Berlin, 3.09.2012/cw – Der Überfall auf den Berliner Rabbiner Daniel Alter in Berlin-Frohnau hat in der nationalen und internationalen Presse ein breites Echo gefunden und die Diskussionen um Ausgangspunkte und Inhalte des offenen oder verdeckten  Antisemitismus neu belebt. Wir geben nachfolgend – auszugsweise – Inhalte wieder, um  unseren Beitrag zu dieser bitter notwendigen Debatte zu leisten. Denn auch wir, die Opfer der SED-DDR-Diktatur, sind in unseren Reihen unmittelbar von dieser Debatte betroffen. Wenn einer unserer führenden Vertreter unter dem Deckmantel der von ihm vertretenen sektiererischen Auslegung der Bibel den „Juden als Knecht Satans“ beschreibt und auch andere Religionen verunglimpft, kann uns das nicht gleichgültig sein. Es sei denn, unsere Bekenntnisse, die uns hinter die Zuchthausmauern einer Diktatur geführt haben, sind Schall und Rauch. Mit einem „Na hör’n S‘, des is‘ halt Religion“, ist es nicht getan. Diese Ausrede wäre überdies nicht nur eine Beleidigung der christlichen Kirchen generell, sie würde uns auch in die Reihen  derer stellen, die immer schon weggeschaut haben, wenn  es brenzlig wurde: „Heiliger Antonius, verschon mein Haus, zünd´ andre an.“ Bekenntnisse gegen jede Form von Extremismus – in Wort, Schrift und Tat – sind nur dann  wahrhaftig, wenn  wir sie selbst praktizieren.

Die nachfolgenden Zitate aus der Presse können  durchaus auch als indirekte Antworten auf die oder Kritik an den unentschuldbaren Entgleisungen des angesprochenen führenden Verbandsvertreters verstanden werden.

 Die Berliner Morgenpost titelt:

 „Jude“ ist an Berliner Schulen wieder ein Schimpfwort

und schreibt:

An vielen Schulen in der Hauptstadt gehört Judenfeindlichkeit zum Alltag. …“Du Jude, du Opfer.“ Dass diese Wörter auf deutschen Schulhöfen wieder zu Schimpfwörtern geworden sind, sollte uns beschämen.…

…Das Wort „Jude“ ist zum allgemeinen Schimpfwort geworden, mit dem muslimische Jugendliche ihren Hass gegen die Gesellschaft oder ihren Selbsthass an vermeintlich Schwächeren abreagieren. Oft wird das Wort „Jude“ mit der Vokabel „Opfer“ kombiniert. „Du Jude, du Opfer“ – gesprochen auf deutschen Schulhöfen. Wer empfindet dabei nicht Scham und Wut.  …

Die türkische Lehrerin Betül Durmaz: „…Es gibt Regeln, an die sich jeder halten muss – egal, welcher Nationalität und welchem Glauben er angehört.“ Man wünschte sich unter den Lehrern viele solcher couragierter Pädagogen und Streiter für Recht und Toleranz. …

Die verstorbene Jugendrichterin von Berlin, Kirsten Heisig, hat in ihrem Buch „Das Ende der Geduld“ beschrieben, wie man gegen die Unkultur des Hasses vorgehen kann. An Brennpunktschulen hat sie Elternabende besucht und sich mit arabischen Vätern auseinandergesetzt. Sie hat ihnen erklärt, dass die „Ehre der Familie“ und das „religiöse Gesetz“ gegenüber den Werten unseres Grundgesetzes – Freiheit, Toleranz und Gleichheit der Geschlechter – zweitrangig seien. …“

http://www.morgenpost.de/berlin-aktuell/article108921681/Jude-ist-an-Berliner-Schulen-wieder-ein-Schimpfwort.html

In der Süddeutschen Zeitung kommentiert Matthias Drobinski, dass der Antisemitismus uns alle etwas angeht und führt aus:

„Judenfeindliche Sprüche, Verschwörungstheorien, Prügeleien: Antisemitismus ist in Deutschland gesellschaftliche Realität. Er ist da, obwohl die Gesellschaft so aufgeklärt ist wie nie, trotz aller Politikerreden und Bildungsprogramme. Aber es fehlt das Bewusstsein der nicht-antisemitischen Mehrheit. Es geht auch uns was an, wenn über „die Juden“ geredet wird …. Du Jude. Es gibt nicht nur Hinter-, sondern auch Schulhöfe, wo das als sozialadäquates Schimpfwort gilt. …“

Drobinski titelt einen „Abgrund an Fremden- und Judenfeindschaft“:

„Man kann das als Zuwandererproblem sehen und den neuen Antisemitismus besorgt, dann aber doch wieder beruhigt, den Fremden zuschreiben, die da mit ihrer Mischung aus kollektiver Erzählung, Indoktrination und mangelnder Bildung ausgerechnet nach Deutschland gekommen sind, ins Land des Judenmordes. Das ist nicht falsch, genügt aber nicht. …

Es erschrecken nicht so sehr die zittrigen Leserbriefe derer, die nun erklären, dass die Juden selber schuld an Auschwitz sind, weil man sie, beschnitten wie sie sind, so leicht selektieren konnte. Es erschrecken eher die wohlformulierten Briefe, vertraut mit Kommaregeln und Gerundium, die erklären, dass „die“ Juden glaubten, es gebe immer Sonderrechte für sie, ob es um ihre Söhne oder um die Westbank geht – dass man das aber nicht sagen dürfe.

Es ist ein als aufgeklärte Kritik getarnter Essentialismus, das Stereotyp in der Verkleidung des gesunden Rechtsempfindens. …

Der jüdische Soziologe Alphons Silbermann hat in den achtziger Jahren die These vertreten, es gebe in der deutschen Nachkriegsgesellschaft eine Judenfeindschaft von stabil 25 Prozent. Über die Prozentzahl mag man streiten – doch dass der Antisemitismus auch in der deutschen wie europäischen Nachkriegsgeschichte ein Kontinuum ist, lässt sich nicht bestreiten. …

Was jedoch fehlt, ist das Bewusstsein der nicht-antisemitischen Mehrheit: Es geht auch uns was an, wenn über „die Juden“ geredet wird. Es geht darum, wie tragfähig der Boden des Zivilen bleibt, des menschenwürdigen Umgangs untereinander. Denn der kann schnell sehr dünn werden.“

http://www.sueddeutsche.de/politik/nach-angriff-auf-rabbiner-antisemitismus-geht-uns-alle-an-1.145632

DER TAGESSPIEGEL in Berlin wendet sich gegen billige Ausreden und fordert ein Bekenntnis zu den Problemen:

„…Der Hinweis auf die Abstammung der Täter ist keine moralische Entlastung: Der Aufgabe, gegen diesen arabischstämmigen Antisemitismus Stellung zu beziehen, so neu dies sein mag für dieses Land, kann es sich nicht entziehen. Dieser Antisemitismus ist, auch wenn sich das noch nicht bis zur Antifa herumgesprochen hat, inzwischen so deutsch wie der altbekannte.“

http://www.tagesspiegel.de/meinung/antisemitismus-vermutlich-arabischstaemmig/7083756.html

DIE PRESSE in  unserem Nachbarland Österreich beschreibt eindrucksvoll und geradezu erschreckend die Alltäglichkeit des Antisemitismus. Das ist Österreich? Und hier in Deutschland? Reicht es aus, auf angeblich „arabische Jugendliche“ zu schimpfen und angestrengt wegzusehen, wenn ein in der Öffentlichkeit stehender Funktionär unwidersprochen seine Parolen über die „Knechte Satans“ verbreiten darf? DIE PRESSE titelt richtig:

Mit Judenbeschimpfungen fängt es an

„Wiener Polizisten schauten zu, als sich ein Fußballfan vor einem Rabbiner mit Hitlergruß aufpflanzte und „Juden raus!“ rief. Wenn schon Ordnungshüter offenen Antisemitismus dulden, wird es gefährlich.

Auf dem Wiener Schwedenplatz spielte sich am vergangenen Donnerstag folgende Szene ab: Ein paar Stunden vor dem Fußballmatch zwischen Rapid und Paok Saloniki ging ein Fan auf einen Rabbiner zu und sagte: „Hau ab, du Scheißjude! Juden raus! Heil Hitler.“ Der Geistliche beschwerte sich daraufhin bei einem Polizisten, der in der Nähe stand. Der Beamte sah jedoch überhaupt keinen Anlass einzuschreiten. „Na hör’n S‘, heut‘ is‘ Fußball“, sagte er. Und der Fußballfan stand dabei immer noch mit Hitlergruß vor dem Rabbiner. Der versuchte danach, andere Uniformierte zum Eingreifen zu bewegen, jedoch ohne Erfolg. …

Es gibt viele Möglichkeiten, mit Antisemitismus umzugehen. In Österreich halten es immer noch einige in ihrer Na-und-Mentalität für angemessen wegzuschauen oder auch noch blöd dazu zu grinsen. Bei Ordnungshütern ist es nicht eine Frage der Zivilcourage, ob sie Judenhassern in den Arm oder ins Wort fallen. Sie sind dazu verpflichtet. Nur zur Erinnerung: Hier ist es strafbar, sich im nationalsozialistischen Sinne wiederzubetätigen und gegen Juden zu hetzen.

Aber es wäre ja nicht das erste Mal, dass ausgerechnet in jenem Land, das bei der Vernichtung der Juden einen überdurchschnittlich hohen Anteil williger Nazi-Vollstrecker gestellt hat, Antisemitismus ignoriert, bagatellisiert oder verdodelt wird. Vor ein paar Tagen erst stellte der Chef der drittgrößten Partei eine Karikatur im „Stürmer“-Stil auf seine Facebook-Seite. Auf der Zeichnung war ein fetter Bankier mit Hakennase zu sehen, an dessen Manschettenknöpfen Davidsterne prangten. Auch für Ungebildete war das Machwerk unschwer als antisemitisch zu erkennen. Und doch stritt H. C. Strache in besonders dümmlicher Weise alle Vorwürfe ab, anstatt sich zu entschuldigen oder gar Konsequenzen zu ziehen. Der Skandal blieb, wie davor schon viele andere, ohne Folgen. Zwischen Wien und Bregenz glaubt man, das alles nicht so ernst nehmen zu müssen. …

Der Antisemitismus flammt gerade neu in Europa auf. Als Brandbeschleuniger fungieren dabei, vor allem in Ländern wie Frankreich oder auch Deutschland, arabische Jugendliche, die den aggressiven antisemitischen Diskurs des Nahen Ostens ungefiltert in ihre (neue) Heimat tragen. Doch auch die Mehrheitsbevölkerung kultiviert unter dem Deckmantel eines zunehmenden Hasses auf Israels antijüdische Regungen. …  Und was passieren kann, wenn man jahrelang bei Judenbeschimpfungen weghört, zeigt sich in Ungarn. Dort nimmt der offene Antisemitismus, ganz ohne Araber, seit dem Parlamentseinzug der rechtsextremen Jobbik-Partei erschreckend zu. …

Der antisemitische Krebs wuchert schnell, wenn man ihn nicht schon im Anfangsstadium aus dem gesellschaftlichen Gewebe schneidet.“

christian.ultsch@diepresse.com

Die Frankfurter Rundschau setzt sich ebenfalls mit der Notwendigkeit auseinander, den (erneuten) Anfängen zu wehren und bekennt: „… Dann ist der Staat gefragt. Dann muss er dazwischen. Druckvoll, energisch, unparteiisch. …“.

W I R  sind der Staat.

„Der Vorsitzende des Koordinierungsrates der Muslime Ali Kizilkaya erklärt, der Antisemitismus sei nicht mit dem Islam vereinbar. Das ehrt ihn und es beruhigt uns. Denn wir wissen, was mit einem Heiligen Text vereinbar ist und was nicht, das bestimmt nicht der Heilige Text. Das bestimmen seine Leser. Wir müssen auf sie schauen, wenn wir wissen wollen, was sie denken und nicht auf die Texte, auf die sie sich berufen.

(Unterstreichung von Admin)

Aber es ist gut, wenn in jeder der einzelnen Gemeinschaften, die zusammen – wenn alles gut geht – eine Gesellschaft bilden, rassistischen Vorurteilen widersprochen, ja wenn sie bekämpft werden. Vor allem, wenn es die sind, die in der eigenen Gruppe Befürworter finden. …

Alle diese Gruppen verurteilen seit inzwischen vielen Jahren Übergriffe nicht nur auf Mitglieder der eigenen sondern immer wieder auch Angriffe auf Mitglieder und Institutionen der anderen Gemeinschaften. Das heißt natürlich nicht, dass es nicht innerhalb jeder dieser Gruppierungen auch Einzelne oder auch Organisationen gäbe, die genau das nicht tun, ja die sich weigern, das Recht des anderen auf seine religiöse Freiheit zu verteidigen oder sie ihm sogar zu verwehren suchen.

Dem sollen christliche, jüdische und muslimische Gemeinschaften energisch entgegentreten.

Wie viel Geduld hat die jüdische Gemeinde im Nachkriegsdeutschland mit den Deutschen aufgebracht! Wie unverschämt und nassforsch sind deutsche Behörden mit jüdischen Ansprüchen umgegangen und tun es noch heute! Nicht viel anders verhält sich immer wieder auch die deutsche Öffentlichkeit! Hält man sich das vor Augen, bekommt man eine Ahnung davon, wie viel Ausdauer und Kraft nötig sein wird, um wenigstens immer mal wieder gut zusammenzuarbeiten an dieser heute so viel vielfältiger gewordenen gemeinsamen deutschen Gesellschaft. …

Die Vorstellung, der Staat und seine Organe seien zuständig für die Durchsetzung einer bestimmten Gesinnung und sei es die des demokratischen Grundkonsens, tut so, als gebe es sie und es käme nur noch darauf an, sie den Bürgern zu vermitteln. In Wahrheit aber bilden die Bürger in ihren Auseinandersetzungen diesen immer wieder sich ändernden Grundkonsens erst heraus. Alle Bürger. Die seit Generationen hier lebenden und die mehr oder weniger neu Dazugekommenen. Jeder neue stellt den überkommenen Konsens in Frage. …

Wenn aber Einzelne oder wenn Gruppen andere tätlich angreifen, dann ist der Staat gefragt. Dann muss er dazwischen. Druckvoll, energisch, unparteiisch. …“

http://www.fr-online.de/meinung/leitartikel-druckvoll–energisch–unparteiisch,1472602,17031180.html

V.i.S.d.P. (Zusammenstellung): Vereinigung (AK) 17. Juni 1953 e.V., Berlin, Tel.: 030-30207785