Interview mit Wolfram Drechsel
Berlin, 03.04.2012/cw – Am Rande des UOKG-Treffens in Berlin-Hohenschönhausen sprachen wir am Wochenende mit dem Vorsitzenden der Bellevue-Gruppe e.V., Wolfram Drechsel. Die Bellevue-Gruppe wurde nach der sogen. Friedlichen Revolution gegründet und demonstrierte über mehrere Jahre vor dem Sitz des Bundespräsidenten für die Rechte der einstigen politisch Verfolgten in der DDR, was dem späteren Verein auch den Namen gab.
17. Juni: Herr Drechsel, Sie sind Vorsitzender eines Vereins, der seine Zukunft wohl hinter sich hat.
Drechsel: Wo zwei oder drei in wahrhaftigem Bemühen um das gleiche Ziel ringen, bleibt auch das deutsche Vereinsrecht mitten unter ihnen. Es gibt das Recht, Vereine zu gründen aber nicht die Pflicht, Vereine aufzulösen.
17. Juni: Aber der Name stammt doch aus einer Zeit, als die Gruppe regelmäßig vor dem Schloss Bellevue demonstrierte. Haben sich die einstigen Anliegen erledigt? Wenn ja, warum braucht man noch den Verein?
Drechsel: Wir haben durch öffentliches Auftreten in den Jahren 1998 bis 2001 wesentlich dazu beigetragen, für die Betroffenen des SED-Unrechts Teilerfolge zu erzielen. Unser Vereinsziel hat sich aber noch immer nicht erledigt. Noch immer muss ich mich in diesem Land sorgen um eine große Zahl politisch Verfolgter, deren sozialer und wirtschaftlicher Stand beschämend ist.
17. Juni: Um die Jahrtausendwende führten Sie im Verein ein neues Aufnahme-Formular ein. Durch eine eidesstattliche Versicherung sollte für den Verein ausgeschlossen werden, ehemalige Mitarbeiter der Stasi aufzunehmen. Gab es Anhaltspunkte für einen solchen Schritt oder war das mehr eine Vorsichtsmaßnahme?
Drechsel: Schon vor der Gründung unseres eingetragenen Vereins gab es unterschwellige Konflikte in der Gruppe, latentes Misstrauen und Verdächtigungen, die man als Projektionen von Betroffenen hätte ansehen können. Diese Konflikte auszuhalten, kostete viel Kraft. Im Jahr 2000 verschärfte sich die Situation, was u.a. zur Vereinsgründung führte. Einige Wochen nach der Gründung „rüsteten“ wir die Satzung auf, sozusagen als vertrauensbildende Maßnahme. In §4, Abs. 2 hieß es nun: „Über die Aufnahme von Mitgliedern entscheidet auf schriftlichen Antrag der Aufzunehmenden der Vorstand mit Mehrheitsbeschluss.“ Bald gaben auch fast alle Gründungsmitglieder – nachträglich und freiwillig – diesen Antrag ab.
17. Juni: Damals wurde nach unser Kenntnis das heutige Vorstandsmitglied der Vereinigung der Opfer des Stalinismus (VOS), Frieder Weiße, aus Ihrem Verein ausgeschlossen. Gab es „Stasi-Erkenntnisse“ oder sonstige übliche Auseinandersetzungen?

Erklärung an Eides statt (Mitte): "Das kann ich nicht unterschreiben." - Dokument: Bellevue-Gruppe e.V.
Kopie seiner Häftlingshilfebescheinigung
Drechsel: Nein, Frieder Weiße wurde nicht damals ausgeschlossen, er war ja am Gründungstag fast zur Mitgliedschaft überredet worden. Er unterstützte die Vereinsgründung mit seiner umfangreichen Sachkenntnis, feilte dann auch mit an besagtem Antrag. Dass er diesen Antrag selbst gar nicht ausfüllte, registrierte ich erst viel später. Die Vereinsakte befand sich in seinem Büro in der Greifswalder Straße, denn er führte ja die Geschäfte. Ich wies ihn einmal auf den Antrag hin, den er doch der guten Ordnung halber noch beifügen möge. Darauf erwiderte er sinngemäß: Ich kann das nicht unterschreiben. Ich spürte, wie er gleichzeitig darunter litt, gab mich aber zufrieden mit der Kopie seiner Häftlingshilfe-Bescheinigung vom 29.5.1975. Man mag mir das nachträglich als Blauäugigkeit vorwerfen aber ich möchte mich nicht dafür rechtfertigen, dass ich einem Haftopfer Vertrauen vorgeschossen habe. Frieder Weiße lernte ich nach der Beerdigung von Jürgen Fuchs im Mai 1999 als intelligenten, weltoffenen und humorvollen Menschen kennen. Dazu gehörte er für mich mit seinen mehr als sechs Jahren Haft quasi zu den Überopfern. Und wenn man grundsätzlich Menschen eine Ehrfurcht vor ihrem Leben gewähren soll, dann wohl doch zuerst ihnen.
Fragen zu Frieder W. kamen erst später in mir auf, als er trotz Zeitnot mit ungeheurem Aufwand auf unsachliche Angriffe gegen den Verein oder rein polemische Vorwürfe gegen seine Person reagierte, dann aber die Vorgänge abbrach. Dann wirkte er auf mich wie ein Getriebener, dem mein Mitgefühl galt. Wegen meiner Unterstützung für ihn wurde ich danach selbst öffentlich angegriffen – von Opfern …
17. Juni: Erst jüngst wurden Vorwürfe bekannt, Frieder Weiße habe in der Haft Personen an die Stasi verraten. Das soll schon in einem Buch * 1994 veröffentlicht worden sein. Hatten Sie davon keine Kenntnis?
Drechsel: Von der Existenz eines solchen Buches hatte ich bis vor wenigen Wochen keine Kenntnis.
17. Juni: Frieder Weiße war ja agiles Mitglied der Bellevue-Gruppe. War das für Sie als Vorsitzender nicht problematisch, den Ausschluss eines, sagen wir mal prominenten Mitgliedes, durchzusetzen?
Schwerer wog die menschliche Enttäuschung
Drechsel: Sein Ausschluss hinterließ Spuren. Ich wurde geschnitten und fühlte mich ein weiteres Mal verfemt. Schwerer noch wog die menschliche Enttäuschung nach den Jahren größter Loyalität zu ihm.
Aber ich hatte mich als Vorstand des Vereins zur Verfügung gestellt und damit natürlich auch die Aufgabe übernommen, den Verein vor einer ungewollten Zerstörung zu schützen.
Ich betone hier ausdrücklich: Dr. Weiße wurde von mir nicht deshalb aus unserem Verein ausgeschlossen, weil er keine Rehabilitierungs-Bescheinigung vorgelegt oder die eidesstattliche Erklärung nicht unterschrieben hatte.
Ich werde auch nachträglich keine Vermutungen darüber anstellen, was er in seiner langen Haftzeit erlitten, getan oder gelassen hat. Die Ausschlussgründe ergaben sich aus seinem konkreten Handeln im Jahr 2003, das den Verein intern infrage stellte und öffentlich zu beschädigen drohte. Und so weit ging mein Altruismus dann doch nicht, um mich womöglich am Ende selbst ohne Gegenwehr der Lächerlichkeit preis zu geben.
17. Juni: Kürzlich wurde der VOS-Funktionär auf einer Veranstaltung dieses Vereins in Berlin mit Passagen aus dem zitierten Buch konfrontiert. Seine Reaktion: „Hier im Raum gibt es wohl kaum einen, der nicht vor der Stasi geplaudert hätte.“ Wie beurteilen Sie eine solche Reaktion?
Drechsel: Wäre ich im Raum gewesen, ich hätte ihm widersprechen müssen. Verallgemeinerungen helfen nicht, auch nicht Schutzbehauptungen. Nur Transparenz kann heilen.
17. Juni: Wolfram Drechsel, wir bedanken uns für dieses Gespräch.
* Dietmar Linke: Theologiestudenten der Humboldt-Universität – Zwischen Hörsaal und Anklagebank; Neukirchener Verlag, © 1994 – ISBN 3-7887-1481-6
Das Gespräch führten Tatjana Sterneberg und Carl-Wolfgang Holzapfel.
5 Kommentare
16. März 2014 um 12:52
Dr. Wolfgang Mayer
KORREKTUR
Im letzten Absatz meines Postings muß es richtig heißen:
Aufgrund der Tatsache, daß WEIßE eine Wahlfunktion innehatte, darüber hinaus bei Gründung des Vereins mit ihm exakt sieben Mitglieder eingeschrieben waren, war und ist der e.V. als illegal und somit auch innerhalb der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG) als nicht existent einzustufen.
11. April 2012 um 09:33
Rolf Wiese
VOS Zukunft ?
Zu dem, was Kamerad J.Petzold und Kamerad Holzapfel andeuten :
„Wie es weitergeht?“ Wenn es keine Angebote und vorherigen Vorstellungen von „wählbaren“ Kanditaten für die VOS Führung mehr gibt — kann sich kaum etwas ändern. Aber die Satzung der VOS sollte es eben hergeben, dass man jemanden dafür bezahlt das „Richtige“ zu tun. Nähmlich Streit schlichten und vernünftig arbeiten. Da kam mir z.B. aus … zugeflogen : “ Frau Lengfeld wäre bereit für die VOS zu arbeiten“. Prima, also bitte mal vorstellen, was sie tun würde — wenn…….
Herzliche Grüße Rolf Wiese Leibzsch
4. April 2012 um 09:20
Stefan Köhler
Rehabilitierungsgerichte haben durchaus gründlich geprüft, ob jemand schuldhaft und Dritte schädigend mit der Stasi verwickelt war oder nicht. War es der Fall wurde er nicht rehabilitiert und damit auch nicht entschädigt.
Für den Fall der Altfälle nach HHG musste eigentlich niemand lügen, denn es war vorgesehen den konkreten Fall nach Offenlegung aller Umstände zu bewerten und entsprechend zu entscheiden. Nichts anderes galt damals in der VOS.
Es gibt außerdem auch Fälle bis noch in die 90er Jahre, die nach HHG ihre Neuanträge gestellt haben. Warum, das ist mir allerdings meist nicht bekannt. Vielleicht ging die Bearbeitung schneller voran als in den Reha-Senaten oder es handelt sich um die Zeit vor Rechtskraft der Reha-Gesetzgebung.
Wir haben aber gerade in jener Zeit besonders sehr alten Kameraden dazu verholfen, dass deren Reha-Anträge von den Senaten sehr schnell bearbeitet worden sind. Ich kenne dabei in den ersten Jahren seit Rechtskraft der Reha-Gesetze keine negativen Ausgänge.
3. April 2012 um 18:38
J.Petzold
Die 10/4 HHG gab es ja eigentlich nur für Verfolgte, die in die alten Bundesländer kamen. Dort hätte man schwindeln können und sich als Verfolgter outen können. Für mich war es wichtig nach der Einheit auch noch meine Reha zu bekommen. Ich bin also auch noch nachträglich nach den StUG rehabilitiert worden. Weder HHG noch Reha sagen aber aus, wie ich mich bei der Stasi bzw. dann im Strafvollzug verhalten habe. Wer bei der Stasi vernommen wurde, weiß genau, daß es kein Schweigerecht gab. Wie sich F. Weiße im STRAFVOLLZUG Bautzen 2 verhalten hat, kann ich nicht sagen, aber ich denke, er hat sich wie alle anderen auch, so verhalten, das er ohne große Blessuren dort wieder raus kam. Das kann man ihm nicht vorwerfen.
Ich kann nicht sagen wie es bei VOS weiter geht und warten wir mal die kommende Wahl ab.
J.Petzold
3. April 2012 um 18:41
Carl-Wolfgang Holzapfel
Lieber Kamerad Petzold,
danke für die Replik. Hier geht es nicht um „Aussageverweigerungsrecht“, das, wie Du völlig richtig schreibst, nicht existierte. Jeder Häftling war aber in der Lage, seine Aussagen zu sortieren, also nur einzuräumen, was die Stasi bereits wusste etc. Wir kennen ja die Materie…
Dieser Komplex wird auch in dem Bericht über die in einem Buch über die Theologie-Studenten abgehandelt.
Bei dem letzten Bericht geht es allein um die Verweigerung einer Unterschrift unter eine Eidesstattliche Versicherung, n i c h t mit der Stasi zusammengearbeitet zu haben oder für diese tätig gewesen zu sein. Allein in diesem Zusammenhang könnten die Ausführungen in dem Buch
allerdings zusätzlich gewertet werden.
Wie es mit der VOS weiter gehen wird? Wir alle als Mitglieder hoffen auf ein Signal aus Friedrichroda in Richtung eines Aufbruchs, der es ermöglicht, vorurteilsfrei und sachlich alle angelaufenen Ungereimtheiten zu prüfen, aufzuklären und dann wieder durchzustarten. Die VOS hat als alter und verdienter Verband eine Zukunft verdient. Das wird und kann allerdings nur gelingen, wenn wir hinschauen, Fehler erkennen und deren Ergebnisse korrigieren.