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Berlin, 1.April 2012/cw – Noch sind sie nicht im Deutschen Bundestag vertreten, schon ziehen sie bereits seriöse Politiker auf ihre zumindest gedankliche Seite: Kein Geringerer, als der agile und stets für Überraschungen gute Bundestagspräsident, Prof. Norbert Lammert (CDU), legt sich mit den Fraktionen an. Streitpunkt: Die interfraktionell vereinbarten Redezeiten für die gewählten Abgeordneten. Lammert möchte über diese Vereinbarung hinweg als Präsident selbst entscheiden, ob einem Abgeordneten unabhängig von der jeweiligen gemeldeten Fraktionsliste ein Rederecht eingeräumt werden kann. Der Bundestagspräsident weiß dabei das Grundgesetz auf seiner Seite, in dem feinst und demokratisch ziseliert steht: Ein Parlamentarier „sei an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur seinem Gewissen unterworfen“.
Doch Papier ist geduldig. Die Politkratur hat zwischenzeitlich ihre eigene Gesetzlichkeiten geschaffen und die Abgeordneten haben längst verinnerlicht, dass im Grundgesetz manches verankert ist, was der Wirklichkeit nicht entspricht. Auch die Öffentlichkeit hat offensichtlich Begriffe wie Fraktionszwang akzeptiert, ohne über dessen demokratische Defizite nachzudenken. Die Politik wird es schon richten, sprich richtig machen.
Das klappte auch alles hervorragend, überlebte sogar die 68er Revolte. den Einzug einst strickender und Baby-stillender „Umstürzler“ und die Demokratie-Defizit-Kritiker der LINKEn. Dann kamen die PIRATEN und nichts scheint mehr so selbstverständlich, wie bisher. Nun entdeckt einer der ranghöchsten Politiker der Republik, der protokollarisch noch vor der Bundeskanzlerin rangiert, Defizite im Parlament und will seine Rechte als Präsident zugunsten der Abgeordneten ausüben. Die aber wollen diesen Kampf um ihre Rechte gar nicht, lassen zumindest ihre Fraktionen, gewohnt parteiübergreifend, in den Clinch mit ihrem Parlamentspräsidenten ziehen, um diesen über die Änderung der Geschäftsordnung an die Kandare zu nehmen.
Volker Kauder, sogar Parteifreund von Lammert, tobt stellvertretend: „Wenn alle reden, die eine von der Fraktion abweichende Meinung haben, bricht das System zusammen“. Fragt sich, welches. Das System der Demokratie oder das System der unfreiwilligen Fesselung frei gewählter Abgeordneter?
Norbert Lammert, offenbar trotz seines hohen Amtes noch mit einer gewissen Bodenhaftung ausgestattet, scheint die Signale am politischen Horizont richtig zu deuten und will offenbar zeigen, bevor die PIRATEN auch den Deutschen Bundestag entern, das das parlamentarische System sich auch ohne den Einzug von politischen Freibeutern verändern kann. Die gewohnt behäbigen Parteien brauchen für diese in der Tat notwendige Einsicht wohl etwas länger; auch ein parteiübergreifender Aufstand der Abgeordneten („Rettet das Grundgesetz!“) ist kaum zu erwarten. Man will ja wieder von seiner Partei nominiert oder zumindest auf die (Wahl-)Liste platziert werden. Die PIRATEN hingegen werden die Steilvorlage des rührigen Parlamentspräsidenten nutzen und auch dieses Thema vermutlich im bevorstehenden Wahlkampf thematisieren. Üben an der parlamentarischen Front können sie ja schon: In Berlin, demnächst im Saarland und bald schon in Schleswig Holstein und NRW.
Kann ja sein, dass sie eines Tages Norbert Lammert ein Denkmal als Oberpiraten setzen werden.
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