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Von Gregor Gysi, MdB*

Es ist wahrscheinlich schwer zu sagen, wie man die Ereignisse um den 17. Juni 1953 genau charakterisieren müsste. Ich bin auch kein Historiker, der die für Einordnungsversuche geeignete Instrumentarien beherrscht. Allerdings ist die Bezeichnung „faschistischer Putschversuch“, die in der DDR bis zur Wende Bestandteil der offiziellen Ideologie war, eine Diffamierung, die die gewaltsame Niederschlagung der Proteste und die Verfolgung der Protestaktivistinnen und –aktivisten im Nachhinein legitimieren sollte. Die äußerst geringe Glaubwürdigkeit dieser Charakterisierung kann man auch daran erkennen, dass es nie einen überzeugenden Nachweis einer faschistischen Untergrundbewegung gab, die die Proteste vom 17. Juni gesteuert hätte. Bereits im September 1953 hat sich das Politbüro der SED bei der Staatssicherheit darüber beschwert, dass die „Organisatoren der Provokationen“ immer noch nicht ermittelt seien. Ermitteln kann man eben nur, was ist, nicht was man gern hätte.

Die Konfliktsituation

Für Unmutsbekundungen, Proteste, Unruhen und Aufstände gibt  es immer Gründe. Dabei ist es völlig irrelevant, wie ein „unbeteiligter Beobachter“ diese Gründe bewerten würde. Wichtig ist zunächst, dass sie Erklärungsgründe für solche Ereignisse darstellen. Es ist daher hilfreich, sich die Konflikte und Widersprüche in der frühen DDR-Gesellschaft zu vergegenwärtigen.

Gregor Gysi Foto: Bundestag

Gregor Gysi
Foto: Bundestag

Für viele Rückkehrerinnen und Rückkehrer aus der Emigration und für viele Überlebende des NS-Terrors war die Gründung der DDR ein Hoffnungsschimmer. Sie verbanden mit der DDR die Hoffnung, dass das Kontinuum der Geschichte, immer eine Gewalt-, Ausbeutungs-, und Kriegsgeschichte gewesen zu sein, endlich aufgebrochen werden könnte. Diese Vorstellungen kollidierten mit den Realitäten einer traumatisierten Nachkriegsgesellschaft. Die Mehrheit der Gesellschaft bestand aus Menschen, die den Nationalsozialismus passiv geduldet haben – nur ein geringerer Teil waren aktive Nazis oder Widerstandskämpfer gegen die Nazis. Ein wesentliches Moment der psychologischen Verfasstheit einer solchen Gesellschaft ist jedenfalls völlige Desillusionierung.

Hinzu kam, dass die Herrschaft der SED nicht einfach nur als undemokratisch, sondern als eine von der sowjetischen Besatzungsmacht installierte Staatlichkeit wahrgenommen wurde. Berücksichtigt man den Antikommunismus und Antisowjetismus, der unter den Nazis forciert wurde, dürfte sich die DDR nur einer begrenzten Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung erfreut haben, zumal die Bundesrepublik zu demonstrieren schien, dass es auch anders geht. Schließlich litt die Bevölkerung auch unter den Reparationslasten des Krieges.

Unter diesen Bedingungen erscheint die Entscheidung der SED von 1952, die „Grundlagen des Sozialismus“ aufbauen zu wollen, wie eine völlig wirklichkeitsfremde Entgleisung.

Konkret bedeutete diese Entscheidung, dass sich infolge des damals noch direkt an Stalin orientierten  Sozialismuskonzepts der Druck auf mittlere und kleine Unternehmer massiv erhöhte (in der ideologischen Sprache tauchten sogar Begriffe wie „Liquidierung“ der kapitalistischen Klasse auf) und dass die wirtschaftliche Steuerung auf den Ausbau der Groß- und Schwerindustrie ausgerichtet wurde. Unter den Bedingungen hoher Reparationslasten führte das zu einem Absinken des Lebensniveaus bei ständig erhöhten Arbeitsanforderungen. Das wird von keiner Arbeiterklasse in keinem Land der Welt bejubelt.

Bei einer Gesamtschau dieser Umstände hätte es – im Nachhinein gesehen – an ein Wunder gegrenzt, wenn es nicht zu Protesten, Arbeitsniederlegungen, Demonstrationen oder ähnlichen Ereignissen gekommen wäre.

Titel unserer Schrift zum 60. Jahrestag © 2013 c.w.holzapfel

Titel unserer Schrift zum 60. Jahrestag
© 2013 c.w.holzapfel

Der Charakter der Unruhen

Eine wichtige Erkenntnisquelle, um etwas über den Charakter der Unruhen zu erfahren, sind die Forderungen der Streikenden. Eine andere Quelle die soziale und politische Zusammensetzung der nach dem 17. Juni Verurteilten. Unter den Forderungen der Streikaktivisten findet sich alles Mögliche, aber im Gegensatz zu den „Wünschen“ der SED-Führung nichts, was auf Faschismus hindeuten könnte, im Gegenteil, es wurden freie Wahlen verlangt, auch die Wiedergründung der SPD. Dazu hat die Historische Kommission meiner Partei einiges zusammengetragen.

Aus den Streikzentren (Magdeburg, Halle, Chemnitz) ist bekannt, dass die Streikbewegung auch auf Grundorganisationen der SED übergriff. Im Vorjahr aus der SED ausgeschlossene Mitglieder (1952 fand im Kontext der Noel-Field-Kampagne eine „Säuberung“ der Partei statt) schlossen sich ebenfalls den Protesten an.

Bis Anfang Oktober wurden 1.240 Personen zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, darunter 1.090 Arbeiter und 23 Einwohner Westberlins. 138 Personen hatten vor 1945 der einen oder anderen Nazi-Organisation angehört, 59 waren SED-Mitglieder, 76 waren Mitglieder anderer DDR-Parteien gewesen. Bei dieser Zusammensetzung kann man nicht auf eine Naziverschwörung schließen. Aber tatsächlich ist erkennbar, und das wurde für die weitere Entwicklung des Staatssozialismus wichtig, dass das soziale Zentrum der Unruhen die Arbeiterklasse war.

Da nichts auf einen politisch koordinierten Aufstand hindeutet, würde ich von einer spontanen Arbeitererhebung sprechen, deren wichtigstes Kampfmittel der politische Streik war.

Auch die DDR-Führung agierte nicht geschlossen. Der damalige Minister für Staatssicherheit Wilhelm Zaisser plädierte für eine Ablösung Ulbrichts und wurde daraufhin aus der SED ausgeschlossen. Rudolf Herrnstadt, damals Chefredakteur des Neuen Deutschland, wurde aufgrund seiner Oppositionshaltung gegenüber Ulbricht ebenfalls aus der SED ausgeschlossen. Max Fechner, Justizminister der DDR, sprach sich gegen eine Verfolgung der Streikenden aus, und handelte sich dafür Untersuchungshaft ein.

Auswirkungen

Ob der 17. Juni auf das staatssozialistische Ausland Auswirkungen hatte und welcher Art diese gegebenenfalls gewesen sein könnten (Vorbild für weitere Proteste), kann ich nicht beurteilen. Nur von zwei Außenwirkung weiß ich: Erstens, die Sowjetunion entlastete die DDR erheblich von Reparationsforderungen und, als Auswirkung der Entstalinisierung, ermöglichte Korrekturen der Wirtschaftspolitik der SED. Zweitens, die Bundesrepublik beging bis 1990 am 17. Juni einen Tag der deutschen Einheit. Aber es gab Auswirkungen auf die weitere innere Entwicklung:

Der Versuch, kleine und mittlere Betriebe zu verstaatlichen, wurde zunächst aufgegeben. Erst unter Erich Honecker wurde dieses Vorhaben wieder in Angriff genommen, mit desaströsen Folgen.

Die sich anschließende Entwicklung der DDR wurde durch eine geänderte Rangordnung politischer Ziele bestimmt: Vorrang sollte die Versorgung der Bevölkerung mit ökonomischen, sozialen und kulturellen Gütern haben, dem wurden die anderen Ziele wirtschaftlicher Entwicklung untergeordnet. Man könnte von einem Versuch sprechen, die nicht stattfindende Demokratisierung des Sozialismus durch Konsumtion zu kompensieren.

Letztlich trug sich die ökonomische Entwicklung nicht, was ebenfalls zum Ende des Staatssozialismus führte.

Reaktionen im westlichen Ausland: In Westberlin und in der BRD gab es gewaltige Reaktionen, im übrigen westlichen Ausland eher geringe. Dort dacht man, das deutsche Volk habe nach den Verbrechen der Nazi-Diktatur noch kein Recht auf Selbstbestimmung, also müsste die DDR-Bevölkerung akzeptieren, sowjetisch geprägt zu sein.

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* Der Autor ist Vorsitzender der Bundestagsfraktion DIE LINKE und war letzter Vorsitzender der SED.

Anmerkung: Vorstehender Artikel ist ein  Beitrag für unsere Schrift zum 60. Jahrestag des Volksaufstandes. Da unser Antrag auf Förderung aus für uns nicht nachvollziehbaren Gründen abgelehnt worden ist, wird unsere Schrift erst im  Laufe dieses Jahres, also verzögert erscheinen. Wir sind bemüht, die entsprechenden Kosten selbst aufzubringen.

V.i.S.d.P. und © 2013: Der Autor und Vereinigung (AK) 17. Juni 1953 e.V., Berlin, Tel.: 030-30207785

 

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