus München und Karol Sauerland aus Warschau, steuerten spannende Informationen und oft wenig bekannte Details aus der fraglichen Zeit bei.
Nach einem Impulsreferat von Dr. Jens Schöne, einem bekannten Historiker der LStU Berlin, der dankenswerter Weise noch einmal bekannte Fakten kurz zusammenfasste und so den thematischen Einstieg ermöglichte, kamen unter der Gesprächsführung von Holger Kulick, BStU, die beiden Professoren, Günther Gossler und Klaus Gronau auf dem Podium als Zeitzeugen zu Wort.

Von Links: Axel Klausmeier (von hinten), Holger Kulick, Günther Goßler, Karol Sauerland, Werner Gumpel, Klaus Gronau
Foto: LyrAg
Zu Beginn schilderte Klaus Gronau die von ihm bereits mehrfach vorgetragenen Erlebnisse um den 17. Juni. Ausschließlich für den Kenner der Materie waren durchaus Korrekturen und Erweiterungen zu bisherigen Darstellungen erkennbar, die aber insgesamt die Sicht eines damaligen Lehrlings auf die Ereignisse nicht beeinträchtigten. Gronau war beeindruckend nahezu an allen Orten des Geschehens zwischen Stalinallee, Oberbaumbrücke, Ostbahnhof, Lustgarten und Haus der Ministerien und konnte so eine fast lückenlose Reportage über die Abläufe am 16. und 17. Juni in Berlin liefern. Eine beachtliche Leistung für einen Jugendlichen in einer Zeit, als „die Angst wie eine Glocke“ über Berlin schwebte, wie Gronau zutreffend zur Situation anmerkte.
Jetzt auch Wasserzelle am 17. Juni entdeckt
Günther Goßler, dessen Frau Anita in Vertretung des verhinderten UOKG-Vorsitzenden Rainer Wagner die Anwesenden begrüßte, schilderte seine Erlebnisse vom Aufstand um Wolfen und Bitterfeld. Er habe sich eigentlich nicht aktiv beteiligt, „Politik ist nicht meine Sache.“ Aber am Morgen des 17. Juni „sind Kollegen aus Bitterfeld auf die Baustelle gekommen und haben gesagt: Ihr müsst mitkommen, wir streiken. Da sind wir dann mitgezogen.“ Um 15:00 Uhr kamen die Russen, „dann war Ruhe.“ Gossler: „Ich bin dann nach Hause. In Delitzsch wohnte ich gegenüber der Schokoladenfabrik und einer Polizeiwache. Dann hörte ich einen Krach.“ Als er sich um die Ursache kümmerte, gewahrte er einen Radfahrer, der von einem Volkspolizisten erschossen worden war. „Eigentlich sind ja zwei Leute erschossen worden, aber ich habe nur diesen gesehen.“
Auf Nachfrage von Holger Kulick räumte Gossler ein, doch mehr erlebt zu haben. So habe man Polizisten entwaffnet („Es fiel kein Schuss, wir haben die Waffen alle deponiert.“) und Häftlinge befreit: „Da war auch eine Wasserzelle, da stand einer bis zu den Knien im Wasser.“ Ob dieser Teil seiner Erinnerungen der Solidarität mit seiner Frau geschuldet war, konnte im Rahmen der Veranstaltung nicht geklärt werden. Seine Frau war als ehemalige Hoheneckerin in die Kritik geraten, weil sie in diversen Veröffentlichungen über Aufenthalte in Wasserzellen sowohl in Leipzig wie in Hoheneck berichtet hatte, was aber Überprüfungen nicht standhielt.
Goßler betonte mehrfach seine unpolitische Haltung. Auch als er mit seiner Familie 1957 in den Westen zog, „hatte ich nur Sorgen um meine Frau.“ Eine Aussage, die einem eher spröde wirkenden Zeitzeugen menschliche Sympathie vermittelte. Goßler hob sich mit seinen eher zögerlich vorgetragenen Beobachtungen um den Volksaufstand deutlich von der meist kolportierten „anhaltenden Begeisterung“ einstiger Teilnehmer ab.
„Schießt doch, Ihr Hunde!“
Werner Gumpel, emeritierter Professor aus München und Ehrendoktor der Hacettepe-Universität in Ankara, schilderte beeindruckend seinen Aufenthalt in der Hölle von Workuta, „140 Kilometer vom Eismeer entfernt.“ Er war wegen seiner Beteiligung an einer Oppositionsgruppe in Leipzig zu 2 x 25 Jahren verurteilt und nach Sibirien verbracht worden, wo er bis 1955 war. In den Lagern seien Menschen aus der gesamtem UdSSR gewesen, auch aus der CSSR, aus Ungarn und Polen. Von den Polen hieß es, unter jeder Schwelle der Eisenbahnschienen läge ein Pole, „die haben besonders Schlimmes in den Lagern durchgemacht.“
Die Ukrainer waren am Besten organisiert, auch die Russlanddeutschen, die als „Verbannte nicht direkt in den Lagern, sondern davor wohnten.“ Die hörten Nachrichten. So hätten die Gefangenen hin und wieder erfahren, was in der Welt vor sich ging. Durch diese Nachrichten und eine dürre Mitteilung in der Prawda habe man schließlich vom Aufstand in Mitteldeutschland erfahren. Dann fuhren plötzlich weniger, dann gar keine Züge mehr, die die abgebaute Kohle transportierten. Schnell sprach sich die Ursache rum: Im Schacht 29 werde gestreikt. Man forderte die Überprüfung der Urteile, die Freilassung politischer Gefangener. Das lief zunächst relativ friedlich ab, bis ein Ukrainer an das Lagertor ging, sein Hemd über der Brust aufriss: „Schießt doch, ihr Hunde.“ Er wurde erschossen, Truppen wurden eingesetzt. Am Ende des Aufstandes von 1953 in Workuta gab es 64 Tote und über 120 Verletzte.
Karol Sauerland, Professor an der Universität Warschau, wurde 1936 in Moskau als Kind kommunistischer Emigranten geboren. Sein Vater schloss sich den Komintern an, war Chefredakteur des „Aufbau“ und flüchtete 1935 in die UdSSR. In Moskau wurde er trotz seiner Überzeugung ein Opfer der stalinistischen Säuberungen und erschossen. Sauerland: „Davon erfuhr ich erst 1963. Davor glaubte ich, er lebe in Sibirien.“ Die Familie siedelte nach dem Krieg in die DDR über: „Meine Mutter blieb trotz dieser Erlebnisse überzeugte Kommunistin.“
Posen, das war die Wiederholung des 17. Juni
Der junge Sauerland wurde immer nachdenklicher. Nach Stalins Tod sagte ein Freund und Gesinnungsgenosse zu ihm: „Nun gilt es, Trübsal zu blasen.“ Wenige Monate später sah er sowjetische Panzer gegen das Volk rollen. Ein bleibendes Bild, das sich für ihn 1956 in Posen wiederholte: „Für mich war das die Wiederholung des 17. Juni.“
Sauerland siedelte 1956 nach Polen über, erhielt die polnische Staatsbürgerschaft, studierte und wurde schließlich Professor. „Für dieses Land habe ich mich engagiert und gekämpft.“ Immerhin waren nach dem Beginn der Sowjetherrschaft 1944 „über eine halbe Million Polen in den Gefängnissen gelandet. 1953 hatte dieses Land keinen Atem mehr.“ Aber nach dem Aufstand in Posen habe es positive Entwicklungen gegeben. Ab dieser Zeit gab es „keinen verpflichtenden Marxismus“ mehr, und es entstand wieder eine freie Marktwirtschaft.
Sauerland engagierte sich besonders in der freien Gewerkschaft Solidarnosc. Obwohl er nie zuvor einer Gewerkschaft oder Partei angehört habe und eigentlich „von Politik nichts mehr wissen wollte,“ sei diese Organisation ein Teil seines Lebens geworden.
Nachdem Jaruzelski Anfang der 80er Jahre (1981-1983) das Kriegsrecht verhängt hatte, war Sauerland untergetaucht, aber auch überzeugt: „Das System ist am Ende!“ 1988 habe er gesagt: „Wenn Polen selbstständig wird, wird Deutschland wiedervereinigt. Die waren alle entsetzt,“ kann Sauerland heute nicht ohne Schmunzeln berichten.
Man hätte sich vielleicht noch eine Vertiefung über die „Folgen“ des 17. Juni, die heutige mangelhafte Befassung mit dem Volksaufstand und der Frage nach den Ursachen gewünscht. Vielleicht ist aber gerade diese Fragestellung politisch nicht gefragt und daher auch auf derartigen Veranstaltungen obsolet.
Werner Gumpel beklagte am Ende die mangelnde Schulbildung über Geschichte und Auswirkungen des Kommunismus und erhielt von seinem Kollegen aus Warschau und aus den Reihen der Zuhörer ausdrückliche Zustimmung. Holger Kulick ließ dieses Fragezeichen stehen. Schade, andererseits nach Zuhörer wie Diskutanten fordernden drei Stunden Aufmerksamkeit irgendwie auch verständlich.
Der Direktor des Mauermuseums, Prof. Dr. Axel Klausmeier, kündigte in seinem Schlusswort für den kommenden Sonntag, 29. September, 18:00 Uhr, eine Veranstaltung zum 100. Todestag von Ernst Reuter an. Teilnehmer und Ehrengast: Der Sohn Dr. Edzard Reuter, vormaliger Industrie-Chef (u.a. Daimler).
V.i.S.d.P.:Vereinigung (AK) 17. Juni 1953 e.V., Berlin, Tel.: 030-30207785
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